Der Psychopath - Von Michael Mahler
Der Psychopath
- hochgeladen von Michael (Gecko) Mahler
Klappentext:
London, 1887. Ein beißender Nebel umhüllt die Gassen von Whitechapel, während eine unheimliche Serie von Verschwinden die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Junge Frauen aus den ärmsten Vierteln lösen sich spurlos in Luft auf, ohne Zeugen, ohne Spuren, als hätte sie der Schatten selbst verschluckt.
Inspector Thomas Harrow, ein Mann getrieben von Instinkt statt Akten, spürt, dass hier mehr im Spiel ist als gewöhnliche Kriminalität. An seiner Seite kämpft Margaret Sinclair, eine brillante, aber unkonventionelle Forensikerin, die in den Mikrokosmen kleinster Fasern und Gerüche die Wahrheit sucht. Gemeinsam decken sie ein makabres Muster auf, das sie zu einem eiskalten Täter führt: Edward Blackwood, ein angesehener Perückenmacher aus Bloomsbury.
Blackwood ist kein gewöhnlicher Mörder. Er ist ein Sammler, ein Besessener, der in den Haaren seiner Opfer die ultimative Kunst sieht. Mit chirurgischer Präzision entnimmt er ihnen ihren letzten Besitz – ihr Haar –, um daraus bizarre Meisterwerke zu fertigen. Doch als Harrow und Sinclair ihm auf die Spur kommen, enthüllt Blackwood eine noch grausamere Seite: Er beginnt, mit ihnen zu spielen, sie herauszufordern und eine Spur des Schreckens zu legen, die tief in die Katakomben Londons führt.
Die Jagd auf "Den Sammler" wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit – ein Tauchgang in die dunkelsten Winkel der menschlichen Psyche, in ein Labyrinth aus Obsession, Wahnsinn und einer perversen Form der Schönheit. Können Harrow und Sinclair diesen Psychopathen stoppen, bevor er sein ultimatives, grauenhaftes Meisterwerk vollendet und Londons Seele für immer befleckt?
Ein viktorianischer Thriller, der die Grenzen zwischen Kunst und Wahnsinn verwischt und in die Abgründe menschlicher Obsession entführt.
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Lesezeit zirka 127 Minuten
Der Psychopath
Vorgeschichte: Die Genese des Sammlers
Kapitel 1: Der goldene Käfig
London, 1865. Zwanzig Jahre vor dem Herbst des Schreckens.
Das Haus in der Cheyne Walk, Chelsea, roch stets nach einer Mischung aus schwerem Lavendelparfüm, Bienenwachs und der unterschwelligen, süßlichen Note von Verfall, die alten Gemäuern oft anhaftet. Für den zehnjährigen Edward Blackwood war dies der Geruch der Angst.
Es war ein respektables Haus, von außen betrachtet. Die Ziegel waren dunkel vom Ruß der Stadt, die Fenster hoch und schmal. Doch im Inneren herrschte eine Stille, die drückender war als der Lärm der Droschken draußen auf dem Kopfsteinpflaster.
Edward stand im Ankleidezimmer seiner Mutter, Constance Blackwood. Er stand so still, wie es einem Kind nur möglich war, das gelernt hatte, dass Unbeweglichkeit oft die beste Verteidigung war. Seine Knie waren durchgedrückt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, der Blick auf den Orientteppich gesenkt, dessen verschlungene Muster er längst auswendig kannte.
„Komm her, Edward“, sagte Constance. Ihre Stimme war leise, melodisch, doch sie besaß eine Schärfe, die wie ein feiner Schnitt durch die Luft ging.
Edward gehorchte sofort. Er trat hinter den schweren, aus Mahagoni geschnitzten Stuhl, auf dem seine Mutter vor der Frisierkommode thronte. Der Spiegel war riesig, der Rahmen mit goldenen Putten verziert, die stumm auf die Szenerie herabblickten.
Constance Blackwood war eine Frau von unbestreitbarer Schönheit, eine Schönheit, die jedoch kalt und unnahbar war wie eine Marmorstatue. Ihr ganzer Stolz, ihr einziger wirklicher Lebensinhalt, war ihr Haar. Es war von einer Farbe, die man selten sah – nicht einfach blond, sondern ein tiefes, schimmerndes Gold, das selbst im trüben Gaslicht des Zimmers zu leuchten schien. Es war so lang, dass es ihr, wenn sie stand, bis weit über die Hüften reichte.
„Beginne“, befahl sie.
Edward nahm die schwere Bürste mit den Wildschweinborsten vom silbernen Tablett. Sie war fast zu groß für seine Kinderhände. Er wusste, was nun folgte. Es war ein Ritual, das jeden Abend vollzogen werden musste, präzise und ohne Abweichung. Einhundert Bürstenstriche. Nicht neunundneunzig, nicht einhunderteins. Und jeder Strich musste perfekt sein.
Er setzte die Bürste am Scheitel an. Vorsichtig, fast ehrfürchtig. Das Haar fühlte sich unter seinen Fingern kühl an, seidig und doch von einer erstaunlichen Schwere. Es war, als berühre man lebendiges Wasser.
Eins.
Er zog die Bürste langsam nach unten, bis zu den Spitzen, die sich auf dem seidenen Morgenmantel seiner Mutter ringelten.
Zwei.
Constance beobachtete ihn im Spiegel. Ihre blassblauen Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Sie sprach nicht. Die Stille im Raum wurde nur vom rhythmischen Schrubb-Schrubb der Bürste auf dem Haar unterbrochen. Für Edward war es eine Tortur der Konzentration. Seine kleinen Arme begannen zu brennen, doch er wagte es nicht, das Tempo zu verringern oder den Druck zu verändern.
Bei Strich siebenundvierzig passierte es.
Vielleicht war er müde geworden, vielleicht hatte seine Handfläche geschwitzt. Die Bürste verfing sich in einem winzigen Knötchen nahe ihrem Nacken. Es war kaum mehr als ein kurzes Stocken, ein minimales Ziehen.
Doch die Reaktion war explosiv.
