Das Siegel der Urahnin
Die Chronik von Myrth (Part 3) - Das Siegel der Urahnin

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Die Chronik von Myrth (Part 3) - Das Siegel der Urahnin
Kapitel 1 – Das Flüstern im Traum

Seit der Nacht der drei Monde waren Wochen vergangen. Myrth lebte – doch Lyra wusste, dass der Sieg nicht rein war. Die Saat war gebannt, nicht vernichtet.

In den ersten Nächten nach dem Ritual schlief sie tief, erschöpft von der Schlacht. Doch bald kamen die Träume. Zuerst waren es nur Schatten, die sich in den Rändern ihres Bewusstseins bewegten. Dann Stimmen – leise, kaum mehr als ein Hauch.

„Lyra…“

Sie erwachte schweißgebadet, das Herz hämmernd. Das Wispern verklang, sobald sie die Augen öffnete, doch der Nachhall blieb, wie ein unsichtbarer Faden, der sich um ihre Gedanken legte.

Am vierten Morgen stand Seril in der Tür zu ihren Gemächern. „Du hast wieder nicht geschlafen.“ Es war keine Frage.

„Es ist nichts,“ log sie, und er wusste, dass es eine Lüge war.

Tagsüber war Myrth erfüllt vom Klang des Wiederaufbaus. Hämmer auf Holz, Stimmen, die Befehle riefen, das Knirschen von Steinen, die neu gesetzt wurden. Die Menschen, Elfen und Ameisenkrieger arbeiteten Seite an Seite, und doch lag eine unsichtbare Spannung in der Luft.

Lyra ging durch die Straßen, grüßte, half, wo sie konnte. Aber in den Augen der Leute sah sie etwas, das sie nicht benennen konnte – eine Mischung aus Dankbarkeit und Furcht.

Am Abend kehrte sie in den Großen Pilzdom zurück. Elinor war dort, kniend vor dem Stamm, ihre Hände auf das warme, lebendige Gewebe gelegt.

„Du hörst es auch,“ sagte Elinor, ohne aufzusehen.

Lyra erstarrte. „Was?“

„Das Lied unter dem Lied. Die Erde singt – aber da ist ein zweiter Ton. Tief, verborgen. Er gehört nicht hierher.“

Lyra trat näher. „Die Mutter?“

Elinor nickte. „Sie schläft nicht. Sie… horcht.“

In dieser Nacht kam der Traum wieder, klarer als zuvor. Lyra stand in einem endlosen Wurzelwald, das Licht grün und schwer. Vor ihr öffnete sich der Boden, und aus der Tiefe stieg ein schwacher, pulsierender Schein.

„Du hast mich gebunden, Kind,“ flüsterte die Stimme, „aber du hast mich nicht besiegt. Ich bin in dir. Und wenn du fällst, fällt Myrth.“

Lyra wollte antworten, doch ihre Stimme war fort. Sie blickte an sich hinab – und sah, dass feine, grüne Fäden aus ihren Händen wuchsen, sich um ihre Arme wanden, langsam, unaufhaltsam.

Sie erwachte mit einem Schrei.

Und diesmal wusste sie: Das war kein Traum. Es war eine Warnung.

Kapitel 2 – Die Risse im Siegel
Der Morgen begann mit einem Ruf aus dem Großen Pilzdom. Lyra war noch nicht einmal aus der Rüstung des Vortages geschlüpft, als ein junger Bote vor ihrer Tür stand, das Gesicht bleich.

„Majestät… Elinor bittet Euch. Sofort.“

Der Dom war still, als Lyra eintrat. Kein Gesang, kein Summen der Wurzeln – nur das leise Tropfen von Wasser irgendwo in der Ferne. Elinor kniete vor dem zentralen Siegelkreis, ihre Hände über den Runen schwebend.

„Was ist geschehen?“ fragte Lyra, während sie näher trat.

„Sieh selbst.“

Lyra beugte sich hinab. Die Runen, die in den Stein eingelassen waren, glühten schwach – doch zwischen ihnen zogen sich feine, dunkle Linien, wie Haarrisse in Glas.

„Das war gestern noch nicht so,“ sagte Elinor. „Ich habe die Siegel nach dem Ritual geprüft. Sie waren rein. Jetzt…“ Sie legte die Hand auf den Stein. „Jetzt fließt etwas hindurch. Etwas, das nicht hier sein sollte.“

Lyra spürte es sofort – ein kaum wahrnehmbares Pulsieren, wie ein Herzschlag, der nicht zu Myrth gehörte.

„Die Mutter,“ flüsterte sie.

Elinor nickte. „Sie sucht nach Schwachstellen. Und sie hat eine gefunden.“

Volun trat aus dem Schatten. „Ich habe die Ameisenwächter in den unteren Tunneln verstärkt. Aber wenn die Risse wachsen, wird keine Mauer, kein Tor sie aufhalten.“

„Wie lange?“ fragte Lyra.

Elinor zögerte. „Tage. Vielleicht Wochen. Aber nicht Monate.“

Lyra richtete sich auf. „Dann müssen wir den Ursprung finden – und ihn zerstören.“

„Das ist nicht so einfach,“ erwiderte Elinor. „Die Risse sind nicht nur hier. Ich habe Spuren derselben Störung in den alten Brunnen gefunden, in den Wurzeln unter dem Westtor… und sogar in den Wasserspeichern des Palastes.“

Lyra erinnerte sich an die grün schimmernde Tiefe der Zisternen, an das Wispern, das sie dort gespürt hatte.

„Sie ist überall,“ sagte sie leise. „Und sie wartet nur darauf, dass wir glauben, wir hätten gewonnen.“

In diesem Moment bebte der Boden leicht. Es war kein Erdbeben – es war ein Atemzug. Die Runen flackerten, und für einen Herzschlag lang schien das Wispern direkt aus dem Stein zu kommen.

„Ich bin geduldig.“

Lyra ballte die Fäuste. „Dann werden wir schneller sein.“

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie: Die Zeit arbeitete nicht für sie.

Kapitel 3 – Der Rat der Überlebenden
Der Große Pilzdom war noch gezeichnet von der Schlacht. Brandspuren zogen sich über die Wände, und der Stamm des uralten Pilzes trug dunkle Narben, wo die Saat versucht hatte, ihn zu infizieren. Doch heute war er nicht Ort des Kampfes, sondern des Rates.

Lyra betrat den Kreis der Gesandten. Menschen, Elfen, Ameisenkrieger – alle waren gekommen, um über die Zukunft zu entscheiden. Der Herzstein lag auf einem niedrigen Podest in der Mitte, eingehüllt in ein Tuch aus gewebtem Silberfaden.

Elinor eröffnete die Versammlung. „Wir stehen an einem Scheideweg. Der Herzstein hat uns gerettet – aber er ist auch ein Leuchtfeuer für die Saat. Solange er existiert, wird sie uns suchen.“

„Dann zerstören wir ihn,“ sagte Graf Renald, der menschliche Gesandte, ohne Zögern. „Schmeißt ihn in die Lavagründe, wo er herkam.“

Volun schüttelte den Kopf. „Ohne den Stein hätten wir keine Chance gehabt. Wenn die Saat zurückkehrt – und sie wird zurückkehren – brauchen wir ihn.“

„Und wenn er sie anzieht?“ entgegnete Renald. „Vielleicht ist es besser, wenn wir die Gefahr ganz beseitigen.“

Lyra schwieg zunächst, beobachtete die Gesichter. Sie sah Angst, aber auch Misstrauen. Die Schlacht hatte sie geeint, doch der Frieden begann, alte Gräben wieder freizulegen.

