Sommerferien auf dem Lande
Endlich wieder „DAHEIM“ !

Postkarte Lanzingen
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Biebergemünd-Lanzingen. Mitte Dezember 1960, ich war viereinhalb Jahre alt, veränderte ein Tag mein ganzes bisheriges Leben: wir zogen von meinem Geburtsort weg, in eine für mich fremde Umgebung in Oberhessen. Selbstverständlich fühlten wir uns in der Stadt nach und nach wohl und ich hatte viele Spielkameradinnen und Spielkameraden, aber es war eben doch etwas anderes als in meinem Geburtsort.

Die Sommerferien sehnte ich als Schulkind stets herbei und nachdem die Pausenglocke das ‚letzte‘ mal ertönte, lief ich auf dem schnellsten Wege nach Hause. Nun hieß es nur noch: den kleinen Koffer zu packen, noch einmal schlafen und am nächsten Tag mit der Eisenbahn endlich wieder in das kleine Dorf im hessischen Spessart, etwa 120 Kilometer weg von zuhause.

In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war es noch nicht selbstverständlich, in den Sommerferien zu verreisen. Zumeist wurden die Ferien zu Hause verbracht. In meiner Erinnerung war es stets für mich ein ganz besonderes und vielleicht noch mit Weihnachten zu vergleichendes Gefühl, wenn ich als etwa 10jähriger mit meinem Koffer und einem Fix + Foxi-Heftchen alleine in dem Zug von Gießen nach Gelnhausen saß. Freude aber gleichzeitig auch Anspannung erfassten mich, wenn ich in Gelnhausen den Zug verließ und in den blauen Bus der Gelnhäuser Kreiswerke umstieg, der vor dem Bahnhofsgebäude stand. Schon hier kam mir alles vertraut vor und selbst der Busschaffner begrüßte mich lächelnd: „Na, Du besuchst wieder deine Oma …“.

Nachdem sich der Bus in Bewegung gesetzt hatte, konnte ich von meinem Fensterplatz aus gut die Orte Höchst, Wirtheim und Kassel sehen und dann war es endlich soweit, dass wir Lanzingen erreichten. An der Haltestelle oberhalb von Lisbeth`s Dorfladen öffnete sich die Bustüre und ich stieg aus. Plötzlich war alles wieder so, als sei ich nie weg gewesen! Vorbei an Wagnersch- und Güntershof kam ich auf unserem Hof an und da vor dem doppelflüglichen Scheunentor stand meine Oma und schloss gerade hinter sich die kleine Tür, die sich im Scheunentor befand. Über die schon etwas ausgetretenen Sandsteinstufen ging es in das Bauernhaus. Hier war ich daheim.

Mein Wecker war fast täglich der Klang von Pferdehufeisen. Königs Ludwig kam mit seinem von zwei Pferden gezogenen Wagen vom Werthchen her auf der Hauptstraße entlang durch Lanzingen. Nun hieß es für mich: aufstehen, waschen, anziehen und danach ab in den Stall. Onkel und Tante waren hier schon mit den täglichen Stallarbeiten, füttern, ausmisten und melken, beschäftigt. Den zweirädrigen Handwagen holte ich herbei und nachdem auch der letzte Eimer Milch in die Milchkanne gegossen und die beiden Kannen fest auf dem Handwagen standen, brachte ich sie in das Milchhäuschen.

Hier war Herta beschäftigt, die mich schon von frühester Kindheit an kannte und wie meine Eltern immer ein wenig schmunzelnd sagten: „Du konntest eher den Namen ‚Herta‘ sagen als Mama und Papa…“. Sie entnahm eine Milchprobe aus den Kannen, schüttete die angelieferte Milch in einen großen Behälter und wog sie und trug die Literzahl auf einer extra Stechkarte für jeden Bauern mit dem entsprechenden Datum ein. Butter und Quark konnte man hier auch bestellen, ich glaube immer dienstags, und dann am Donnerstag abholen. Auf den frischen Quark freute ich mich immer und hatte es dann besonders eilig, wieder zum Hof zurück zu kommen. Der Grund hierfür war, dass es dann ein frisches Bauernbrot mit Quark und Marmelade zum Frühstück gab – ein Leckerbissen, alleine wenn ich jetzt daran denke, läuft mir noch das Wasser im Mund zusammen.

Wenn ich mich so zurück erinnere, so hatte ich während der Ferienzeit nie Langeweile, auch ohne Fernsehen und Computerspiele. Auf dem Hof war ständig etwas zu tun: Kehl in einer Handmühle zerkleinern, Hühner füttern, oder sei es, dass ich meine Oma auf ihrem täglichen Weg zum Friedhof begleitete, mit ihr über den Säutrieb in den Wald zum Heidelbeerpflücken ging oder auf dem Gartenland in der Dick Unkraut jäten angesagt war. Jeden zweiten Tag wurde frisches Futter für das Vieh geholt und dazu musste das Pferd angeschirrt und eingespannt werden. Wenn ich neben meinem Onkel vorne auf dem Wagen saß, gab er mir die Pferdeleine und ich durfte dann selbst fahren. Das Pferd war schon etwas älter und sehr treu und heute denke ich manchmal, dass es auch ohne mein Ziehen an der Leine bzw. die Kommandos den Weg gefunden hätte.