Constance zischte wie eine Katze, deren Schwanz eingeklemmt wurde. Mit einer Geschwindigkeit, die man ihrer sonst so kontrollierten Haltung nicht zugetraut hätte, wirbelte sie auf dem Stuhl herum. Ihre Hand schnellte vor und traf Edwards Wange mit einem klatschenden Geräusch, das im stillen Raum widerhallte.
Edward taumelte einen Schritt zurück, ließ aber die Bürste nicht fallen. Das hatte er früh gelernt: Niemals das Werkzeug fallen lassen. Die Wange brannte, Tränen schossen ihm in die Augen, doch er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Er durfte nicht weinen. Weinen war Schwäche, und Schwäche wurde in diesem Haus nicht geduldet.
„Du ungeschicktes kleines Monster!“, fauchte Constance. Ihr Gesicht, eben noch eine Maske der Gelassenheit, war nun verzerrt von Zorn. Die roten Flecken auf ihren Wangen standen im grotesken Kontrast zu ihrer Blässe. „Willst du das Einzige zerstören, was in diesem elenden Leben noch Wert hat?“
Sie griff nach ihrem Haar, strich es beschützend über ihre Schulter, als hätte Edward es mit einer Krankheit infiziert.
„Es ist rein“, flüsterte sie nun, eine plötzliche, manische Intensität in der Stimme. „Es ist das einzig Reine, verstehst du? Und du... du bist schmutzig. Deine Hände sind schmutzig.“
Edward stand da und absorbierte die Worte. Sie waren nicht neu, aber heute Abend trafen sie tiefer. Er sah seine Mutter an, doch in diesem Moment geschah etwas in seinem Inneren. Ein Schalter legte sich um. Ein Mechanismus, der sein Überleben sichern sollte.
Er sah nicht mehr seine Mutter. Er sah die verzerrte Fratze einer Frau, die ihn hasste. Aber dann verlagerte sich sein Fokus. Er sah das Haar.
Das goldene Haar lag über ihrer Schulter, unberührt von ihrem Wutanfall. Es glänzte. Es war perfekt. Es war tatsächlich rein, wie sie gesagt hatte. Das Problem, so erkannte der zehnjährige Junge in einer erschreckenden Klarheit, war nicht das Haar. Das Problem war die Frau, an der es befestigt war. Sie war der Makel. Sie war das Laute, das Verletzende, das Unvollkommene.
Das Haar war das Opfer ihrer Launen, genau wie er.
„Verschwinde“, sagte sie kalt und drehte sich wieder zum Spiegel, um ihr Spiegelbild zu betrachten und die imaginären Schäden zu begutachten, die er angerichtet hatte. „Geh mir aus den Augen.“
Edward legte die Bürste behutsam auf das Tablett zurück, verbeugte sich mechanisch und verließ das Zimmer.
Er ging in sein eigenes kleines Zimmer im oberen Stockwerk. Es war kalt dort, und das einzige Licht kam von einer flackernden Kerze. Er setzte sich auf sein Bett. Die Wange pochte immer noch.
Er öffnete seine rechte Hand, die er seit dem Verlassen des Ankleidezimmers fest zur Faust geballt hatte.
In seiner Handfläche lag ein Knäuel goldener Haare.
Es waren die Haare, die er aus der Bürste gezogen hatte, kurz bevor sie ihn geschlagen hatte. Es war ein Reflex gewesen, ein Bedürfnis, das er nicht verstand.
Er hielt das kleine Knäuel ins Kerzenlicht. Es war wunderschön. Losgelöst von seiner Mutter verlor es nichts von seinem Glanz. Im Gegenteil. Es schien ihm nun noch reiner, noch kostbarer. Es gehörte jetzt ihm.
Ein Gefühl der Ruhe, tief und dunkel wie ein Brunnen, breitete sich in Edward aus. Die Demütigung, der Schmerz, die Angst – all das trat in den Hintergrund. Was blieb, war das Gefühl von Kontrolle, als er die weichen Strähnen zwischen seinen Fingern rieb.
Er stand auf und ging zu seiner kleinen Kommode. Aus der untersten Schublade zog er eine leere Zigarrenkiste aus Zedernholz hervor, die sein Vater – ein Mann, der schon lange vor Edwards Geburt in den Kolonien gestorben war – zurückgelassen hatte.
Edward legte das goldene Haarknäuel hinein. Es sah winzig aus in der großen Kiste.
Der Anfang, dachte der Junge, ohne genau zu wissen, was das bedeutete. Er schloss den Deckel und verbarg die Kiste tief unter seinen wenigen Hemden. In dieser Nacht schlief Edward Blackwood traumlos und tief, das Gefühl der goldenen Seide noch immer auf seinen Fingerspitzen.
Kapitel 2: Die Schichten der Einsamkeit
Die Jahre krochen dahin, träge und schwer wie der Londoner Nebel, der sich oft wochenlang über die Stadt legte. Edwards Leben in der Cheyne Walk war eine Studie in Isolation. Constance Blackwood, seine Mutter, lebte in ihrer eigenen Welt aus Opiumdämpfen, Spiegelbildern und der ständigen Pflege ihres Haares, das für sie zum einzigen Anker in einer zunehmend unwirklichen Existenz geworden war. Edward war für sie kaum mehr als ein Schatten, ein notwendiges Übel, das jedoch dafür sorgte, dass ihre Bürste stets bereit lag und ihre Mahlzeiten auf den Punkt serviert wurden.
Das Haus war ihr goldenes Gefängnis, und Edward war sein einziger, unfreiwilliger Wärter. Außer der alten Haushälterin, Mrs. Gable – einer stummen, knochigen Frau mit einem Gesicht wie Pergament, die ihre Aufgaben mit der Effizienz eines Uhrwerks erledigte und selten ein Wort sprach – gab es keine weiteren Bewohner. Freunde hatte Edward keine. Die wenigen Versuche, Kontakt zu Altersgenossen aus der Nachbarschaft aufzunehmen, endeten in Misserfolgen. Seine Kleidung war stets tadellos, aber altmodisch; seine Manieren zu steif, seine Sprache zu gewählt. Er war der Junge, der nie spielte, der immer über Bücher gebeugt war, die er aus der verstaubten Bibliothek seines Vaters zog.