„Es gibt noch etwas,“ sagte Elinor schließlich. „Die Risse im Siegel. Sie wachsen. Wenn wir nichts tun, wird die Mutter bald wieder frei sein – mit oder ohne Herzstein.“

Ein Murmeln ging durch den Saal.

„Und was schlagt Ihr vor?“ fragte eine Elfenbotin.

„Wir müssen den Ursprung der Risse finden,“ antwortete Elinor. „Das bedeutet, wir müssen tiefer gehen als je zuvor – in den Wurzelgrund, vielleicht sogar ins Schattenland.“

Renald lachte bitter. „Also in den Tod marschieren, um ein paar Linien im Stein zu flicken?“

„Um Myrth zu retten,“ erwiderte Volun scharf.

Lyra trat vor. „Genug. Wir können uns nicht leisten, uns zu zerstreiten. Der Herzstein bleibt – vorerst. Aber wir werden eine kleine Gruppe entsenden, um den Ursprung der Risse zu finden. Wer mitgeht, muss wissen: Es gibt keine Garantie für eine Rückkehr.“

Stille. Dann trat Volun vor. „Ich gehe.“

Elinor folgte. „Ich auch.“

Seril trat an Lyras Seite. „Und ich lasse dich nicht allein gehen.“

Renald schwieg, doch sein Blick verriet, dass er mit der Entscheidung nicht einverstanden war.

Als der Rat vertagt wurde, blieb Lyra noch einen Moment allein beim Herzstein. Sie legte die Hand auf das Tuch – und spürte für einen Augenblick wieder das leise Pulsieren.

„Du wirst mich brauchen,“ flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren.

Sie zog die Hand zurück.

Der Weg war gewählt. Und er führte tiefer, als sie je gegangen war.

Kapitel 4 – Tarakar im Schatten
Der Regen fiel in feinen, kalten Fäden auf die Mauern von Myrth, als Lyra spät in der Nacht den inneren Hof überquerte. Sie wollte gerade in ihre Gemächer zurückkehren, als eine Wache aus dem Schatten trat.

„Majestät… es gibt jemanden, der Euch sehen will. Er kam allein. Und… Ihr solltet ihn selbst sehen.“

Lyra folgte der Wache durch einen schmalen Gang, hinunter in die alten Lagerräume unter dem Palast. Dort, im schwachen Licht einer einzelnen Sporenlaterne, stand eine Gestalt – groß, schwer gepanzert, der Panzer von tiefen Rissen durchzogen, aus denen ein fahles, grünliches Glimmen sickerte.

„Tarakar…“

Er hob den Kopf. Seine Augen waren wie glühende Kohlen, doch in ihnen lag etwas, das Lyra nicht erwartet hatte: Müdigkeit.

„Ich habe den Kern gesehen,“ sagte er ohne Begrüßung. Seine Stimme war rau, als hätte er tagelang nicht gesprochen. „Er lebt. Und er wächst.“

Lyra trat näher, doch Seril, der ihr gefolgt war, stellte sich schützend zwischen sie und Tarakar. „Du hast uns verraten. Warum sollten wir dir glauben?“

Tarakar lachte leise, ein Laut ohne Freude. „Weil ich der Einzige bin, der weiß, wo er ist. Und weil er bald nicht mehr dort sein wird.“

„Was meinst du?“ fragte Lyra.

„Die Mutter hat einen letzten Kern,“ erklärte Tarakar. „Er liegt tief im Schattenland, dort, wo selbst die Saat nur zögernd wächst. Aber er ist nicht untätig – er sendet Ausläufer, sucht nach einem Weg, das Siegel zu umgehen. Wenn er es schafft, wird euer Bann nichts mehr bedeuten.“

Lyra musterte ihn. „Warum kommst du zu uns? Wenn du wirklich Teil der Saat bist, wie viele glauben, warum warnst du uns?“

Tarakar senkte den Blick. „Weil ich gesehen habe, was sie will. Und weil ich…“ Er stockte. „…weil ich nicht will, dass Myrth so endet.“

Seril knurrte. „Und was verlangst du im Gegenzug?“

„Nichts,“ sagte Tarakar. „Nur, dass ihr zuhört. Der Weg zum Kern ist nicht auf euren Karten. Er führt durch Orte, die ihr nicht kennt – und nicht kennen wollt. Ohne mich werdet ihr ihn nie finden.“

Lyra spürte, dass er die Wahrheit sagte – oder zumindest einen Teil davon. Doch sie wusste auch, dass Tarakar ein Spieler war, der immer mehrere Züge voraus dachte.

„Wenn du uns führst,“ sagte sie schließlich, „dann unter meinen Bedingungen. Du gehst keinen Schritt allein. Und wenn du uns verrätst…“

„Dann bin ich tot, bevor ich den nächsten Atemzug nehme,“ beendete Tarakar den Satz und lächelte schwach. „Einverstanden.“

Als er ging, blieb der Geruch von feuchtem Erdreich und etwas Metallischem zurück. Lyra stand lange still, den Blick auf die Tür gerichtet, durch die er verschwunden war.

Sie wusste: Mit Tarakars Rückkehr hatte sich alles verändert. Der Weg ins Schattenland war nun nicht mehr nur eine Möglichkeit – er war unvermeidlich.

Kapitel 5 – Der Pfad ins Schattenland
Der Morgen des Aufbruchs war grau und still. Kein Vogel sang, kein Wind bewegte die Fahnen auf den Mauern von Myrth. Es war, als hielte die Stadt den Atem an.

Lyra stand am Osttor, den Blick auf die Nebel gerichtet, die wie eine Mauer vor den fernen Hügeln hingen. Neben ihr warteten Seril, Elinor, Volun – und Tarakar, dessen gepanzerte Gestalt wie ein dunkler Schatten wirkte. Hinter ihnen eine kleine Gruppe ausgewählter Krieger: Menschen, Elfen, Ameisenkrieger. Jeder wusste, dass dies keine Reise war, von der alle zurückkehren würden.

„Der Weg ins Schattenland beginnt nicht auf euren Karten,“ sagte Tarakar, als sie das Tor passierten. „Er beginnt dort, wo selbst die Wurzeln der Alten Wälder aufhören zu wachsen.“

Die ersten Stunden führten sie durch vertrautes Land – Felder, die nach der Schlacht brachlagen, Wälder, in denen das Sporenlicht noch warm glühte. Doch je weiter sie gingen, desto kälter wurde die Luft, und das Licht nahm einen fahlen, grünlich-grauen Ton an.

Am Rand der Alten Wälder hielten sie an. Vor ihnen lag ein schmaler Pfad, der zwischen uralten, verdrehten Bäumen hindurchführte. Kein Blatt bewegte sich, kein Insekt summte.

„Von hier an,“ sagte Tarakar, „gibt es kein Zurück, bis wir den anderen Ausgang erreichen.“

Elinor legte die Hand auf den Stamm eines Baumes. „Diese Bäume… sie leben, aber sie schlafen. Tief. Und sie träumen von Dingen, die nicht aus dieser Welt sind.“

Der Pfad wurde schmaler, die Wurzeln unter ihren Füßen glitschig. Nebel kroch zwischen den Stämmen, und manchmal glaubte Lyra, darin Gesichter zu sehen – flüchtig, wie Spiegelungen im Wasser.

„Täuschungen,“ murmelte Tarakar. „Das Schattenland prüft dich, bevor es dich verschlingt.“

Nach Stunden erreichten sie eine Senke, in deren Mitte ein schwarzer Stein stand, hoch wie ein Turm, von Rissen durchzogen, aus denen ein schwaches, grünes Glimmen drang.