Die Getreideernte war in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die Bauern noch harte körperliche Arbeit, während ich damit nur gute Erinnerungen verbinde. Mein Onkel hatte ein Pferd und so konnte die Getreideernte nur gemeinsam mit einem anderen Bauern bewältigt werden, der ebenfalls ein Pferd besaß. Die beiden Pferde wurden vor einen Mähbinder gespannt und die so abgemähten Getreidehalme zu Garben von der Maschine gebunden und über ein umlaufendes Tuch dann auf den Ackerboden befördert. Es zählte jede Arbeitshand.

Wenn erst die Heucheln rund um das Dorf herum auf den abgeernteten Feldern standen, dann war meist auch schon das zweite Augustwochenende und man feierte die Kerb. Besonders gerne erinnere ich mich an den Kerbmontag und das hat zwei Gründe:
1. Am Kerbmontag marschierten die Kerbburschen gemeinsam mit Musikern im Dorf von Haus zu Haus, um dort den Familien ein Lied zu spielen und erhielten als Dank Schnaps, Eier, Speck und manchmal auch ein wenig Geld. Da meine Eltern zur Getreideernte oft schon da waren, haben Kerbburschen den Musikern gesagt, dass sie auch meinen Eltern ein Lied spielen sollten, denn „…die sind auch von hier…“.
2. Ein weiterer Grund war, dass ich mir an diesem Tag immer etwas zum Mittagessen wünschen durfte und das war: Suppe und Waffeln. Da wir in unserer Wohnung in Oberhessen keinen Herd mehr mit Ofenringen hatten, gab es auch kein Wendewaffeleisen mehr. Solch ein Wendewaffeleisen und einen Kohleherd mit Ofenringen stand aber noch hier im Elternhaus meiner Mutter in Lanzingen und so genoss ich diese frischen Waffeln an diesem ‚Feiertag‘ immer ganz besonders gerne.

Meine Erinnerungen drehen sich aber nicht nur um die zuvor geschilderten Geschehnisse sondern es sind vor allem die Menschen, die für mich das besondere ‚DAHEIM‘ Gefühl ausmachten. Da war zunächst meine Oma, mit der ich viele Erinnerungen verbinde aber vor allem auch die sonntäglichen Fußmärsche über den Kerkelbornweg, vorbei am Forsthaus durch den Wald bis in den 5 Kilometer entfernten Ort Bieber in die katholische Kirche Mariä Geburt. Es waren da auch noch meine Onkels, Tanten, Cousinen und Cousins und auch andere wie Hergets Käth, Wirts Bette, Kallies Anna, Wagnersch Wilhelm und die Sanne, Güntersch Emma und auch der letzte Bürgermeister Weimarsch Adam, die Lisbeth, Borne Lina und Helmut, Sailersch Anni und viele mehr. Es sind meistens kleine Anekdoten, die ich mit diesen Menschen verbinde, wie z. Bsp. mit Schustersch Heu, der immer wenn er mich sah, erst einmal von seiner Holzschneidemaschine abstieg um das „Seppelchen“ (da mein Vater Josef hieß, nannte er mich so) zu begrüßen. Die Geschichte war im Herbst 1960 während der Kartoffelernte. Gemeinsam mit mir, etwa vier Jahre alt, wollte meine Mutter Schustersch Heu bei der Kartoffelernte helfen. Während sie noch die letzten Kartoffeln der Reihe aufsammelte, roderte Schustersch Heu bereits mit seinem Traktor die nächste Reihe aus, stoppte erst kurz hinter meiner Mutter, um dann vom Traktor abzusteigen. Daraufhin ging ich zu ihm und sagte: „Heu, fahr mir meine Mutter nicht tot, die habe ich noch nicht lange.“ Das hat er nie vergessen.

Da fällt mir aber auch noch Hugo ein, der mit seinem Bäckerauto auf unserem Hof hielt. Bei ihm kauften wir die Kässeler Wasserweck und ich erinnere mich noch gut, dass ich immer schon einen Weck auf dem Weg vom Hof bis in die Küche verdrückte.

Da waren auch noch ‚Oma‘ und ‚Opa‘ Haese, die ich während meines Ferienaufenthalts wenigstens einmal besuchen musste und so nannte, obwohl wir überhaupt nicht miteinander verwandt waren. Sicher habe ich noch viele hier nicht erwähnt, aber sie sind mir noch alle gut im Gedächtnis und für mich immer ein Teil der besonderen dörflichen 'Großfamilie'.

Am Ende der Ferien fiel mir der Abschied zwar schwer, aber ich wusste: die nächsten Sommerferien kommen bestimmt und dann komme ich wieder und bin endlich wieder einmal ‚DAHEIM‘.

Bürgerreporter:in:

Hans-Christoph Nahrgang aus Kirchhain

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