Aber seine wahre Leidenschaft, die sich im Verborgenen entwickelte, galt der Zedernholzkiste.
Die Kiste, die einst nur das goldene Haarknäuel seiner Mutter barg, wuchs mit jedem Jahr, das verstrich. Nicht an Größe, aber an Inhalt. Edward hatte eine obsessive Methode entwickelt. Jedes Mal, wenn er das Haar seiner Mutter bürstete – eine Aufgabe, die er mittlerweile mit einer beinahe chirurgischen Präzision ausführte, um jedes weitere Schelten zu vermeiden – bewahrte er ein paar lose Strähnen auf. Anfangs waren es nur wenige, unscheinbare Fäden, die er diskret aus der Bürste fischte. Doch mit der Zeit wurde er kühner. Er lernte, wie man die Bürste so ansetzte, dass ein paar Haare, die bereits kurz vor dem Ausfallen standen, sanft gelöst werden konnten, ohne dass Constance es bemerkte.
Jede neue Strähne wurde mit einer fast rituellen Sorgfalt in der Kiste platziert. Er katalogisierte sie in seinem Kopf: "Juli 1867, nach dem Streit über das zerrissene Buch." "Oktober 1868, der Abend, als sie nicht von der Laudanum-Dosis erwachte." "Februar 1870, als sie versuchte, einen Mann ins Haus zu locken, der sich als Betrüger entpuppte." Jedes Haarknäuel war ein Miniaturprotokoll ihrer gemeinsamen, toxischen Geschichte.
Im Laufe der Jahre verwandelte sich die anfängliche Mischung aus Wut und Schutzinstinkt in etwas Kälteres, Obsessiveres. Edward begann, das Haar seiner Mutter nicht nur als Erinnerung an ihre Tyrannei zu sehen, sondern als ein Symbol ihrer Essenz. Ohne sie. Rein. Perfekt. Es war ein Paradoxon: Er hasste die Frau, die ihm Leben geschenkt hatte, doch er vergötterte den Teil von ihr, der von ihr getrennt war.
Als Edward fünfzehn Jahre alt war, geschah ein Vorfall, der diese Obsession auf eine neue, beunruhigende Ebene hob. Seine Mutter litt an einer schweren Grippe, die sie ans Bett fesselte. Während Mrs. Gable sich um die Hausarbeiten kümmerte, war es an Edward, sich um Constance zu kümmern. Das bedeutete auch, ihr Haar zu kämmen und zu pflegen, da sie zu schwach war, es selbst zu tun.
Eines Nachmittags, als sie in einem Fiebertraum lag, ihr Atem flach und unregelmäßig, saß Edward an ihrem Bett. Er bürstete ihr Haar, das auf dem Kissen ausgebreitet lag, ein blasses goldenes Meer. Die Bürste glitt durch die Strähnen, die nun etwas stumpfer waren, weniger lebendig. Er bemerkte eine dünne, graue Strähne, die sich durch das Gold zog. Ein Zeichen des Alters, ein Makel.
In einem plötzlichen Impuls, der ihn selbst überraschte, griff Edward zu einer kleinen Schere, die auf dem Nachttisch lag. Seine Hand zitterte nicht. Mit präziser Bewegung schnitt er die graue Strähne ab, direkt an der Wurzel.
Das Gefühl, das ihn durchströmte, war berauschend. Es war nicht nur das Entfernen des Makels. Es war die absolute, unantastbare Kontrolle über einen Teil ihrer selbst. Er hatte etwas an ihr verändert, ohne dass sie es wusste. Er war der Schöpfer ihrer Perfektion.
Die graue Strähne landete nicht in der Zedernholzkiste. Sie wurde verbrannt, ohne Spur. Nur die reinen, goldenen Haare waren würdig, gesammelt zu werden.
Etwa zu dieser Zeit begann Edward, sein Zuhause häufiger zu verlassen. Nicht um Freunde zu treffen, sondern um die Stadt zu erkunden. Er wanderte durch die belebten Straßen, vom geschäftigen Treiben in Whitechapel bis zu den eleganten Boulevards in Westminster. Er war ein Beobachter, ein stiller Schatten in der Menge. Was ihn faszinierte, waren nicht die Menschen selbst, sondern ihre äußeren Erscheinungen.
Besonders fasziniert war er von den Frauen. Von ihren Hüten, ihren Kleidern, ihren Accessoires. Aber über allem stand ihr Haar. Frauen der viktorianischen Gesellschaft legten großen Wert auf ihre Frisuren. Es gab kunstvolle Hochsteckfrisuren, Locken, Zöpfe und sogar Haarteile.
Edward bemerkte, wie Frauen Haare trugen, die offensichtlich nicht ihre eigenen waren – Haarteile, die zu ihrer natürlichen Farbe passten, aber mehr Volumen oder Länge gaben. Er sah sie in den Schaufenstern der Perückenmacher, ausgestellt auf Wachsköpfen mit leeren Augen.
Ein Name prägte sich ihm besonders ein: Mr. Abernathy's Wig Emporium in der Fleet Street. Dort sah er die prächtigsten Exponate, echtes Menschenhaar, in allen Farben und Längen. Das Geschäft war berühmt für seine Qualität, seine diskreten Dienstleistungen für die Oberschicht.
Eines Tages, auf einem seiner Streifzüge, blieb er vor Abernathys Schaufenster stehen. Ein alter Mann mit einer dicken Brille und einem zerzausten Haarkranz kam aus dem Laden und bemerkte Edwards langes Verweilen.
„Junger Mann“, sagte Mr. Abernathy, seine Stimme war rau, aber nicht unfreundlich. „Interesse am Handwerk?“
Edward nickte stumm.