Volun trat näher. „Das ist ein Grenzstein. Die Alten Ameisenstämme setzten ihn, um uns zu warnen. Dahinter beginnt das Land der Stummen.“

„Die Stummen?“ fragte Seril.

„Die, die die Saat genommen hat, ohne sie zu töten,“ antwortete Volun. „Sie leben – aber ohne Stimme, ohne Willen.“

Lyra spürte, wie sich etwas in der Luft veränderte, als sie den Stein passierten. Der Nebel wurde dichter, und das Wispern, das sie seit Wochen verfolgte, war nun klarer – nicht mehr nur eine Stimme, sondern viele, die durcheinander flüsterten.

„Kommt… tiefer… wir warten…“

Sie zog den Mantel enger um sich. Der Pfad ins Schattenland hatte begonnen – und er führte nicht nur in eine fremde Welt, sondern direkt in den Atem der Mutter.

Kapitel 6 – Die Stadt der Stummen
Der Nebel lichtete sich nur langsam, als die Gruppe den Grenzstein hinter sich ließ. Der Pfad führte in ein Tal, das von schiefen, grauen Mauern gesäumt war. Häuser aus uraltem Stein, deren Dächer eingestürzt waren, standen wie leere Schädel in der Landschaft. Kein Laut war zu hören – nicht einmal das Rascheln von Blättern oder das Zirpen von Insekten.

„Willkommen in der Stadt der Stummen,“ sagte Volun leise. „Hier lebten einst die Grenzwächter der Alten Pfade. Bis die Saat kam.“

Lyra spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Luft war schwer, als würde sie durch unsichtbare Fäden gezogen. Jeder Schritt hallte zu laut, als ob der Boden selbst zuhörte.

Sie gingen tiefer in die Stadt. In den Schatten der Häuser standen Gestalten – Menschen, Elfen, Ameisenkrieger. Ihre Körper waren aufrecht, ihre Augen offen, doch sie bewegten sich nicht.

„Sind sie… tot?“ flüsterte Seril.

„Nein,“ antwortete Tarakar. „Sie leben. Aber die Saat hat ihnen die Stimme genommen – und den Willen. Sie sind nur noch Hüllen.“

Lyra trat vorsichtig näher zu einer Frau, deren Gesicht von feinen, grünen Adern durchzogen war. Ihre Pupillen waren trüb, doch als Lyra die Hand hob, folgten die Augen ihrer Bewegung. Kein Laut, kein Zucken der Lippen – nur dieser stumme Blick.

„Sie hören uns,“ sagte Elinor. „Vielleicht verstehen sie uns sogar. Aber sie können nicht antworten.“

Plötzlich bewegte sich etwas am Ende der Straße. Eine kleine Gestalt trat aus dem Nebel – ein Kind, nicht älter als acht Jahre. Es trug zerrissene Kleidung, die Füße waren nackt. Anders als die anderen Stummen bewegte es sich frei, doch als es den Mund öffnete, kam kein Laut heraus.

Lyra kniete sich hin. „Wir tun dir nichts.“

Das Kind trat näher, legte eine Hand auf ihre Stirn – und in diesem Moment fluteten Bilder in Lyras Kopf: ein gewaltiger, pulsierender Kern tief unter der Erde, Ranken, die sich durch Stein und Wurzeln fraßen, und das Auge der Mutter, das alles sah.

Lyra keuchte und wich zurück. Das Kind sah sie an, als wüsste es, dass sie verstanden hatte.

„Es zeigt dir den Weg,“ sagte Tarakar. „Zum Kern.“

Doch bevor Lyra antworten konnte, begann der Nebel sich zu bewegen – nicht vom Wind, sondern als würde er von etwas Großem verdrängt. Aus den Gassen krochen Saatwesen, ihre Körper halb aus Fleisch, halb aus Wurzelgeflecht.

„Wir müssen hier raus!“ rief Seril.

Volun packte das Kind, Elinor zog Lyra auf die Beine, und sie rannten, während hinter ihnen die Stummen reglos blieben – als wären sie nur Zuschauer in einem Spiel, dessen Ausgang längst entschieden war.

Kapitel 7 – Das Kind ohne Stimme
Sie hatten die Stadt der Stummen hinter sich gelassen, doch der Nebel wich nicht. Er kroch zwischen den Bäumen, legte sich wie kalter Atem auf Haut und Rüstung. Das Kind ging nun zwischen Lyra und Volun, barfuß, den Blick starr nach vorn gerichtet. Kein Laut kam über seine Lippen, und doch war seine Präsenz wie ein ständiger Druck in der Luft.

„Es ist nicht normal,“ murmelte Seril, während er den Blick nicht von ihm abwandte. „Kein Kind sollte so still sein.“

„Es ist nicht stumm,“ widersprach Elinor leise. „Es spricht – nur nicht mit dem Mund.“

Lyra wusste, was sie meinte. Seit der Berührung in der Stadt spürte sie den fremden Faden in ihrem Geist. Immer wieder flackerten Bilder auf: ein gewaltiger, pulsierender Kern, umgeben von Ranken, die sich durch Fels und Wurzel fraßen; ein Licht, das zugleich Leben und Verderben war; und das Auge der Mutter, das alles sah.

Am Abend schlugen sie ein Lager auf, geschützt von einer halb eingestürzten Wurzelhöhle. Das Kind saß am Feuer, starrte in die Flammen, ohne zu blinzeln.

„Was will es von uns?“ fragte Volun.

„Es zeigt uns den Weg,“ sagte Lyra. „Zum Kern.“

„Oder es führt uns in eine Falle,“ warf Seril ein.

Tarakar, der bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf. „Beides kann wahr sein. Die Mutter ist nicht dumm. Sie weiß, dass ihr kommen würdet. Vielleicht will sie, dass ihr kommt.“

„Warum?“ fragte Elinor.

„Weil sie glaubt, euch brechen zu können – dort, wo sie am stärksten ist.“

In dieser Nacht träumte Lyra wieder. Sie stand in einem endlosen Tunnel aus Wurzeln, das Kind an ihrer Seite. Es zeigte nach vorn, und in der Ferne glomm das grüne Licht des Kerns. Doch als sie näher kam, veränderte sich das Kind. Seine Augen wurden schwarz, seine Haut von feinen Rissen durchzogen, aus denen Sporen quollen.

„Du kannst mich nicht retten,“ flüsterte es in ihrem Kopf. „Aber ich kann dich zu ihr bringen.“

Lyra erwachte mit einem Ruck. Das Kind schlief neben dem Feuer, friedlich, als wäre nichts geschehen.

Am nächsten Morgen setzten sie den Weg fort. Das Kind führte sie sicher durch Gebiete, in denen der Nebel so dicht war, dass man die eigene Hand kaum sehen konnte. Es wich den Saatwesen aus, als wüsste es genau, wo sie lauerten.

Doch je tiefer sie gingen, desto stärker wurde das Wispern in Lyras Kopf. Es war nicht mehr nur die Stimme der Mutter – es waren viele Stimmen, flüsternd, lockend, drohend.

Und Lyra begann zu ahnen: Das Kind war nicht nur ein Führer. Es war ein Schlüssel. Und Schlüssel konnten Türen öffnen – oder sie für immer verschließen.

Kapitel 8 – Der Fluss aus Asche
Der Nebel begann sich zu lichten, als der Boden unter ihren Füßen fester wurde. Der Geruch von feuchter Erde wich einem trockenen, beißenden Duft, der in der Kehle kratzte. Vor ihnen öffnete sich das Tal – und darin floss ein Fluss, schwarz wie Tinte, träge und schwer, als würde er nicht aus Wasser, sondern aus geschmolzener Nacht bestehen.

