Bedingungsloses Grundeinkommen ab 2023 in Marburg?

Seit mehr als zehn Jahren wird in Deutschland mit steigender Intensität über die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert. Die Tagesmutter Susanne Wiest aus Greifswald hatte damals mit einer bundesweiten Petition für Furore gesorgt und dabei den Server des Bundestages in die Knie gezwungen.

Am 26.10. letzten Jahres saß Susanne Wiest nun erneut vor dem Petitionsausschuss des Bundestages. Diesmal ging es um die Durchführung eines auf die Sondersituation der Corona-Krise zugeschnittenen bedingungslosen Grundeinkommens. Die Debatte im Ausschuss zeigte auch 10 Jahre nach ihrer ersten Anhörung, wie oberflächlich selbst in parlamentarischen Gremien noch immer das Wissen über die Grundeinkommensidee ist.

Bereits der Unternehmer und dm-Gründer Götz Werner vertrat lange vor Susanne Wiest die Ansicht, dass es für einen Paradigmenwechsel, der mit der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens verbunden sei, erst einmal notwendig wäre, dieses Kozept überhaupt denken zu lernen: "Es wäre mir lieber, wenn möglichst Viele die Idee des Grundeinkommens erst einmal denken könnten, bevor die großen Berechnungen angestellt werden. Denn meine Maxime ist: Wenn man etwas machen will, dann muss man es erst einmal denken können. Wenn man es dann wirklich will, findet man auch Wege. Und wenn man es nicht will, findet man Gründe."

Das Grundeinkommen denken zu lernen, bedeutet aber auch, sich intensiv damit auseinander zu setzen. Oft wird das Thema ähnlich emotional wie die Corona-Einschränkungen, der Klimawandel, Impfungen oder der 5G-Mobilfunknetzausbau diskutiert. Die Einen sind Feuer und Flamme dafür, die Anderen kämpfen verbissen dagegen. Das ist die Krux bei allen komplexen, globalen Problemen: Sie lassen sich im Detail kaum durchdringen. Auch mit noch so fundierter wissenschaftlicher Forschungsarbeit wird man nicht bis in letzte Konsequenz vorhersagen können, was genau nach der Einführung, bzw. nach der Ablehnung solcher Maßnahmen passieren wird.

Weitere Forschungstätigkeit nötig

Forschungstätigkeit und das Auflegen neuer Studien ist dennoch unabdingbar, um wenigstens ein vages Gefühl für die besser geeignete Marschrichtung zu entwickeln, in die sich unsere Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten bewegen soll. Die Problematik der Rentensicherheit oder die Grenzen des Hartz-IV-Systems lassen sich auch durch Wegsehen nicht beschönigen. Abnehmende Zivilcourage oder Mitmenschlichkeit in der Bevölkerung, drängende Klimaprobleme, zunehmende chronische Erkrankungen und Stress rufen dringend nach unkonventionellen Lösungsansätzen, die bisher für undenkbar gehalten wurden.

Der Philosoph, Utopist und Zukunftsforscher Richard David Precht ist nicht der einzige, der davon überzeugt ist, dass es keinen Weg am bedingungslosen Grundeinkommen vorbei gibt. Er ist der festen Überzeugung, "dass das Grundeinkommen in den meisten europäischen Staaten eingeführt wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann, in welcher Höhe und wie es finanziert wird. Da gibt es noch viel politischen Spielraum, aber machen muss man das und zwar aus einer ganz einfachen Überlegung: Wenn die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen deutlich kleiner wird und die Anzahl derjenigen, die Transferleistungen bekommen, deutlich grösser, dann würde jedes so aufgebaute Sozialsystem kollabieren."

Wie aber kann es gelingen, diesen Quantensprung zu vollziehen, wenn in den entscheidenden politischen Gremien, das Bedürfnis, an alten, vermeintlich funktionierenden Strukturen festzuhalten und die Angst vor unsicherem Neuland größer als der Mut zum Risiko ist? Es ist ein Dilemma: Einerseits werden möglichst realitätsnahe, wissenschaftliche Feldversuche benötigt, um neue Erkenntnisse und Handlungssicherheit zu erlangen, andererseits braucht es für kostenspielige Großversuche bereits die innere Überzeugung, in die richtige Strategie zu investieren.