„Haben Sie ein Auge für Qualität, sehe ich“, fuhr Abernathy fort und deutete auf eine besonders aufwendige Rosshaar-Perücke. „Gutes Haar ist ein kostbares Gut. Ein Statussymbol, mein Junge. Wissen Sie, was echtes Haar wert ist, wenn es richtig verarbeitet wird?“
Edward schüttelte den Kopf.
„Mehr, als Sie sich vorstellen können. Besonders jungfräuliches Haar. Unbehandelt. Es ist selten.“ Mr. Abernathy musterte den blassen, stillen Jungen. „Suchen Sie eine Anstellung? Ich könnte jemanden gebrauchen, der fleißig ist und ein Talent dafür hat, Dinge zu erkennen, die andere übersehen.“
In diesem Moment, als der Geruch von Haarlack und chemischer Behandlung durch die offene Tür des Emporiums drang, wloss Edward eine Entscheidung. Es war nicht nur eine Möglichkeit, dem goldenen Käfig in der Cheyne Walk zu entfliehen. Es war eine Gelegenheit, sich dem Stoff seiner Obsession auf eine Weise zu nähern, die er sich nie hätte träumen lassen.
Er sah das Haar auf den Wachsköpfen, dann die eleganten Damen, die aus Kutschen stiegen, um den Laden zu betreten, und schließlich – in seinem inneren Auge – das goldene Haar in seiner Zedernholzkiste. Es gab einen Weg, diese Welten zu verbinden.
„Ja, Sir“, sagte Edward. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er ein echtes Interesse zeigte, das nicht mit seiner Mutter zusammenhing. „Ich würde sehr gerne bei Ihnen arbeiten.“
Mr. Abernathy lächelte, zufrieden mit seiner Intuition. Er hatte keine Ahnung, welche Art von „Talent“ er gerade in sein Geschäft holte.
Kapitel 3: Das Handwerk der Masken
Die Lehre bei Mr. Abernathy’s Wig Emporium war für Edward eine Offenbarung. Es war eine Welt der Ordnung und Präzision, ein Kontrast zum chaotischen, emotionalen Gefängnis seines Elternhauses. Mr. Abernathy, ein bärbeißiger, aber fairer Mann, erkannte schnell Edwards ungewöhnliches Talent. Der junge Edward war nicht nur fleißig; er besaß eine unheimliche Fähigkeit, die Qualität von Haar zu beurteilen, Nuancen in Farbe und Textur zu erkennen, die selbst erfahrenen Perückenmachern entgingen.
„Du hast ein Auge für das Material, Blackwood“, brummte Mr. Abernathy eines Tages, als Edward eine Lieferung Rohhaar sortierte. „Das ist nicht zu lernen, das hat man oder nicht. Jedes Strähnchen erzählt seine Geschichte, nicht wahr?“
Edward nickte stumm. Für ihn war es mehr als nur eine Geschichte. Jedes Haarbündel war ein Versprechen. Ein Versprechen von Reinheit, von Potenzial, von einem perfekten Kunstwerk, das noch geschaffen werden musste.
Er lernte alles: das sorgfältige Waschen und Kämmen des Rohhaars, das Bleichen und Färben, obwohl er eine tiefe Abneigung gegen chemisch behandeltes Haar entwickelte – für ihn war es eine Verunreinigung. Am faszinierendsten fand er die Kunst des Knüpfens: Wie einzelne Haare mit feinsten Haken auf einen zarten Tüllboden geknüpft wurden, bis eine dichte, natürlich fallende Perücke entstand. Es war ein Prozess, der Geduld, Geschick und eine obsessive Detailversessenheit erforderte – Eigenschaften, die Edward im Überfluss besaß.
Er verbrachte Stunden, allein in der Werkstatt, perfektionierte jeden Knoten, jede Reihe. Er liebte die Stille, die konzentrierte Arbeit, das Gefühl, etwas mit seinen Händen zu erschaffen, das die Welt der Illusionen bediente. Perücken waren Masken, Verwandlungen. Sie erlaubten es den Menschen, eine andere Identität anzunehmen, ihre Mängel zu verbergen, ihre Schönheit zu verstärken.
Mit der Zeit begann Edward, seine Arbeitszeiten auszudehnen. Er verbrachte Nächte im Laden, nachdem Mr. Abernathy und die wenigen Angestellten gegangen waren. In diesen Stunden fertigte er nicht nur die Auftragsarbeiten an. Er begann, seine eigenen Projekte zu realisieren.
Er begann, Haarteile und kleine Perücken zu knüpfen, die nicht für Kunden bestimmt waren. Er wählte die schönsten, unbehandelten Strähnen aus dem Rohmaterial aus – immer die, die am längsten, am glänzendsten, am "unberührtesten" wirkten. Er kreierte Locken, Zöpfe und ganze Haarteile, die von einer so makellosen Perfektion waren, dass sie in ihrer Künstlichkeit schon wieder unnatürlich wirkten.
Diese Stücke bewahrte er nicht im Laden auf. Er transportierte sie heimlich in einer gesonderten, mit Seide ausgelegten Box zurück in sein Zimmer in der Cheyne Walk. Dort, unter seinem Bett, gesellte sich diese neue Sammlung zu seiner alten Zedernholzkiste, die inzwischen prall gefüllt war mit den goldenen Haaren seiner Mutter. Diese neuen Werke waren anders; sie waren nicht von seiner Mutter. Sie waren anonym, perfekt und stumm. Es war reines Haar, losgelöst von der Person, der es einst gehörte, nun in einer neuen, perfekten Form arrangiert.
Eines Abends, Edward war mittlerweile zwanzig, erlitt Constance Blackwood einen Schlaganfall. Es war nicht tödlich, aber es entzog ihr ihre Fähigkeit zu sprechen und lähmte ihre linke Seite. Sie wurde bettlägerig, gefangen in ihrem eigenen Körper. Mrs. Gable kümmerte sich um die Grundbedürfnisse, aber das Kämmen und Pflegen ihres Haares fiel wieder ganz Edward zu.