„Das ist er,“ sagte Tarakar leise. „Der Fluss aus Asche.“

Lyra trat an das Ufer. Die Oberfläche des Flusses war glatt, doch hin und wieder stiegen Blasen auf, platzten mit einem leisen Zischen und setzten einen Geruch frei, der an verbranntes Holz erinnerte. Kein Grashalm wuchs am Ufer, keine Wurzel reichte ins Wasser.

„Hier wächst die Saat nicht,“ stellte Volun fest. „Nicht einmal ihre Sporen wagen sich heran.“

Sie folgten dem Flusslauf, während das Kind ohne Stimme vorausging. Es schien den Weg zu kennen, hielt sich aber stets in sicherer Entfernung vom Wasser.

„Warum meidet sie diesen Ort?“ fragte Seril.

Tarakar blieb stehen, blickte auf den Fluss. „Weil er älter ist als sie. Tiefer. Er stammt aus einer Zeit, bevor Myrth grün war. Das Wasser trägt die Asche der Ersten Feuer – der Flammen, die die Welt formten. Für die Saat ist es Gift.“

Elinor kniete am Ufer, tauchte vorsichtig die Fingerspitzen in das schwarze Wasser – und zog sie sofort wieder zurück. „Es brennt,“ sagte sie. „Nicht wie Feuer, sondern… wie Erinnerung.“

Lyra sah sie fragend an.

„Es zeigt dir Bilder,“ erklärte Elinor. „Von dem, was war – und von dem, was hätte sein können.“

Als die Nacht hereinbrach, schlugen sie ihr Lager am Ufer auf. Das Feuer knisterte, doch der Fluss rauschte nicht – er floss lautlos, als würde er sich weigern, mit der Welt zu sprechen.

Lyra konnte nicht schlafen. Sie ging ans Ufer, kniete nieder und starrte in die Tiefe. Zuerst sah sie nur Dunkelheit. Dann, langsam, formten sich Bilder: Myrth, wie es vor der Saat gewesen war – endlose Wälder, klare Flüsse, Städte aus hellem Stein. Und dann… ein anderes Bild: Myrth, überwuchert, jede Mauer von Wurzeln zerdrückt, jeder Atemzug voller Sporen.

„Das ist, was kommt,“ sagte eine Stimme hinter ihr. Tarakar. „Wenn wir scheitern.“

„Und wenn wir gewinnen?“ fragte Lyra.

Er schwieg lange. „Dann wird Myrth leben. Aber nicht wir.“

Am Morgen führte das Kind sie zu einer schmalen Furt, wo der Fluss flacher war. Das Wasser dampfte, und jeder Schritt durch die Strömung brannte auf der Haut wie kaltes Feuer.

Als sie das andere Ufer erreichten, blieb Lyra stehen und blickte zurück. Der Fluss aus Asche lag still hinter ihnen – eine Grenze, die sie nicht mehr zurückgehen ließ.

Vor ihnen begann das Herz des Schattenlands.

Kapitel 9 – Die Wahrheit der Urahnin
Die Nacht nach der Überquerung des Flusses aus Asche war ungewöhnlich still. Kein Wispern, kein Rascheln, nur das leise Knistern des Feuers. Lyra saß abseits der anderen, den Blick auf den Herzstein gerichtet, der in einem Tuch neben ihr lag.

Seit Tagen hatte sie gespürt, dass etwas in ihr drängte – nicht die Stimme der Mutter, sondern ein anderer Ruf, älter, tiefer. Schließlich schloss sie die Augen und legte beide Hände auf den Stein.

Die Welt um sie herum verblasste.

Sie stand in einer endlosen Weite aus goldenem Licht. Vor ihr erhob sich eine Gestalt aus Wurzeln, Blättern und schimmerndem Wasser – die Urahnin. Ihre Augen waren wie zwei Monde, und ihre Stimme war zugleich Wind, Wasser und Erde.

„Du bist weit gekommen, Kind von Myrth,“ sagte sie. „Doch du kennst nicht die ganze Wahrheit.“

„Zeig sie mir,“ bat Lyra.

Die Urahnin hob die Hand, und das Licht wandelte sich zu Bildern: Myrth, jung und unberührt, geboren aus einem Samen, den die Urahnin selbst in die Leere gesetzt hatte. Aus diesem Samen wuchsen Wälder, Flüsse, Berge – und Leben.

„Doch in jedem Samen liegt auch sein Schatten,“ fuhr die Urahnin fort. „Die Saat ist nicht von außen gekommen. Sie ist dein Spiegel. Sie ist das, was aus dem Samen wächst, wenn er sich selbst vergisst.“

Lyra wich zurück. „Du meinst… die Mutter ist Teil von Myrth?“

„Ja. Sie ist die andere Seite der Urkraft. Wo ich Leben schenke, nimmt sie es, um es in sich zu binden. Wir sind Zwillinge – und nur zusammen sind wir vollständig.“

Lyra spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Dann kann sie nicht vernichtet werden.“

„Nicht, ohne Myrth selbst zu zerstören,“ bestätigte die Urahnin. „Aber sie kann gebunden werden – für immer. Doch der Preis ist hoch.“

„Welcher Preis?“

Die Urahnin sah sie lange an. „Ein Wächter. Jemand, der den Kern berührt und dort bleibt, bis die Zeit endet. Nur so kann das Gleichgewicht gewahrt werden.“

Lyra wusste, dass sie die Antwort bereits kannte.

Das Licht begann zu verblassen, und die Stimme der Urahnin wurde leiser. „Du musst wählen, Kind. Bald. Denn der Kern erwacht, und er wird dich rufen.“

Lyra öffnete die Augen. Das Feuer war heruntergebrannt, die anderen schliefen – bis auf das Kind ohne Stimme, das sie aus der Dunkelheit ansah.

Es trat näher, legte eine Hand auf ihr Knie – und in ihrem Kopf erklang ein einziger, klarer Gedanke:

„Du bist der Schlüssel.“

Kapitel 10 – Der Verrat
Der Morgen begann wie jeder andere seit dem Fluss aus Asche: Nebel, Stille, das leise Knirschen von Schritten auf feuchtem Boden. Die Gruppe bewegte sich in einer schmalen Schlucht, deren Wände von dunklen Wurzeln durchzogen waren. Das Kind ohne Stimme ging voraus, Tarakar dicht dahinter.

Lyra trug den Herzstein in einer ledernen Tasche an ihrer Seite. Seit der Vision der Urahnin fühlte er sich schwerer an, als würde er ahnen, was bevorstand.

Am Abend schlugen sie ihr Lager in einer windgeschützten Senke auf. Das Feuer brannte schwach, und die Gespräche waren leise. Seril übernahm die erste Wache, während Lyra sich in ihren Umhang hüllte.

Irgendwann in der Nacht erwachte sie – nicht durch ein Geräusch, sondern durch das plötzliche Fehlen von etwas. Ihre Hand tastete instinktiv zur Seite. Die Tasche war leer.

„Seril?“ rief sie leise. Keine Antwort.

Sie sprang auf. Elinor und Volun waren sofort wach, Tarakar richtete sich langsam auf. „Was ist los?“

„Der Herzstein ist weg.“

Sie folgten den Spuren im feuchten Boden – hastige Schritte, die den Hang hinaufführten. Der Nebel verschluckte jede Sicht über wenige Meter hinaus.

„Wer?“ fragte Volun.

