Gertrud, die Weihnachtsgans - eine (böse) Weihnachtsgeschichte

Ein Gänseleben wie im Paradies. Was sind die Bauersleute doch für nette und gute Menschen. Gertrud und ihre drei Freundinnen sind auf ihrer fetten Wiese glücklich und zufrieden.
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  • Ein Gänseleben wie im Paradies. Was sind die Bauersleute doch für nette und gute Menschen. Gertrud und ihre drei Freundinnen sind auf ihrer fetten Wiese glücklich und zufrieden.
  • hochgeladen von Kurt Wolter

Ach, was ist das für ein herrliches Leben! Gertrud und ihre Gänseschar waren mit sich und der Welt zufrieden. Der Bauer und die Bäuerin waren gute Menschen. Sie ließen sie und ihre Freundinnen, Gundula, Gertraude und Gerda, auf den fettesten Wiesen am Gras zupfen. Am wohlschmeckenden Löwenzahn, am würzigen Klee und den zarten Gänseblümchen. Nebenan befand sich ein großer Teich, auf dem sie nach Herzenslust paddeln und planschen konnten. Erst gegen Abend, wenn die Dämmerung einsetzte, trieb sie der alte August, der Vater des Bauern, in den Stall. Früher einmal durften sie auch nachts draußen bleiben. Aber, und das war ein Wermutstropfen, waren sie doch damals eine Gans mehr gewesen, hatte den Ganter Gustav der Fuchs geholt. Das war ein Schock für sie alle gewesen, und das Geschnatter war riesengroß. Seitdem aber passte der alte August vorsichtshalber am Tage auf sie auf, bevor er sie abends in den Stall trieb. Er saß dann auf seiner Bank im Windschatten der Holzdieme, zu der die gehackten Brennholzscheite für den Winter aufgeschichtet waren und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne. Ab und zu stopfte er sich seine geschwungene Pfeife, zündete sie an, so dass der Tabak rot aufglühte und blies graue Rauchschwaden in den weiten Himmel hinauf. Manchmal stand er auf, nahm seine kleine Rute und trieb sie, die Gänseschar, nachdem das Gras kurzgefressen war, auf ein benachbartes Wiesenstück. 

Wenn die Kinder vorbeiliefen, rief ihnen der alte August zu: „Na ihr Strolche, was führt ihr heute wieder für Dummheiten im Schilde?“ Dann nahm er sein langes Hörrohr und hielt es in deren Richtung. Aber ehe er eine Antwort vernehmen konnte, waren die Kinder schon vorbeigerannt, für die der alte August nicht nur alt oder ruralt war, sondern sogar steinalt. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Außerdem hatten die Kinder auch Respekt vor ihnen, den Gänsen, hielten immer Abstand. Gertrud und ihre Freundinnen achteten darauf, dass sie ihnen nicht zu nahe kamen, reckten die Hälse in deren Richtung und fauchten sie an, wenn es dann doch geschah. Jedenfalls waren Gertrud, Gundula, Gertraude und Gerda froh, dass der alte August auf sie aufpasste, denn deswegen wagte sich der Fuchs nicht mehr heran. So führten Gertrud und ihre Freundinnen jetzt also ein ausgesprochen sorgenfreies und schönes Leben. Kein Besseres hätten sie sich wünschen können.

Als der Sommer zu Ende ging und es langsam Herbst wurde, fiel aber doch ein Schatten auf Gertrud und ihre Gänseschar. Nicht des Essens wegen, wurden die Wiesen doch immer karger. Nun wurde mit Schrot zugefüttert, und sie legten ordentlich an Gewicht zu. Wenn sie sich im spiegelnden Wasser des Teiches betrachteten, war es deutlich zu erkennen. Nein, es war etwas anderes, was sie beunruhigte. Wenn sie der alte August wegen der zu dieser Jahreszeit eher einsetzenden Dunkelheit nun frühzeitig zum Stall trieb, fiel ihnen auf, dass im benachbarten Hühnergehege immer mal wieder das eine oder andere Huhn fehlte.
Schließlich sprach Gertrud durch den Maschendrahtzaun den Hahn an: „Herr Gockel, so sagen Sie doch, wo Ihre Hühner bleiben? Wir zählen davon immer weniger.“
Der Hahn sah sie traurig an: „Wir wissen es auch nicht. Ab und zu kommt die Bauersfrau und nimmt eines von meinen Hühnern mit. Doch was mit ihnen geschieht, das erfahren wir nicht. Aber hinter dem Schuppen steht ein Holzklotz, und ein Beil liegt daneben, und darunter liegen Federn auf dem Boden. Das hat uns sehr nachdenklich gemacht. Noch mehr allerdings, als die Bauersfrau neulich ihrem Mann zurief, dass er reinkommen solle, da die Hühnersuppe schon auf dem Herd brodele und gleich gegessen werde.“
Gertrud sah den Hahn erschrocken an. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was da Grauenhaftes geschehen sein könnte. Aber Gott sei Dank waren sie ja Gänse und keine Hühner. Sie betraf das also nicht. So wandte sie sich wieder ihrem Futter zu, das ihnen, wo es langsam auf Weihnachten zuging, jetzt noch reichlicher gegeben wurde.

Irgendwann wurde das Wetter schlechter, auf den Wiesen wuchs nichts mehr und sie hielten sich nur noch im Stall auf. Aber das machte ihnen nichts aus. Denn als die Adventszeit begann, konnten sie durch die matten, von Spinnenweben verhangenen Fensterscheiben auf einen kleinen Tannenbaum blicken, der nun mit vielen Lichtern geschmückt war und der in ihren Stall gemütlich hereinleuchtete. Das war auch für sie stimmungsvoll.
Ab und zu bekam der Bauer Besuch und führte diesen zu ihnen in den warmen Stall. Sie wurden betrachtet und begutachtet. Sie warfen sich in die Brust und reckten ihre langen Hälse, um auf sich aufmerksam zu machen und die beste Figur abzugeben. Das schien dem Besuch zu gefallen, denn er zeigte auf die eine oder andere von ihnen. Das machte sie auf irgendeine Art stolz.