Die goldene Pracht seiner Mutter war nun stumpf und verfilzt. Das jahrelange Missbrauchen von Laudanum hatte seinen Tribut gefordert. Doch Constance hing immer noch an ihrem Haar, wenn auch nur mit einem hilflosen Blick in ihren Augen, der Edward befahl, sich darum zu kümmern.
Jeden Abend stand Edward an ihrem Bett. Er bürstete. Er entwirrte. Er kämpfte gegen die Matten, die sich gebildet hatten. Es war eine mühsame Arbeit, die er mit der gleichen mechanischen Präzision ausführte wie alles andere. Aber die Aura der Reinheit, die das Haar einst für ihn besessen hatte, war verschwunden. Es war nur noch welkes Haar an einer welken Frau. Der goldene Glanz war verblasst, der Stoff ihrer Identität schien sich aufzulösen.
Und doch, als er eines Abends die Bürste reinigte, fischte er immer noch die feinen Strähnen heraus. Er legte sie nicht mehr in die Zedernholzkiste. Stattdessen begann er, kleine, unsichtbare Fäden in die Perücken und Haarteile einzuarbeiten, die er für seine geheime Sammlung anfertigte. Es war eine Art makabre Alchemie: Das verfallende Haar der Mutter, verwandelt in makellose Kunst. Es war ein letzter Akt der Kontrolle, eine Transformation des Makels in Perfektion.
Die sozialen Spannungen Londons im Jahr 1875 waren für Edward weit entfernt. Die Proteste der Arbeiter, die Rufe nach Reformen, die schwelenden Konflikte in den Slums von East End – all das drang kaum zu ihm durch. Seine Welt war die Werkstatt, sein Zuhause die Insel der Isolation. Er las jedoch die Zeitungen. Nicht die politischen Nachrichten, sondern die kleinen Notizen. Vermisstenanzeigen. Vor allem die, die junge Frauen betrafen.
Er bemerkte ein Muster: Immer wieder verschwanden junge Frauen, oft aus ärmlicheren Verhältnissen, die in Dienstmädchenpositionen arbeiteten oder in Fabriken tätig waren. Ihre Verschwinden wurden selten mit der gleichen Intensität verfolgt wie das eines Mitglieds der Oberschicht. Sie waren namenlose Statistiken in den Polizeiakten.
Eines Abends, nach einem langen Tag in Abernathys Geschäft, schlenderte Edward durch eine besonders schmutzige Gasse nahe den Docks. Der Geruch von Fisch und Fäulnis hing in der Luft. Er sah eine junge Frau, vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt, die mit einem Lastenträger stritt. Ihr Haar war von einem satten, dunklen Kastanienbraun, kräftig und glänzend, obwohl es unter einem einfachen Kopftuch verborgen war. Es sah unberührt aus, rein.
Der Lastenträger schubste sie weg, und ihr Kopftuch löste sich dabei, sodass ihr Haar für einen Moment in seiner ganzen Pracht zu sehen war. Es fiel ihr über die Schultern, dunkel und schwer. Edward spürte einen Stich, ein Ziehen in seinem Magen. Es war das Gefühl, das er kannte, wenn er ein besonders wertvolles Stück Rohhaar in den Händen hielt.
Er folgte ihr in einiger Entfernung. Sie bog in eine noch engere, dunklere Gasse ein. Die Schatten wurden länger, die Geräusche der Stadt verstummten. Sie schien in Eile, nervös.
Plötzlich, aus einer dunklen Nische, trat ein Mann. Groß, kräftig, mit schmutzigen Kleidern. Er packte die junge Frau am Arm. Sie schrie, doch ihr Schrei wurde schnell erstickt, als der Mann ihr eine Hand auf den Mund drückte und sie in die Nische zog.
Edward stand regungslos da. Er war nur zwanzig, aber er empfand keine Angst. Nur eine seltsame Faszination. Er hörte das gedämpfte Geräusch des Kampfes, dann ein letztes, ersticktes Geräusch.
Er wartete. Nach einer Weile kam der Mann aus der Nische, richtete seine Kleidung und verschwand in der Dunkelheit. Er hatte etwas in der Hand, das Edward nicht genau erkennen konnte.
Edward trat vorsichtig in die Nische. Die junge Frau lag da, regungslos. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Gesicht blass. Ihr dunkles Kastanienhaar war unter ihrem Körper verteilt, ein düsterer Kontrast zu ihrer blassen Haut.
Er kniete neben ihr nieder. Er spürte ihren Puls. Nichts.
Sein Blick fiel auf ihr Haar. Es war immer noch so prächtig, so unberührt. Der Mann, der sie getötet hatte, hatte nichts davon genommen. Er hatte nur ihr Leben genommen. Das war für Edward eine Verschwendung. Eine schreckliche Verschwendung.
Er holte ein kleines, scharfes Messer aus seiner Tasche, das er zum Schneiden von Haaren benutzte. Seine Hände zitterten nicht. Mit der gleichen chirurgischen Präzision, mit der er die graue Strähne seiner Mutter entfernt hatte, schnitt Edward vorsichtig einen langen, dicken Zopf von ihrem Kopf ab.
Er wickelte ihn in ein sauberes Tuch, das er immer dabeihatte. Das Haar war weich, kühl und schwer. Es roch nach nichts. Es war vollkommen rein.
Er stand auf. Er hinterließ keine Spuren. Die tote Frau lag allein in der Gasse.
Auf dem Heimweg, während er das Tuch mit dem Haarzopf unter seiner Jacke verbarg, spürte Edward eine Kühle, die nichts mit der Abendluft zu tun hatte. Es war eine Kühle in seinem Inneren, ein Gefühl der Klarheit.
Er hatte seine Sammlung. Er hatte seine Kunst. Aber jetzt hatte er auch eine Quelle. Eine Quelle von unberührtem, reinem Haar.
Das Gefühl war anders als bei den Haaren seiner Mutter oder dem Rohhaar aus dem Laden. Dieses Haar war frisch. Es war jung. Es war makellos. Und es gehörte nun ihm.