Lyra wusste es, noch bevor sie es aussprach. „Renald.“

Der menschliche Gesandte war nicht offiziell Teil der Expedition gewesen, doch er hatte sich ihnen am Rand des Schattenlands angeschlossen, mit der Begründung, er wolle „die Interessen Myrths vertreten“. Sie hatte ihm nicht getraut – und nun wusste sie, warum.

Die Spuren führten zu einem schmalen Pfad, der zwischen zwei Felswänden hindurchging. Dort, im schwachen Licht, sahen sie ihn: Renald, den Herzstein in beiden Händen, das Gesicht verzerrt von einer Mischung aus Angst und Entschlossenheit.

„Bleibt zurück!“ rief er. „Ich bringe ihn dorthin, wo er niemandem mehr schadet!“

„Du weißt nicht, was du tust,“ sagte Lyra und trat vorsichtig näher. „Ohne den Stein können wir den Kern nicht binden.“

„Ohne den Stein wird es keinen Kern geben!“ schrie Renald. „Ich habe gesehen, was er mit euch macht. Er frisst euch von innen auf. Ich werde ihn zerstören – selbst wenn ich dafür sterben muss.“

Plötzlich bebte der Boden. Aus den Felswänden brachen Ranken hervor, dick wie Schlangen, und griffen nach Renald. Er schrie, ließ den Stein fallen – und eine der Ranken schnappte ihn im Flug.

Lyra rannte vor, doch Tarakar war schneller. Mit einem einzigen Sprung packte er den Herzstein, rollte sich ab und landete neben ihr.

Renald jedoch verschwand im Nebel, gezogen von den Ranken, sein Schrei hallte noch lange nach.

Lyra hielt den Herzstein fest an sich gedrückt. Er war warm – zu warm.

„Sie weiß, dass wir kommen,“ sagte Tarakar. „Und jetzt weiß sie, dass wir Angst haben.“

Lyra blickte in den Nebel, wo Renald verschwunden war. Sie wusste: Der Verrat hatte die Mutter gewarnt. Und der Weg zum Kern würde nun noch gefährlicher sein.

Kapitel 11 – Jagd durch den Wurzelgrund
Der Nebel hatte sich verdichtet, seit Renald im Griff der Ranken verschwunden war. Die Luft war feucht und schwer, und jeder Atemzug schmeckte nach Erde. Das Kind ohne Stimme stand still, den Kopf leicht geneigt, als würde es auf etwas lauschen, das nur es hören konnte.

„Er lebt noch,“ sagte Elinor leise. „Ich spüre ihn – schwach, aber er ist da.“

„Dann holen wir ihn zurück,“ knurrte Seril.

Tarakar schüttelte den Kopf. „Er ist nicht mehr derselbe. Die Mutter hat ihn berührt. Wenn wir ihm folgen, folgen wir auch ihr.“

„Wir haben keine Wahl,“ entgegnete Lyra. „Er hat den Weg zum Kern gesehen. Wenn sie ihn behält, weiß sie alles, was er weiß.“

Der Wurzelgrund begann dort, wo der Boden aufriss und zu einem Gewirr aus ineinander verschlungenen Wurzeln wurde, dick wie Säulen, dünn wie Sehnen. Manche waren tot und grau, andere lebendig, pulsierend, als flösse Blut durch sie.

Kaum hatten sie den ersten Schritt hineingesetzt, veränderte sich der Pfad. Wurzeln verschoben sich, wuchsen in Sekunden, schlossen Wege und öffneten neue.

„Es lebt,“ murmelte Volun. „Der ganze Boden lebt.“

Das Kind ging voran, sicher, als würde es den Rhythmus des Wurzelgrunds kennen. Doch Lyra spürte, dass sie tiefer hineingezogen wurden, als gut war.

Plötzlich hallte ein Schrei durch das Gewirr – Renalds Stimme, verzerrt, aber eindeutig.

„Dort!“ rief Seril und stürmte los.

Lyra folgte, doch der Weg vor ihnen schloss sich wie ein Maul. Wurzeln schossen aus dem Boden, wanden sich umeinander und bildeten eine Wand.

„Sie spielt mit uns,“ sagte Tarakar. „Sie will, dass wir uns verirren.“

„Dann reißen wir uns den Weg frei,“ fauchte Seril und hieb mit dem Schwert auf die Wurzeln ein. Doch jeder Schnitt schloss sich fast sofort wieder, als würde das Holz atmen.

Das Kind ohne Stimme trat vor, legte beide Hände auf die Wand – und die Wurzeln wichen zurück, langsam, widerwillig. Dahinter öffnete sich ein schmaler Gang, der in ein schwaches grünes Leuchten führte.

„Das ist eine Einladung,“ sagte Tarakar. „Und Einladungen von ihr enden selten gut.“

„Wir gehen trotzdem,“ entschied Lyra.

Der Gang führte in eine weite Kammer, deren Wände aus lebendigem Wurzelgeflecht bestanden. In der Mitte kniete Renald, den Blick leer, den Herzschlag kaum spürbar. Feine Ranken wuchsen aus seinem Rücken in den Boden.

„Renald!“ rief Lyra.

Sein Kopf drehte sich langsam zu ihr. Ein Lächeln, das nicht zu ihm gehörte, breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Sie wartet auf dich.“

Kapitel 12 – Das Herz des Feindes
Renald kniete noch immer in der Mitte der Kammer, die Ranken tief in seinen Rücken gebohrt. Sein Blick war leer, doch in der Tiefe seiner Augen glomm ein schwaches, grünes Licht.

Lyra wollte zu ihm, doch das Kind ohne Stimme hielt sie zurück. Es zeigte nach vorn – und erst da bemerkte sie, dass die Kammer nicht das Ende war. Hinter Renald öffnete sich ein Tunnel, aus dem ein pulsierendes Leuchten drang.

„Das ist er,“ flüsterte Tarakar. „Der Kern.“

Sie traten näher, und der Tunnel führte in eine gewaltige Höhle, so groß, dass ihre Decke im Dunkel verschwand. In der Mitte schwebte – oder wuchs – eine Sphäre aus Wurzelgeflecht, durchzogen von Adern aus grünem Licht. Sie pulsierte im Rhythmus eines Herzschlags, und bei jedem Schlag schien der Boden unter ihnen mitzuvibrieren.

Das Wispern, das Lyra seit Wochen verfolgte, war hier kein Wispern mehr. Es war ein Chor, vielstimmig, überwältigend, der in ihrem Kopf und in ihrer Brust zugleich sprach.

„Willkommen, Kind. Du bist weit gekommen.“

Lyra spürte, wie der Herzstein in ihrer Tasche heiß wurde.

„Das ist nicht nur ein Kern,“ sagte Elinor leise. „Es ist… ein Herz. Ein Herz, das Myrth und die Saat zugleich schlägt.“

Plötzlich bewegte sich die Sphäre. Aus ihrem Gewebe lösten sich Ranken, die wie Finger nach ihnen griffen. Tarakar trat vor, seine Klingen blitzten, als er die ersten Angriffe abwehrte.

„Sie will uns nicht töten,“ rief er. „Noch nicht. Sie will uns sehen.“

Lyra trat vor, den Herzstein in den Händen. Das Licht des Steins und das Licht des Kerns begannen, sich aufeinander zuzubewegen, als würden sie sich erkennen.

„Du trägst mich,“ sagte die Stimme in ihrem Kopf. „Und ich trage dich.“

Bilder fluteten Lyras Geist: Myrth, wie es war, bevor die Saat erwachte; Myrth, wie es sein könnte, wenn sie sich vereinten – eine Welt ohne Krieg, ohne Hunger, aber auch ohne freien Willen.