Toleranz und Solidarität

Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, diesen Denkprozess als Graswurzelbewegung in den Köpfen jedes einzelnen Menschen verstärkt anzustoßen. Es ist wichtig, dass auch an deutschen Stammtischen und WhatsApp-Gruppen über die Aspekte diskutiert wird, die heute noch die Befürworter und die Gegner dieser Idee trennen. Bedenken gegen eine Finanzierbarkeit, die die anfänglichen Diskussionen dominiert haben, konnten schon lange entkräftet werden. Heute dreht es sich meist eher um eine diffuse Empfindung von Ungerechtigkeit. Reiche Menschen sollen genau so viel Geld erhalten, wie die Ärmsten der Armen. Kann das gerecht sein? Doch gerade dieser Aspekt gehört zu den interessantesten, denn dadurch wird Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Toleranz und Solidarität im eigentlichen Sinne angestrebt. Die mentale Schere zwischen Arm und Reich kann ein Stück weiter geschlossen werden, wenn Rücksichtnahme, Empathie und Gemeinschaftssinn durch das bedingungslose Grundeinkommen wieder stärker zum Kitt unserer Gesellschaft avancieren würden.

Auch diffuse Ängste vor einer Erosion der bestehenden Sozialsysteme oder der Förderung von Faulheit und Nichtstun kann man entkräften, wenn man den Wert von kreativem oder ehrenamtlichen Engagement, von Tätigkeiten im Haushalt, bei der Pflege eigener Angehöriger, der Renovierung seiner Wohnung, bei politisch-philosophische Vordenkprozessen oder der Schaffung von Grünbiotopen im eigenen Garten anders als bisher einstuft.

Solche Diskussionen, solche Denkprozesse will nun das Institut zur Erforschung des Grundeinkommens an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (IBIS) in Zusammenarbeit mit dem Berliner Verein 'Expedition Grundeinkommen' (Vertrauensgesellschaft e.V.), dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), dem Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern und der Universität Köln auf breiter Basis verstärkt anregen. Dazu werden bundesweit Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene angestoßen und unterstützt.

Initiative für Marburg

Eine solche Initiative gibt es seit einigen Tagen auch in Marburg. Angedacht ist, dass von 2023 bis 2026, also für 3 Jahre, jedem tausendsten Einwohner der Stadt ein bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von monatlich 1200 Euro in Form einer Negativen Einkommensteuer vergütet werden. Ein solcher Modellversuch würde nach streng wissenschaftlichen Kriterien unter Federführung des DIW Berlin durchgeführt und ausgewertet werden. Das Ziel soll dabei u.a. sein, neue Erkenntnisse über verschiedene Finanzierungsmodelle und über die Auswirkungen eines solchen Versuches zu gewinnen. Das Geld dafür soll aus dem Stadt-Säckl kommen.

Wie genau das gegenzufinanzieren wäre, muss im Detail noch geklärt werden. Eine Möglichkeit wäre, eine kommunale Sonderaufwandssteuer in Höhe von 10 Euro von jedem Einwohner pro Jahr der Studienlaufzeit zu erheben. Das entspräche noch nicht mal einem Kinobesuch oder zwei großen Bieren, auf die man in der Corona-Krise ohnehin gelernt hat, wenigstens zeitweise verzichten zu können. Möglicherweise wäre das ein zweckgebundener Solidarbeitrag, für den es eine breite Unterstützung in der Stadtgesellschaft geben könnte. Diskutieren könnte man darüber hinaus, ob dieser Beitrag nach Familiengröße gestaffelt wird. Weitere Finanzierungskonzepte sollen noch entwickelt werden.

Zur Zeit formiert sich in Marburg eine Bürgerinitiative, die diese Projekt voranbringen möchte. Auf der Projekthomepage kann man die täglich wachsende Anzahl von Unterstützer*innen beobachten. Im ersten Schritt sollen sich für Marburg 800 Interessenten dazu anmelden, bevor im nächsten Schritt verbindliche Unterschriften für ein Bürgerbegehren zur Durchführung eines solchen Modellversuches gesammelt werden sollen.

Marburg, nicht nur "Hauptstadt des Fairen Handels", sondern bald auch "Hauptstadt des bedingungslosen Grundeinkommens"? Ein weiterer Mosaikstein zu einem zukunftsfähigen, sozial engagierten Stadtimage.

Weitere Informationen:
https://expedition-grundeinkommen.de/gemeinden/mar...
https://www.grundeinkommen-marburg.de/

Bürgerreporter:in:

Sönke Preck aus Marburg

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