Salome
Salome
„Schnapsdrossel“ nannten sie alle geringschätzig.
Vor Jahren sah ich sie zum ersten Mal mit Schrubber und Eimer schwankend durch die Theatergänge ziehen. Alle, die an ihr vorüber kamen, grüßte sie stets mit dem Namen der Rolle, in der er oder sie gerade besetzt waren.
Ihre Gesichtszüge ließen nur noch schwach ahnen: Sie muss einmal eine schöne Frau gewesen sein.
Jetzt hing ihr das Haar in grauen Strähnen ins aufgedunsene Gesicht. Ihre blauen Augen schwammen in Alkohol und Vergessen.
Jeder der freundlich zu ihr sein wollte, rief sie nicht bei ihrem bürgerlichen Namen, sondern nannte sie nur ‚Salome’.
Im Laufe einer kurzen Unterhaltung fragte ich sie eines Tages, wie sie denn zu diesem Namen käme.
„Einen Roman könnte ich dir dazu erzählen“, meinte sie, „aber davon vielleicht später mal, wenn du mehr Zeit hast.“
Ich hatte dieses kurze Gespräch längst vergessen, aber in der Folgezeit bemerkte ich, dass sie stets auf irgendeine Weise meine Nähe suchte. Dann erkundigte ich mich stets nach ihrer Gesundheit, wie ihr Wochenende, oder irgendwelche Feiertage verlaufen seien.
Da sprach sie mich eines Tages direkt an: „Ich wollte dir doch einmal davon erzählen, wie ich zu dem Namen ‚Salome’ gekommen bin. Hast du etwas Zeit?“
„Ja, genau, davon hatten wir gesprochen“, erwiderte ich. „Ich komme nach der Pause gerne mal bei dir vorbei, wenn es dir recht ist, denn es interessiert mich schon.“
„Gut“, meinte sie mit schwerer Zunge, „ich warte in meiner Kammer dort auf dich“.
Nach der Pause ging ich dann zu ihr.
Warme, verbrauchte, von Zigarettenrauch und Alkoholdunst geschwängerte Luft schlug mir entgegen.
Unter Heizungsrohren, die an der Decke liefen und über denen feuchte Putzlappen hingen, saß sie an einem Tisch. An der bröckelnden Wand stand ein nüchterner grauer Blechspind.
„Schön warm hast du es hier aber“, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen.
Sie sah mich kaum an und wies mit einer fahrigen Kopfbewegung nur auf einen Stuhl.
Als ich Platz genommen hatte, stand sie auf, ging zum Spind und holte einen Pappkarton randvoll mit weißgezackten alten Schwarzweißfotos, sowie unzähligen bereits vergilbten Zeitungsausschnitten mit Fotos und Kritiken, die sie sofort vor mir auf dem Tisch ausbreitete.
„Das bist du?“ fragte ich ungläubig.
Ohne mich dabei anzusehen, nickte sie nur mit dem Kopf.
Ich überflog kurz die Kritiken und Berichte der Zeitungsausschnitte, die von ihren Erfolgen berichteten und sah mir die Bilder an. Sie war in ihrer Jugend eine wahrhaft schöne und anmutige Frau gewesen, umgeben von interessanten Menschen. Auf einem Bild sah man sie selbstbewusst am Steuer eines amerikanischen Straßenkreuzers, hübsch, und scheinbar glücklich.
„Ich komme davon einfach nicht los“, stammelte sie.
„Aber im Leben ist man eben mal oben und mal unten!
Und jetzt bin ich eben wieder unten, was soll’s!“
Aus meiner langjährigen Theatererfahrung wusste ich, dass gerade die Rolle der Salome von der Künstlerin ein Höchstmaß an schauspielerischer Leistung abverlangt. Sie muss Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, rassige Frau und Psychologin zugleich sein.
Seit der Uraufführung am 9. Dezember 1905 in Dresden hatte es in allen Epochen weltweit nur ganz wenige Salomen gegeben, die diesem Ideal nahe kamen.
Mit glasigem Blick sah sie mich an:
„Ja, Salome!
Ich!
Und viele hundert Male sage ich dir!
Und jedes Mal mit größerem Erfolg!
Hier lies doch…! Schau’s dir nur an!“
Trotzig, mit einer fahrigen Bewegung schob sie den Packen Zeitungsausschnitte mir zu.
Sie starb kurze Zeit später in einer Heilanstalt.
Alles was von diesem großartigen, interessanten und erfolgreichen Leben blieb, bestand lediglich aus einem Pappkarton voller Erinnerungen - mit Fotos aus ihrer Jugend und ein paar vergilbten Zeitungsausschnitten.
Wolfgang Kreiner © 2001/2007
aus: „Traumhändler“
Gryphon -Verlag München
ISBN: 978-3-935192-27-9