„Das ist ihre Verlockung,“ murmelte Elinor. „Sie zeigt dir, was du dir am meisten wünschst.“

Lyra riss den Blick los. „Wir sind nicht hier, um uns zu vereinen. Wir sind hier, um dich zu binden.“

Das Herz begann schneller zu schlagen. Die Höhle erzitterte, und aus den Wänden brachen Saatwesen, ihre Körper von der Energie des Kerns erfüllt.

„Dann wirst du kämpfen müssen,“ sagte die Stimme – und die Höhle wurde zum Schlachtfeld.

Kapitel 13 – Das Angebot
Der Kampf tobte noch um sie, Saatwesen stürzten sich aus den Wänden der Höhle, doch Lyra nahm sie kaum wahr. Das Wispern war zu einer einzigen, klaren Stimme geworden – warm, verführerisch, so nah, als stünde jemand direkt hinter ihr.

„Genug des Kämpfens, Kind. Du bist müde. Du bist verletzt. Und du weißt, dass du mich nicht vernichten kannst.“

Lyra spürte, wie der Herzstein in ihren Händen pulsierte, im gleichen Rhythmus wie der Kern vor ihr. Das Licht beider verschmolz, bis sie nicht mehr sagen konnte, wo das eine endete und das andere begann.

„Sprich,“ sagte sie in Gedanken.

Die Stimme der Mutter war wie ein Strom, der durch sie floss. „Ich biete dir Frieden. Myrth wird leben. Keine Kriege mehr, keine Hungersnöte, keine Angst. Ich werde alles heilen – und du wirst an meiner Seite herrschen. Nicht als Gefangene, sondern als Teil von mir.“

Bilder fluteten ihren Geist: Myrth in voller Blüte, Kinder, die in sicheren Straßen spielten, Felder, die niemals verdorrten. Sie sah Seril lachen, Elinor in einer Halle voller Licht, Volun, dessen Volk in endlosen Gängen ohne Feinde lebte.

„Und der Preis?“ fragte Lyra.

„Nur du. Dein Wille, dein Herz. Du wirst nicht sterben – du wirst größer werden, als du es je warst.“

„Lügnerin,“ zischte Tarakar, der offenbar die Verbindung spürte. „Sie zeigt dir, was du sehen willst. Aber wenn du dich ihr gibst, wird nichts davon bleiben. Nur sie.“

„Und wenn er sich irrt?“ flüsterte Elinor. „Was, wenn dies wirklich die einzige Möglichkeit ist, Myrth zu retten?“

Lyra spürte, wie die Stimmen in ihrem Kopf lauter wurden, sich überlagerten, bis sie kaum noch ihre eigenen Gedanken hören konnte.

„Du musst nicht kämpfen, Kind. Du musst nur loslassen.“

Sie schloss die Augen – und sah die Urahnin. Nicht als Vision, sondern als Erinnerung, fest und klar. „Ein Wächter,“ hatte sie gesagt. „Jemand, der den Kern berührt und dort bleibt, bis die Zeit endet.“

Lyra öffnete die Augen wieder. „Ich werde dich nicht herrschen lassen. Nicht über mich. Nicht über Myrth.“

Das Wispern verwandelte sich in ein Zischen, und die Höhle erzitterte. Die Ranken zogen sich zurück – nur um im nächsten Moment mit doppelter Wucht zuzuschlagen.

„Dann wirst du sterben,“ sagte die Stimme.

Lyra hob den Herzstein. „Vielleicht. Aber nicht allein.“

Kapitel 14 – Der letzte Kampf
Die Höhle bebte, als der Kern schneller pulsierte. Jeder Schlag sandte eine Welle aus Licht und Druck durch den Raum, die den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ. Aus den Wänden brachen neue Saatwesen hervor – größer, schneller, ihre Körper von der Energie des Kerns durchzuckt.

Lyra stand im Zentrum des Chaos, den Herzstein fest in den Händen. Das Wispern der Mutter war nun ein Schrei, der in ihrem Kopf widerhallte. „Du kannst mich nicht binden! Du bist Teil von mir!“

„Dann reiße ich mich heraus!“ rief Lyra und stürmte vor.

Seril und Volun bildeten eine schützende Front, ihre Waffen blitzten im grünen Licht, während Elinor mit uralten Bannworten die Ranken zurückdrängte. Tarakar kämpfte wie ein Sturm, seine Klingen zerschnitten Gliedmaßen aus Wurzel und Fleisch, doch er wich nie von Lyras Seite.

Das Kind ohne Stimme stand am Rand der Höhle, die Augen geschlossen, als würde es etwas Unsichtbares lenken. Überall, wo es den Blick hinwandte, zögerten die Saatwesen – nur für Sekunden, aber genug, um den Kämpfenden Luft zu verschaffen.

Lyra erreichte den Rand des Kerns. Die Hitze war unerträglich, das Licht so grell, dass ihre Augen tränten. Sie hob den Herzstein – und sofort schossen Ranken hervor, um ihn zu packen.

„Jetzt, Lyra!“ rief Elinor.

Sie rammte den Stein in das pulsierende Gewebe. Ein gellender Schrei erfüllte die Höhle, nicht aus einem Mund, sondern aus der ganzen Welt um sie herum. Das Licht des Kerns und das des Steins verschmolzen zu einem einzigen, blendenden Strahl.

Die Mutter sprach noch einmal, ihre Stimme nun nicht mehr verführerisch, sondern voller Zorn. „Wenn ich falle, fällst du mit mir!“

„Dann fallen wir zusammen,“ keuchte Lyra – und drückte den Stein tiefer.

Der Kern begann zu kollabieren. Das Gewebe zog sich zusammen, Ranken verdorrten, Saatwesen brachen in sich zusammen wie leere Hüllen. Doch die Energie, die frei wurde, war wie ein Sturm, der alles mitreißen wollte.

„Raus hier!“ brüllte Seril.

Tarakar packte Lyra am Arm, wollte sie mitziehen – doch sie riss sich los. „Geht! Ich halte es!“

„Nein!“ Seril machte einen Schritt auf sie zu, doch Tarakar hielt ihn zurück. „Sie weiß, was sie tut.“

Lyra spürte, wie der Herzstein sie in sich zog, wie ihre Hände, ihre Arme, ihr ganzer Körper zu Licht wurden. Sie sah noch einmal ihre Gefährten – Seril, Elinor, Volun, das Kind – und lächelte.

„Für Myrth.“

Dann verschwand sie im Licht.

Kapitel 15 – Tarakars Entscheidung
Das Licht des Herzsteins fraß sich in den Kern, und die Höhle bebte wie ein lebendiges Wesen in Todesqualen. Seril und Volun zogen Elinor und das Kind ohne Stimme Richtung Ausgang, während Ranken wie Peitschen durch die Luft schlugen.

Tarakar stand noch immer neben Lyra. Er sah, wie ihr Körper bereits halb im Licht verschwand, wie ihre Finger sich in den Herzstein krallten, um ihn tiefer in das pulsierende Gewebe zu treiben.

„Geh!“ rief sie ihm zu, ihre Stimme kaum noch menschlich.

Doch Tarakar rührte sich nicht. In seinen Augen blitzte etwas auf – nicht das kalte Glühen der Saat, sondern ein Funken, der an eine Zeit erinnerte, bevor er gefallen war.

Er wusste, dass Lyra den Kern binden konnte. Aber er wusste auch, dass die Mutter nicht kampflos loslassen würde. Schon jetzt sammelte sich eine Welle aus purer, zerstörerischer Energie im Herzen der Sphäre – genug, um die Höhle und alles darin zu vernichten, bevor das Siegel sich schließen konnte.