Kapitel 4: Die kalte Berufung
Die Entdeckung in der Gasse war ein Wendepunkt für Edward Blackwood. Es war nicht einfach nur eine Gräueltat, die er beobachtet hatte; es war eine Offenbarung. Er hatte erkannt, dass die Welt da draußen nicht nur Material für sein Handwerk bot, sondern auch die Möglichkeit, diese Materie in ihrer reinsten Form zu erhalten – unbehandelt, unberührt, jungfräulich. Die Frauen, die in den Zeitungen als "vermisst" oder "unbekannt" gemeldet wurden, waren für ihn nicht länger bedauernswerte Schicksale, sondern potenzielle Quellen.
In den nächsten fünf Jahren, von seinem zwanzigsten bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, perfektionierte Edward nicht nur sein Handwerk bei Mr. Abernathy, sondern auch eine weit dunklere "Berufung". Er wurde zu einem Meister der Beobachtung, der Planung und der spurlosen Ausführung. Er begann, die Stadt wie ein Raubtier zu durchstreifen, nicht auf der Suche nach Opfern im traditionellen Sinne, sondern nach "Materialien".
Seine Ziele waren immer junge Frauen, die am Rande der Gesellschaft lebten: Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Blumenmädchen, die spät abends allein unterwegs waren. Frauen, deren Verschwinden wahrscheinlich nicht sofort und mit großer Anstrengung verfolgt werden würde. Er bevorzugte solche, die längeres, unbehandeltes Haar besaßen, das für seine Zwecke von höchstem Wert war.
Sein erster "Fang" nach dem Erlebnis in der Gasse war Elara Vance, ein sechzehnjähriges Mädchen aus einem Armenhaus, das in einem Haushalt in Whitechapel als Dienstmädchen arbeitete. Sie hatte langes, dunkelblondes Haar, das Edward bei einem ihrer seltenen Ausgänge in die Stadt bemerkt hatte. Er verfolgte sie tagelang, lernte ihre Routinen, ihre Ängste, ihre Einsamkeit kennen.
Er entführte sie nicht brutal in einer dunklen Gasse. Edward war zu präzise, zu methodisch für solche groben Methoden. Er hatte gelernt, Vertrauen zu erwecken, eine Fassade der Freundlichkeit aufzubauen. Eines Abends, als Elara eine Botschaft für ihre Herrschaften überbringen sollte, trat Edward ihr entgegen. Er gab sich als ein wohlhabender junger Mann aus, der sich verlaufen hatte, und bat sie um Hilfe. Er nutzte ihre Gutmütigkeit und ihre Sehnsucht nach etwas Besserem.
Er lockte sie in ein angemietetes, verstecktes Versteck in einer ruhigen Seitenstraße, ein Zimmer, das er sorgfältig vorbereitet hatte. Dort tötete er sie. Nicht mit roher Gewalt, sondern mit einer kühlen, berechnenden Methode, die er akribisch geplant hatte. Es war eine Tötung, die er als "Reinigung" verstand – ein Akt, der das Haar von seinem "Behälter" befreite.
Nach dem Tod entfernte er ihr Haar. Er hatte sich im Laufe seiner Ausbildung bei Abernathy spezialisiert, wie man Haar am besten und vollständigsten entnimmt, ohne es zu beschädigen. Es war ein fast chirurgischer Vorgang, den er mit feinsten Klingen ausführte. Er legte das Haar sorgfältig beiseite, säuberte es und bewahrte es in einer speziellen, luftdichten Box auf. Den Rest des Körpers beseitigte er mit äußerster Sorgfalt, so dass keine Spuren zurückblieben. Er wusste, dass die Themse viel schluckte und die dunklen Ecken Londons viele Geheimnisse bewahrten.
Edward empfand keine Reue, keine Schuld. Nur eine tiefe Zufriedenheit, eine Erfüllung, die er in keinem anderen Aspekt seines Lebens fand. Jede Entnahme war ein Schritt näher an der Perfektion seiner Sammlung, ein Beweis für seine Fähigkeit zur absoluten Kontrolle.
Im Abernathy's Wig Emporium stieg Edward stetig auf. Er wurde Mr. Abernathys rechte Hand, derjenige, dem die komplexesten Aufträge anvertraut wurden. Er beriet die reiche Kundschaft, Frauen wie die anspruchsvolle Lady Ashford, die stets die neuesten und exklusivsten Haarteile verlangte. Er nickte höflich, lächelte zurückhaltend und empfahl das "feinste Jungfrauenhaar aus Frankreich", während er in Gedanken bereits die Textur und Farbe der Haare seiner Kundinnen analysierte und in seiner mentalen Datenbank ablegte.
Die Zedernholzkiste, die einst nur das Haar seiner Mutter barg, war nun nur noch ein kleiner Teil seiner umfangreichen, geheimen Sammlung. Seine Werkstatt in seinem Zimmer hatte sich zu einem wahren Labor entwickelt. Er hatte nicht nur die Haare seiner Opfer, sondern auch die Haarteile, die er daraus fertigte, archiviert. Jede Strähne, jede Perücke war beschriftet, mit einem geheimen Code, der nur er verstand.
Eines Abends, im Jahr 1880, als Edward fünfundzwanzig war, erhielt Mr. Abernathy eine schockierende Nachricht. Ein alter Freund und Konkurrent, Mr. Silas Thorne, ein bekannter Perückenmacher aus Soho, war tot aufgefunden worden. Offiziell hieß es, er sei an Herzversagen gestorben. Aber Mr. Abernathy murmelte besorgt: „Seltsam, seltsam. Er war doch erst siebzig. Und sein Geschäft lief gut. Ein wahrer Künstler.“
Edward hörte zu. Er las die Zeitung, die über den Tod berichtete. Mr. Thorne hatte eine junge, ehrgeizige Assistentin namens Miss Agnes Periwinkle, die nun das Geschäft übernehmen sollte. Sie war bekannt für ihre modernen Ansichten und ihr gutes Auge für Trends.
Einige Wochen später, während Edward in der Werkstatt war, kam Mr. Abernathy auf ihn zu. Sein Gesicht war blass, seine Augen unruhig.
