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Das hat keiner gewollt...

Völlig müde und erschlagen fühlte sich Fritz Gerlach als er aufstand.
Durch die Lamellen der Jalousie drang das Licht der Straßenlaterne vor dem Haus. Es war noch dunkel und Gerlach tastete nach seinen Anziehsachen. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen, gegrübelt und einen Ausweg gesucht. Aber es gab einfach keinen. Niemand war da, der den Jungen bei sich hätte aufnehmen können, niemand.
Gerlach streifte sich die Hose über und es fröstelte ihn. Seit Monaten schon hatte er sich vor diesem Tag gefürchtet.
„Du schaffst einfach nichts, Fritz, du hast einfach nicht genug Ehrgeiz, etwas anzugehen!“ Immer wieder hatte Mathilde ihm das vorgehalten.
„Ich will endlich raus hier! Verstehst du mich? Ich halte es hier einfach nicht mehr länger aus. Egal wohin ich auch sehe: Plattenbauten, Betonbalkone, Hauswände. Das ist doch kein Leben für mich, begreifst du das denn nicht? Tagein, tagaus dasselbe. Betten machen, Kochen, Geschirr spülen, Staubsaugen, Wäsche waschen, Putzen und dann das Ganze wieder von
vorne...“

„Aber, du hast doch den Jungen, Mathilde, das ist doch auch eine Aufgabe.
Und wenn du eine kleine Tätigkeit annehmen möchtest...?“
„Ach, du meinst also, ich hätte jetzt noch nicht genug zu tun!“
Sie verstanden sich einfach nicht mehr. Gerlach hatte Umschulungen gemacht, hatte monatelang bis tief in die Nacht hinein über seinen Büchern gesessen. Aber es half nichts. So sehr er sich auch bemühte, er fand einfach keine Arbeit.
„Warum können wir uns keine eigene Waschmaschine leisten? Warum waren wir noch nie im Urlaub? Ganz zu schweigen von einem eigenen Auto, wie es alle anderen längst haben.
Für mich reichte es nur zu einem gebrauchten, verrosteten Fahrrad, und für den Jungen, als er klein war, nur zu einem gebrauchten Kinderwagen und später zu einem alten Dreirad vom Sperrmüll.“
Früher hatte er sich abgerackert, Überstunden gemacht und kam keinen Abend vor neun oder halb zehn Uhr nach Hause.
Trotzdem blieb stets das quälende Gefühl, nicht genug geschafft zu haben.
Einmal sprach er von einem zweiten Kind, einer Tochter vielleicht.
„Wir können uns das nicht leisten“, wurde er sofort von Mathilde angefaucht, „soll ich denn auf alles verzichten? Wer hilft uns denn? Deine Eltern vielleicht? Die haben doch selber nichts!“
Gerlach hatte geschwiegen. In Mathildes Augen war er ein völliger Versager.
„Ich könnte vielleicht eine Kneipe oder einen Kiosk übernehmen.“
Nur ein Vorschlag. Aber Mathilde hatte schallend gelacht.
„Am Ende hätten wir dann nichts als Schulden und nochmals Schulden.
Du und selbständig!
Sag mal, wofür hältst du dich eigentlich?“

Gerlach zog sich sein Hemd über und ging in die Küche. Seit einigen Tagen war er nun schon mit dem Jungen alleine. Aber genauso hatte er es kommen sehen. Was hatte er Mathilde denn auch schon bieten können? Sie sehnte sich nach dem Leben, wie sie es aus den Illustrierten kannte.
Er setzte Teewasser auf.
Gestern stand er hier am Fenster und hatte auf die Straße hinunter gesehen. Mathilde war noch einmal zurückgekommen, um noch ein paar Sachen zu holen. Das Taxi wartete unten vor dem Gehsteig.
„Und, was wird aus dem Jungen?“ hatte er gefragt.
„Was weiß ich denn? Wenn du nicht für ihn sorgen kannst, dann musst du ihn eben in ein Heim geben.“
Natürlich, dachte er, das war die einfachste Lösung. In ein Heim geben.
„Aber, es ist doch auch dein Kind, Mathilde.“
„Na und? Ich habe mich jetzt weiß Gott lange genug aufgeopfert für den Jungen. Jetzt bist du mal dran, damit du auch mal siehst wie das so ist.“
Gerlach hatte aus dem Fenster gestarrt. Angst beschlich ihn. Wenn ihr nur jetzt der Junge nicht begegnete. Er ist irgendwo draußen spielen mit den anderen Jungs aus der Nachbarschaft. Mit einem lauten Ruck zog Mathilde die Wohnungstür hinter sich zu. Er hörte ihre Absätze auf der Treppe, dann trat sie wieder auf die Straße hinaus.
Und plötzlich kam der Junge um die Ecke. Völlig außer Atem hörte er ihn rufen: „Mama, Mama!“
Mathilde blieb stehen, strich ihm über die Haare, beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss. Dann stieg sie in das Taxi und der Junge klammerte sich an den Türgriff. Das Taxi fuhr an und der Junge rannte noch eine ganze Weile weinend neben dem Wagen her.
Gerlach hatte sich abgewandt. Er konnte es einfach nicht mit ansehen.

Den ganzen Abend hatte er dann neben dem Jungen auf der Bettkante gesessen und ihn zu trösten versucht. „Sie kommt bestimmt wieder, die Mama, sie hat dich doch lieb.“
Der Junge hatte still vor sich hin geweint und Gerlach wartete, bis er eingeschlafen war. Dann holte er den kleinen Koffer vom Kleiderschrank herab.
Jetzt, am Morgen, war alles noch viel trister.
Gerlach goss das heiße Wasser in die Teetasse und ging zu dem Jungen hinüber. Vorsichtig berührte er ihn an der Schulter.
Der Junge fuhr hoch. „Mama?“
„Du musst jetzt aufstehen, hörst du.“
Der Zug fuhr sechs Uhr fünfundzwanzig. Schon vor einigen Tagen hatte Gerlach sich die Adresse geben lassen. Für alle Fälle sozusagen, auch wenn er nie daran hatte glauben wollen.
Seinen Jungen in ein Heim bringen!
Das Abteil war noch ungeheizt. Wortlos saßen sie sich gegenüber. Der Junge blickte stumm und erwartungsvoll aus dem Fenster.
„Kommt die Mama auch?“ fragte er mit zaghafter Stimme.
„Ich weiß nicht“, log Gerlach, um dem Jungen nicht auch noch das letzte bisschen Hoffnung zu zerstören.
Gerlach schlug die Zeitung auf, aber er konnte sich einfach nicht auf die gedruckten Zeilen konzentrieren. Immer wieder gingen ihm die Gespräche der letzten Tage durch den Kopf die er mit verschiedenen Leuten geführt hatte.
„...tut mir Leid für Sie, wirklich.“
„...machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden sehen, in ein paar Tagen hat er sich dort doch eingelebt.“
„...kennen Sie denn das Heim?“
„...aber, Sie können ihn doch regelmäßig besuchen!“
Der Zug setzte sich in Bewegung. Gerlach ließ die Zeitung auf den Schoß sinken und betrachtete den Jungen von der Seite.
„Das habe ich nicht gewollt“, sagte er leise.

Der Junge hörte es nicht. Seine suchenden, wartenden Augen hafteten noch immer erwartungsvoll auf dem sich nun schneller und immer weiter entfernenden Bahnsteig.

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