„Du brauchst mehr Zeit,“ sagte er leise.

„Tarakar, geh!“

„Nein.“

Er trat vor, packte eine der Ranken, die sich um den Herzstein wanden, und zog sie mit einer Kraft, die selbst die Mutter überraschte, von Lyra weg. Sofort schossen weitere Ranken auf ihn zu, bohrten sich in seinen Panzer, in sein Fleisch. Er schrie – nicht vor Schmerz, sondern vor Anstrengung – und zog sie tiefer in sich hinein, als wollte er sie verschlingen.

„Was tust du?“ rief Lyra.

„Ich nehme sie mit mir,“ keuchte er. „Wenn sie mich will, soll sie mich ganz haben.“

Für einen Moment sah sie ihn an – den Krieger, der einst ihr Feind gewesen war, dann ihr Verbündeter wider Willen, und nun… etwas anderes.

„Tarakar…“

Er lächelte schwach. „Sag ihnen, dass ich nicht nur ein Verräter war.“

Dann stürzte er sich in den Kern.

Das Licht explodierte. Die Mutter schrie, ein Laut, der die Luft zerriss. Tarakars Gestalt verschwand im gleißenden Strahlenmeer, und mit ihm die Welle aus Energie, die sich gegen Lyra gerichtet hatte.

„Jetzt!“ rief sie – und trieb den Herzstein bis zum Anschlag in das Herz des Feindes.

Die Sphäre brach zusammen, das Wispern verstummte, und ein Sog zog alles Dunkle in sich hinein.

Tarakar war fort. Aber sein Opfer hatte den Sieg möglich gemacht.

Kapitel 16 – Das Zerreißen
Der Moment nach Tarakars Sprung war wie das Einatmen vor einem Schrei. Alles stand still – dann brach die Welt auseinander.

Der Kern zog sich zusammen wie ein Herz in letzter Anspannung, dann riss er auf. Ein blendendes Licht schoss in alle Richtungen, begleitet von einem Laut, der nicht nur zu hören, sondern zu fühlen war – ein tiefes, vibrierendes Grollen, das durch Knochen und Blut fuhr.

Die Wände der Höhle begannen zu reißen. Wurzeln, die eben noch lebendig und pulsierend gewesen waren, verdorrten in Sekunden, zerbrachen und stürzten herab. Der Boden unter ihren Füßen bebte, als würde er gleich in die Tiefe sinken.

„Raus hier!“ brüllte Seril, während er Elinor und das Kind ohne Stimme packte. Volun riss Lyra am Arm, doch sie spürte, wie der Herzstein sie festhielt – nicht mit Ranken, sondern mit einem Sog aus Licht, der an ihrer Seele zerrte.

„Geh!“ rief sie. „Ich komme nach!“

Doch sie wusste, dass es eine Lüge war. Der Bann, den sie jetzt webte, brauchte einen Anker – und dieser Anker war sie.

Der Ausgang der Höhle lag in weiter Ferne, und der Weg dorthin war ein Chaos aus einstürzenden Wänden und herabfallenden Wurzelbögen. Seril schlug mit dem Schwert Schneisen durch das bröckelnde Gewebe, Volun trug das Kind auf den Schultern, während Elinor mit Bannworten die schlimmsten Stöße der kollabierenden Magie abfing.

Hinter ihnen wuchs das Licht zu einer gleißenden Kugel, die alles verschlang, was sie berührte.

„Schneller!“ rief Volun.

Lyra stand nun allein vor dem Kern, der sich in sich selbst stürzte. Sie spürte Tarakars Präsenz irgendwo tief darin – schwach, aber noch da.

„Halte durch,“ flüsterte sie. „Wir halten sie zusammen.“

Sie legte beide Hände auf den Herzstein, sang die Worte, die die Urahnin ihr gezeigt hatte. Das Licht floss durch sie hindurch, brannte, füllte jede Faser ihres Seins.

Der Bann schloss sich.

Am Ausgang der Höhle stolperten Seril, Volun, Elinor und das Kind ins Freie, gerade als ein letzter, ohrenbetäubender Knall die Erde erschütterte. Ein Schwall aus Licht und Staub schoss aus dem Eingang, dann brach er in sich zusammen – und Stille kehrte ein.

Sie drehten sich um. Die Höhle war verschwunden. Nur ein glatter, versiegelter Fels blieb zurück, in dem schwach das Muster eines Wurzelgeflechts glomm – und in dessen Mitte ein einzelner, ruhiger Herzschlag pochte.

Lyra war fort.

Kapitel 17 – Der Preis
Der Staub hatte sich gelegt, doch niemand rührte sich. Seril, Volun, Elinor und das Kind ohne Stimme standen vor der glatten Felswand, in der schwach das Muster eines Wurzelgeflechts glomm. In der Mitte pulsierte ein einzelner, ruhiger Herzschlag – dumpf, gleichmäßig, wie aus weiter Ferne.

„Sie ist… dort drin,“ flüsterte Elinor.

Seril trat näher, legte die Hand auf den Stein. Er war warm, fast lebendig. „Lyra…“ Seine Stimme brach.

„Der Bann ist vollständig,“ sagte Volun leise. „Die Mutter ist gebunden. Für immer.“

„Für immer,“ wiederholte Seril, und das Wort schmeckte bitter.

Das Kind ohne Stimme trat vor, legte ebenfalls die Hand auf den Stein. Für einen Augenblick flackerte das Muster heller auf, und in Serils Kopf erklang eine Stimme – nicht die der Mutter, sondern Lyras.

„Geht. Lebt. Baut Myrth wieder auf.“

Dann erlosch das Licht wieder, und nur der Herzschlag blieb.

Sie lagerten in der Nähe, zu erschöpft, um sofort den Rückweg anzutreten. Niemand sprach viel. Jeder wusste, dass es keinen Weg gab, Lyra zurückzuholen. Der Bann verlangte einen Wächter – und sie hatte sich selbst geopfert, um ihn zu erfüllen.

In der Nacht saß Seril allein am Feuer. Er dachte an die ersten Tage, an ihre Zweifel, an ihre Entschlossenheit. Er erinnerte sich an ihr Lächeln, als sie sagte: „Für Myrth.“

„Wir werden dich nicht vergessen,“ murmelte er.

Am Morgen brachen sie auf. Der Weg zurück führte sie erneut am Fluss aus Asche vorbei, durch die Stadt der Stummen, die nun noch stiller wirkte als zuvor. Die Nebel des Schattenlands wichen langsam, als wollten sie die Eindringlinge nicht länger halten.

Doch Seril wusste: Der Preis war bezahlt. Myrth war sicher – aber die Königin, die es gerettet hatte, würde nie wieder unter freiem Himmel stehen.

Und tief im versiegelten Fels schlug ein Herz, das nicht nur den Feind, sondern auch die Erinnerung an Lyra bewahrte.

Kapitel 18 – Der Schwur
Der Weg zurück nach Myrth war stiller als der Hinweg. Kein Lied, kein Gespräch, nur das gedämpfte Geräusch von Schritten auf feuchtem Boden. Die Nebel des Schattenlands lagen ihnen im Rücken, doch ihre Kälte schien noch immer in den Knochen zu sitzen.

Als sie den Fluss aus Asche erneut erreichten, hielten sie inne. Seril blickte in das schwarze Wasser, das träge unter ihnen floss. „Sie ist dort drüben geblieben,“ sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen.