„Blackwood“, sagte er leise. „Ich werde das Geschäft verkaufen.“
Edward war überrascht. „Sir? Was ist geschehen?“
„Ich bin müde“, murmelte Abernathy. „Und... ich fürchte, die Zeiten ändern sich. Und ich bin alt. Ich habe gehört, Miss Periwinkle von Thorne’s will expandieren. Sie will mein Geschäft kaufen.“
Es war ein Schock. Das Emporium war Edwards zweites Zuhause, sein Labor, sein Hort der Kontrolle. Doch er verstand. Mr. Abernathy war alt, und die Konkurrenz wurde härter. Edward wusste auch, dass der Verkauf ihm neue Möglichkeiten eröffnen könnte.
Miss Periwinkle kaufte das Geschäft schließlich. Edward wurde angeboten, als Geschäftsführer unter ihrer Leitung weiterzuarbeiten. Doch Edward lehnte ab. Er hatte andere Pläne.
Mit dem Geld, das er gespart hatte – und er hatte über die Jahre erhebliche Mengen beiseitegelegt, nicht zuletzt durch den Verkauf einiger seiner selbst gefertigten Perücken an diskrete Käufer, die er auf dem Schwarzmarkt gefunden hatte – und mit dem Wissen, das er gesammelt hatte, beschloss Edward, sein eigenes Geschäft zu eröffnen.
Er fand ein bescheidenes Ladenlokal in einer ruhigen, aber respektablen Seitenstraße in Bloomsbury, nicht weit vom British Museum entfernt. Ein Ort, der Diskretion und einen gewissen Schein von Seriosität bot. Er nannte es schlicht: "Blackwood's – Fine Hair & Wig Artistry".
Er wusste, dass er die Konkurrenz übertreffen musste. Und er wusste, wie. Er hatte eine unerschöpfliche Quelle von "Materialien" und ein unvergleichliches Talent, diese in die perfektesten Perücken und Haarteile zu verwandeln, die London je gesehen hatte.
Im Laufe der nächsten zwei Jahre, von 1880 bis 1882, baute Edward sein Geschäft auf. Er gewann schnell einen Ruf für Exzellenz. Seine Kundschaft wuchs, angezogen von der außergewöhnlichen Qualität seiner Produkte. Er war charmant, diskret und scheinbar absolut professionell. Niemand hätte geahnt, dass unter der Oberfläche des respektablen Perückenmachers ein eiskalter Jäger lauerte.
Seine Mutter, Constance Blackwood, starb in diesen Jahren, leise und unbemerkt in ihrem Bett, als Edward neunundzwanzig war. Die Trauer war für ihn eine Formalität. Ihre goldene Haarkollektion war längst abgeschlossen. Der goldene Käfig war leer, aber die darin erlernte Lektion – die Kontrolle über das, was er begehrte – war in ihm fest verwurzelt.
Die Mordserie, die Edward Blackwood in den folgenden Jahren beginnen sollte, war keine Tat eines Geisteskranken im herkömmlichen Sinne. Es war die Ausführung einer kalten, präzisen Berufung. Die Beschaffung von Kunstmaterial, die Schaffung von Perfektion, koste es, was es wolle. London, im Jahr 1882, war noch ahnungslos.
Kapitel 5: Die Inszenierung der Schönheit
Die Eröffnung von "Blackwood's – Fine Hair & Wig Artistry" im Jahr 1882 war nicht nur ein geschäftlicher Schritt für Edward Blackwood; es war die finale Bühne für die Inszenierung seiner perfiden Kunst. Das Ladenlokal in Bloomsbury war elegant, aber unaufdringlich. Dunkle Holzvertäfelungen, schwere Samtvorhänge und diskrete Beleuchtung schufen eine Atmosphäre der Exklusivität und des Vertrauens. Die Schaufenster zeigten nur wenige, ausgewählte Exponate, die durch ihre makellose Handwerkskunst bestachen und einen subtilen Hauch von Luxus verströmten.
Edward hatte sich schnell einen Ruf als Meister seines Faches erarbeitet. Seine Diskretion war legendär, seine Fähigkeit, die Wünsche seiner anspruchsvollen Klientel zu erahnen, bemerkenswert. Frauen der Londoner Oberschicht, wie die Baroness Victoria de Valois, eine extravagante Gesellschaftsdame, oder die wohlhabende Witwe Mrs. Eleanor Cavendish, wurden zu seinen Stammkundinnen. Sie schätzten Edwards unauffällige Art und die unvergleichliche Qualität seiner Perücken und Haarteile. Sie wussten nicht, dass sie durch ihren Kauf seine dunkle Obsession finanzierten und indirekt zu Komplizen in seinen Verbrechen wurden.
Innerhalb des Ladens befand sich Edwards private Werkstatt, sein Heiligtum. Hier, abgeschirmt von neugierigen Blicken, verbrachte er die meiste Zeit. Der Geruch von feinem Leder, Seide und dem süßlichen Duft von Haar lag in der Luft. Die Wände waren gesäumt von Schubladen und Schränken, die nicht nur Werkzeuge und Materialien enthielten, sondern auch die Früchte seiner nächtlichen "Jagden".
Seine Sammlung wuchs stetig. Die "Beschaffung" des Haares war für Edward zu einer präzisen Wissenschaft geworden. Er wählte seine Opfer mit Bedacht: Junge Frauen, die selten vermisst werden würden, oft aus prekären Verhältnissen, die in London gestrandet waren. Frauen wie Beatrice Potter, ein junges Mädchen vom Land, das als Dienstmädchen angeheuert hatte, oder Clara Finch, eine junge Fabrikarbeiterin aus dem East End.
Edward hatte seine Methoden verfeinert. Er verließ sich nicht auf rohe Gewalt, sondern auf die Kunst der Verführung und Täuschung. Er gab sich als wohlhabender Gönner aus, der jungen Frauen in Not eine Chance bot – eine Stelle als Näherin in seiner Werkstatt, ein besseres Leben, abseits der Armut. Die Sehnsucht nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage machte sie blind für die Gefahr.