Aber Tage darauf kam die erste Ernüchterung. Von einem Tag auf den anderen brach ihre heile Welt in sich zusammen. Die Bauersfrau kam in den Stall. Nicht etwa, um ihnen neues Futter zu bringen. Sondern sie schnappte sich Gundula, stopfte sie in einen Käfig und verschwand damit. Sie sahen noch durch die milchigen Fensterscheiben, wie sie diesen auf ihren Wagen lud, wo schon die anderen Sachen bereit lagen, mit denen sie regelmäßig zum Wochenmarkt fuhr. Sie warf den Motor an und war mit Gudula verschwunden. Was hatte die Bauersfrau mit ihr vor? Sie ahnten etwas, was ihre schöne Weihnachtsstimmung zerstörte, denn was auf dem Markt landete, kam nie wieder zum Vorschein. Und Gertrud schnatterte mit zitternder Stimme: „Kinder, Kinder, ich glaube, das wird kein gutes Ende nehmen.“

Wie recht sollte sie behalten. Am Tag darauf kam erneut ein Besucher. Der zeigte auf Gertraude. Die Bäuerin packte deren Hals, so dass sie sich nicht einmal wehren konnte, und das Flügelschlagen half auch nichts mehr. Schon war Gertraude verschwunden. Gertrud und Gerda sahen noch durch die offene Stalltür, wie die Bäuerin hinter dem Schuppen verschwand, wo der Hackklotz stand, dann flogen Federn durch die Luft. Gertrud und Gerda schnappten vor Aufregung nach Luft. Das, so dachten sie, ohne es auszusprechen, war nun für Gertraude nicht mehr möglich.

Einen Tag vor dem 4. Advent stand die Bäuerin wieder im Stall, natürlich nicht, um zu füttern. Dieses Mal packte sie Gerda. Ein kurzes Schnattern hinterm Schuppen, das Beil sauste durch die Luft, das Blut tropfte vom Hackklotz und die Federn flogen durch die Luft. Damit war Gertrud nun allein. Und später wurde ihr übel, als durch das leicht geöffnete Fenster des Bauernhauses Bratengeruch entwich und zu ihr herüber in den Stall zog. Während der Hofhund Hasso nicht genug schnüffeln konnte und es ihm von den Lefzen tropfte, gab es Gertrud den Rest. In wenigen Tagen war Weihnachten, spätestens dann würde auch sie dieses schreckliche Gänseschicksal ereilen. Da war sie sich  sicher - totsicher.

Oder gab es vielleicht doch noch einen Ausweg? Als Gertrud durch die offene Stalltür sah, wie der alte August die Pferde in den Leiterwagen einspannte, um in den Wald zu fahren und um Feuerholz zu holen, kam ihr plötzlich eine Idee. Sie hüpfte mit mächtigem Flügelschlag über das Gatter. Vorsichtig lugte sie aus der Stalltür. Die Luft war rein, und der alte August konnte sowieso nur schlecht sehen, und hören ja schon gar nicht. Gertrud watschelte durch den Schnee und sprang auf den Leiterwagen, ohne dass es jemand bemerken konnte. Die Peitsche knallte, und schon setzte sich der Wagen mit den großen Speichenrädern in Bewegung. Durch eine tief verschneite Feldlandschaft ging es dem Wald entgegen. Und als dieser erreicht war, hüpfte Gertrud in den Schnee hinunter, während das Gefährt aus ihren Augen verschwand. So stand sie nun am Waldrand, schaute in die Ferne auf den Bauernhof, dem sie entronnen war, schlug heftig mit den Flügeln und jubilierte: "Juhu, ich bin gerettet! Wie schön kann doch die Welt sein." Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Nun würde es auch für sie, trotz allem was geschehen war, ein schönes Weihnachtsfest werden.

Doch Gertrud hatte sich getäuscht. Von hinten, aus dem Dickicht des Waldes, ohne dass sie es bemerkte, nahte das Unheil. Etwas Rotbraunes schlich heran, der schlaue Fuchs. Er packte sie mit seinen spitzen Zähnen am Hals, und schnapp, ehe sie sich versah, war es um Gertrud geschehen. Der Schnee färbte sich rot und die Federn flogen. Ihr recht kurzes Leben war damit beendet, noch ehe ein ganzes Jahr vergangen war.

Aber nicht ganz. Bald darauf watschelte sie, nun im weißen Federkleid, hoch oben im Gänsehimmel auf einer Wolke umher, wo sie ihre Freundinnen Gundula, Gertraude und Gerda wieder traf. Auch den Ganter Gustav und viele, viele andere Weihnachtsgänse. Aber auch wenn sie, die Hausgänse, in ihrem irdischen Leben wegen ihrer gestutzten Flügel nie fliegen konnten, so war ihnen das nun doch noch vergönnt - mit einem leuchtenden Ring um den Gänsekopf. Und auch dort oben in den himmlischen Sphären gab es jede Menge zu Schnattern.         

                                                Und die Moral von der Geschicht
                                                so schön die Welt auch scheint
                                                bist du eine Gans
                                                dann trau ihr nicht

PS: Und nun, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich euch ein frohes Weihnachtsfest und zum Festmahl einen guten Appetit. Lasst es euch schmecken. Vielleicht gibt es ja bei euch gefüllten Gänsebraten.

Bürgerreporter:in:

Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode

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