„Nein,“ widersprach Elinor sanft. „Sie ist überall, wo Myrth atmet.“

Die Stadt der Stummen lag unverändert da, als sie hindurchgingen. Die reglosen Gestalten standen noch immer in den Gassen, doch diesmal schien etwas anders – ein Hauch von Bewegung in den Augen, ein kaum wahrnehmbares Zittern der Finger. Vielleicht war es nur Einbildung. Vielleicht auch nicht.

Das Kind ohne Stimme blieb an einer Kreuzung stehen, legte die Hand an eine Mauer und schloss die Augen. Für einen Moment glomm ein schwaches Licht unter seiner Haut auf, dann ging es weiter, ohne ein Wort.

Als sie endlich die Mauern von Myrth erreichten, war der Himmel klar. Die Nachricht von ihrer Rückkehr verbreitete sich schnell, und bald standen Menschen, Elfen und Ameisenkrieger auf den Straßen, um sie zu empfangen. Doch die Freude war gedämpft, als sie sahen, dass Lyra nicht bei ihnen war.

Seril trat vor die Menge. „Die Königin hat Myrth gerettet. Sie hat die Mutter gebunden – für immer. Aber sie konnte nicht zurückkehren.“

Ein Murmeln ging durch die Reihen, und viele senkten den Blick.

Am Abend versammelten sich die Überlebenden im Großen Pilzdom. In der Mitte lag der Herzstein nicht mehr – sein Platz war leer, doch an seiner Stelle stand eine schlichte Stele aus weißem Stein.

Seril legte die Hand darauf. „Wir schwören, dass ihr Opfer nicht vergebens war. Wir werden Myrth schützen, vereint, ohne die Spaltungen, die uns einst schwächten. Wir werden das Gleichgewicht wahren – zwischen Leben und Schatten.“

Elinor, Volun und selbst das Kind ohne Stimme legten ihre Hände dazu. Die Menge folgte, bis der ganze Dom erfüllt war von einem stillen, aber unerschütterlichen Versprechen.

Draußen wehte ein warmer Wind durch die Straßen. Und irgendwo tief unter der Erde, hinter einer glatten Felswand, pochte ein Herz – ruhig, beständig, im Takt mit dem Land, das es beschützte.

Kapitel 19 – Die ersten Risse
Wochen waren vergangen, seit die Überlebenden nach Myrth zurückgekehrt waren. Die Stadt atmete auf, Mauern wurden repariert, Felder neu bestellt, und das Leben kehrte langsam zurück. Doch unter der Oberfläche lag eine Spannung, die niemand laut aussprach.

Seril stand auf den Mauern und blickte gen Osten, dorthin, wo das Schattenland lag. Der Himmel war klar, doch manchmal – nur für den Bruchteil eines Herzschlags – glaubte er, einen fahlen, grünen Schimmer am Horizont zu sehen.

Im Großen Pilzdom hatte man Lyras Stele mit Blumen und Sporenlichtern geschmückt. Jeden Abend versammelten sich Menschen, Elfen und Ameisenkrieger dort, um in Stille zu wachen. Das Kind ohne Stimme kam oft, legte die Hand auf den Stein und verharrte minutenlang, als lausche es auf etwas, das nur es hören konnte.

Eines Abends, als der Dom fast leer war, flackerte das Wurzelmuster auf der Stele kurz auf – kaum sichtbar, aber deutlich genug, dass Elinor es bemerkte. Sie legte die Hand darauf und spürte einen schwachen Puls. Nicht den ruhigen, gleichmäßigen Schlag, den sie seit Wochen kannte – sondern einen unregelmäßigen, wie ein Herz, das aus dem Takt gerät.

Zur gleichen Zeit, weit im Osten, in der Stadt der Stummen, öffnete eine der reglosen Gestalten langsam den Mund. Kein Laut kam heraus, doch ihre Augen leuchteten für einen Moment in einem tiefen, giftigen Grün.

Im Fluss aus Asche stiegen Blasen auf, größer als je zuvor, und platzten mit einem Zischen, das wie ein fernes Flüstern klang.

Seril suchte Elinor noch in derselben Nacht auf. „Sag es mir,“ forderte er.

Sie zögerte. „Der Bann… er hält. Aber er ist nicht unantastbar. Vielleicht war er das nie.“

„Wie lange?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht Jahre. Vielleicht nur Monate.“

Am nächsten Morgen trat das Kind ohne Stimme zu Seril. Es sprach nicht – doch in seinem Blick lag eine Botschaft, die er verstand, ohne Worte zu brauchen:

„Es beginnt von Neuem.“

Und irgendwo tief unter der Erde, hinter einer glatten Felswand, pochte ein Herz – diesmal nicht ruhig, sondern mit einem leisen, drohenden Zittern.

Kapitel 20 – Der Ruf im Traum
Die Nächte in Myrth waren wieder still geworden – zumindest für die meisten. Doch Seril schlief unruhig. Seit Tagen suchten ihn Träume heim, die sich zu real anfühlten, um bloß Träume zu sein.

Er stand darin stets an derselben Stelle: am Rand des Flusses aus Asche. Der Himmel war schwarz, das Wasser unbewegt. Auf der anderen Seite, im Nebel, glomm ein grünes Licht – schwach, aber stetig. Und dann hörte er es: ein Herzschlag, tief und langsam, der sich mit jedem Schlag lauter in seine Brust drängte.

„Komm…“

Elinor erging es nicht besser. Sie sah in ihren Träumen die Stadt der Stummen – doch diesmal bewegten sich die Gestalten. Langsam, ruckartig, als würden sie gerade erst lernen, wieder zu gehen. Ihre Augen leuchteten in einem matten Grün, und aus ihren Mündern drang ein Laut, der wie ein fernes Summen klang.

In der letzten Nacht war das Summen zu Worten geworden: „Das Siegel atmet… und es wird brechen.“

Am Morgen trafen sich Seril und Elinor im Großen Pilzdom. Beide sahen müde aus, die Augen gerötet.

„Du hast es auch gehört,“ sagte Seril ohne Umschweife.

Elinor nickte. „Es ist kein Zufall. Der Bann ruft uns. Oder… etwas dahinter.“

„Lyra?“

„Vielleicht. Oder etwas, das sich als sie ausgibt.“

Das Kind ohne Stimme trat aus dem Schatten einer Säule. Es sprach nicht, doch in ihren Köpfen erklang ein einziger, klarer Gedanke:

„Es beginnt.“

Seril spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. „Dann müssen wir zurück.“

Elinor sah ihn lange an. „Und wenn es eine Falle ist?“

„Dann gehen wir trotzdem. Wir schulden es ihr.“

In dieser Nacht träumte Seril erneut. Doch diesmal stand er nicht allein am Fluss. Auf der anderen Seite, im grünen Licht, sah er eine Gestalt – Lyra. Sie hob die Hand, als wolle sie ihn berühren.

„Beeil dich,“ flüsterte sie. „Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Er erwachte schweißgebadet – und wusste, dass der Weg ins Schattenland erneut beginnen würde.

Ende

Diese Geschichte ist das Ergebnis meiner eigenen kreativen Schöpfung. Die inhaltliche Idee, Handlung und Ausgestaltung stammen vollständig aus meiner persönlichen Vorstellungskraft. Für die sprachliche Formulierung habe ich unterstützende Technologien künstlicher Intelligenz eingesetzt.

© Michael (Gecko) Mahler – Alle Rechte vorbehalten.

Hinweis: Das Titelbild wurde mit einer KI (Microsoft Copilot) erstellt und ist nicht aus einem urheberrechtlich geschützten Werk abgeleitet. Es zeigt ein frei nutzbares Bild passend zu meiner Geschichte.

Bürgerreporter:in:

Michael (Gecko) Mahler aus Velbert

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