Erzählsalon startet in Apolda
»Und plötzlich war ich ungelernt« Das Ende der Textilindustrie in Apolda war das Thema im ersten Erzählsalon im Projekt »Einander erzählen und zuhören«

»Und plötzlich war ich ungelernt« – mit dieser befremdlichen Degradierung erlebte die Facharbeiterin und studierte Textil-Technologin Marion Claus die Nachwendezeit. Als sie nach ihrer Entlassung aus dem VEB Thüringer Obertrikotagen Apolda (TOA) aufs Arbeitsamt ging, wurde ihr mitgeteilt, dass sie als Ungelernte eingestuft wurde. Warum, wurde ihr nicht erklärt. Im ersten Erzählsalon im Projekt »Einander erzählen und zuhören«, eine Kooperation der Kreisvolkshochschule Weimarer Land und Rohnstock Biografien, erzählte die heutige Leiterin des Pflegenetzwerks Weimarer Land. Bis 1990 war die Stadt ein bedeutendes Zentrum der Herstellung von Strick- und Wirkwaren sowie für die Produktion von Strickereimaschinen. Zu DDR-Zeiten wurde feine Wollbekleidung hergestellt, die in viele westliche Länder und in die Sowjetunion exportiert wurde. Allein im TOA, dem größten Maschenwarenhersteller der DDR, waren bis zur Wende 3000 Menschen beschäftigt. Nach 1990 wurden die Betriebe geschrumpft oder liquidiert. Die meisten Angestellten verloren ihren Arbeitsplatz, und die Stadt ihre Bedeutung als Industriestandort – mit der Folge, dass Tausende abwanderten.
Neben Marion Claus, die sich in Folge dieses Bruchs umorientierte, und statt Textil in einem Verlag arbeitete, schilderte Gerlinde Steede eindrücklich die Entwicklung der Textilindustrie. Von 1976 bis 1991 war sie Teil eines jungen dynamischen Teams von rund 100 Mitarbeitern in der Erzeugnisentwicklung gewesen. Zwei Kollektionen pro Jahr, unzählige Modenschauen, große Messebesuche, Studienreisen ins Ausland, Schulungen und kreativer Austausch mit dem Modeinstitut Berlin prägten den Arbeitsalltag und sorgten dafür, dass Apolda ein Zentrum der Strickwaren blieb.
»Zwar herrschte oft ziemlich viel Druck immer alles rechtzeitig auf der Stange zu bringen, es war dennoch eine sehr schöne Arbeit. Am Ende des Tages konnte man sehen, was man getan hat und die vielen Austauschmöglichkeiten mit anderen von überall her machte es stets spannend«, erinnert sich Gerlinde Steede. Doch mit der Währungsunion änderte sich alles. »Ich ahnte gleich, dass wir uns nicht mehr behaupten können, wenn wir mit West-Geld bezahlt werden, und ab Januar 1991, als die ersten in den Vorruhestand geschickt und Betriebsteile geschlossen worden, merkte ich, ich sollte Recht behalten«, erzählt sie. Bereits ein halbes Jahr später erhielt auch sie und mit ihr die letzten rund 150 Kolleginnen die Kündigung. Nach der Suche nach einer neuen Aufgabe, dem Versuch eines Neustarts mit einer Münchener Designerin kehrte auch Steede 1994 der Textilbranche den Rücken: »Ich hatte einfach das Gefühl, es wird nicht mehr – unser Name war nicht groß genug, um sich auf dem neuen Markt zu behaupten.«
Wie Gebäude und Maschinen finanziell abgewickelt worden, dazu konnte eine ehemalige Bänkerin aus dem Publikum Aufschluss geben, die damals mit diesen Aufgaben betreut wurde. Als »ganz schön knackig« beschrieb der Erzähler und ehemalige Hauptmechaniker Volker Heerdegen die Wendezeit. »Es berührt mich noch heute, wenn ich daran denke, wie diese neuen Bedingungen und Umstände auf uns einrasselten und wie viele Menschen, darunter ja ein Großteil Frauen, plötzlich ohne Arbeit dastanden und kaum Möglichkeiten hatten, sich aus dieser Situation zu befreien – plötzlich verdiente niemand mehr Geld mit Wolle in Apolle«, resümierte er die Folgen der Wendezeit. Diese Betroffenheit spiegelte sich auch im angeregten Dialog mit dem Publikum wider. »Als ich letztens die Lederfabrik besichtigte, ereilte mich ein bedrückendes Gefühl – es sah aus, als wären die Mitarbeiter nur kurz in der Pause. Es ist traurig. Ich würde mir so wünschen, hier im Ort hergestellte Produkte kaufen zu können. Stattdessen ist es so schwer Mode zu bekommen, die nicht aus dem Ausland kommt beziehungsweise dort verarbeitet wurde«, fügte eine junge Frau aus dem Publikum an. Die junge Generation sucht nach nachhaltigen Modewaren aus Deutschland. Das Themenspektrum war breit, auch die Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten in der DDR wurden diskutiert.
Der Niedergang der traditionsreichen Industriezweigs bedeutete für viele einen schmerzhaften Bruch in der Biografie. Lange Zeit wurden diese Erfahrungen in der Öffentlichkeit tabuisiert. So verbreitete sich bei vielen Menschen das Gefühl, dass ihnen nicht zugehört wird, dass ihre Geschichten nicht gefragt und ihre Arbeitsleistungen wertlos sind.
Mit dieser Veranstaltung im Gelben Salon des GlockenStadtMuseums Apolda wurde nun der Auftakt im Weimarer Land gemacht, dies zu ändern. »Es ist wichtig Geschichte aus der Perspektive der Menschen zu erzählen, die sie erlebt haben. Um die Gegenwart zu verstehen, müssen wir zunächst hören, welche Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht wurden«, so Katrin Rohnstock, Erfinderin und Moderatorin des Erzählsalons. Das Projekt »Einander erzählen und zuhören« wird in den kommenden Monaten in weiteren Orten im Weimarer Land Menschen die Möglichkeit geben, ihre Geschichte zu erzählen. Erzählsalons in Blankenhain, Berlstedt, Bad Sulza und Mellingen sind in Planung. An allen Orten ist die einheimische Bevölkerung eingeladen, ihre Geschichten einzubringen. Welche Erfahrungen sammelten sie vor, während und nach der Wende an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Heimatorten?
Interessierte können sich an Nico Przeliorz, Pädagogischen Mitarbeiter in der politischen Bildung (KVHS Weimarer Land) | nico.przeliorz@kvhs-weimarerland.de | Tel.: 03644 51 650 -19 wenden.

Bürgerreporter:in:

Viola-Bianka Kießling

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