Er lockte sie in sein verstecktes Atelier, ein kleines, sorgfältig isoliertes Zimmer im hinteren Teil des Ladens, das er unter dem Vorwand nutzte, dort "besonders sensible Aufträge" auszuführen. Dort, in einer Atmosphäre trügerischer Sicherheit, enthüllte er sein wahres Ich. Die Tötungen waren nie spontan oder von Wut getrieben. Sie waren ritualisierte Akte, kalt und klinisch, immer darauf bedacht, das "Material" nicht zu beschädigen.
Sein Fokus lag auf dem Haar. Es war die Trophäe, der Beweis seiner Macht. Er entnahm es mit chirurgischer Präzision, reinigte es sorgfältig und archivierte es in seiner geheimen Bibliothek. Jedes Haarbündel wurde von ihm mit einer Notiz versehen: Das Datum der "Ernte", die Farbe, die Textur, manchmal sogar der Name, falls er ihn erfahren hatte. Diese Notizen waren jedoch nicht von Reue geprägt, sondern von einer makabren Wertschätzung der Qualität.
In der Werkstatt verwandelte er dieses "Material" dann in exquisite Kunstwerke. Er verarbeitete es zu den feinsten Perücken, zu kunstvollen Haarteilen und zu den sogenannten "Lockenringen", die in der viktorianischen Gesellschaft sehr beliebt waren. Jedes Stück war ein Meisterwerk der Illusion, ein Produkt von Edwards manischer Perfektion.
Die Verbrechen begannen, ein leises Echo in den Gassen Londons zu finden. Die Zeitungen berichteten gelegentlich von vermissten jungen Frauen, meist mit kleinen, unscheinbaren Anzeigen in den hinteren Seiten. Die Polizei, überfordert mit der wachsenden Kriminalität im schnell expandierenden London, konnte keine Verbindung herstellen. Die Opfer waren zu unterschiedlich, ihre Verschwinden zu unscheinbar. Es gab keine Leichenfunde, die eine Serie hätten vermuten lassen. Edward war zu sorgfältig.
Die Ermittler von Scotland Yard, unter ihnen der junge, aufstrebende Inspector Thomas Harrow, sahen nur isolierte Fälle. Harrow, damals ein ambitionierter Sergeant, war frustriert über die mangelnden Fortschritte in einigen dieser Vermisstenfälle. Er hatte das Gefühl, dass etwas übersehen wurde, dass es eine dunkle Unterströmung gab, die sich der Logik entzog. Doch seine Vorgesetzten, konservative Männer wie Superintendent Davies, winkten ab. „Einfache Mädchen, Harrow. Laufen weg, finden Arbeit, suchen ihr Glück. Keine große Sache.“
Doch Harrow hatte eine andere Intuition. Er studierte die spärlichen Akten. Frauen wie Lily O'Malley, ein irisches Dienstmädchen, das plötzlich verschwunden war, oder Fiona MacLeod, eine schottische Näherin, die in London ihr Glück suchte. Er versuchte, Muster zu finden, Verbindungen. Doch es gab keine sichtbaren. Keine Lösegeldforderungen, keine Zeugen, keine Leichen. Es war, als wären diese Frauen einfach vom Erdboden verschluckt worden.
Edward Blackwood beobachtete die Berichterstattung mit kaltem Interesse. Er war der unsichtbare Faden in diesem Netz, der Regisseur hinter den Kulissen. Die mangelnde Aufmerksamkeit der Polizei bestätigte ihn in seiner Überzeugung, dass er unantastbar war. Seine Verbrechen waren zu subtil, zu sauber, zu perfekt.
Im Jahr 1887, als die Geschichte ihren Anfang nimmt, hatte Edward Blackwood seine Fähigkeiten als Psychopath, Perückenmacher und Sammler zur höchsten Perfektion getrieben. Er war der unbestrittene Meister seines Handwerks, dessen Produkte von den feinsten Damen Londons getragen wurden. Er war ein angesehener Geschäftsmann, ein stiller, höflicher Mann, dessen wahres Ich in den dunkelsten Ecken seiner Seele verborgen lag.
Er wandelte unerkannt unter den Menschen, ein Wolf im Schafspelz, dessen größte Leidenschaft das war, was andere für bedeutungslos hielten: Das Haar junger Frauen. Es war nicht nur ein Material für ihn; es war ein Symbol von Reinheit, Kontrolle und einer perversen Form der Schönheit. Und er war bereit, alles zu tun, um es zu bekommen.
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Die Bühne war bereitet. Die Hauptgeschichte, die im Herbst 1887 beginnen sollte, würde die Welten des Psychopathen, des Ermittlers und der forensischen Wissenschaft auf grausame Weise miteinander verbinden.
Hauptgeschichte: Der Psychopath
Kapitel 1: Der Schatten über Whitechapel
London, Herbst 1887.
Ein beißender Geruch von feuchtem Ruß, nassem Pferdemist und den unausweichlichen Ausdünstungen menschlichen Elends hing über Whitechapel. Die Gaslaternen, deren mattes Licht sich im Nebel brach, warfen lange, zuckende Schatten auf die engen, kopfsteingepflasterten Gassen. Regentropfen trommelten leise gegen die Fensterscheiben der Mietskasernen, deren Fassaden wie zahnlose Münder in die Dunkelheit gähnten.
Inspector Thomas Harrow zog den Kragen seines Mantels fester. Der Nieselregen, der ihm ins Gesicht peitschte, war kalt und unbehaglich. Er stand vor dem Eingang eines verwahrlosten Wohnhauses in der Dorset Street, einer jener berüchtigten Gassen, die in den Polizeiberichten meist nur im Zusammenhang mit Trunkenheit, Prostitution und Raubüberfällen auftauchten. Ein Ort, an dem das Leben billig war und der Tod ein ständiger Begleiter.
„Ein weiterer, Inspector“, sagte Sergeant Miller, ein stämmiger Mann mit einem dichten Schnurrbart und einem resignierten Blick, der die Müdigkeit vieler Jahre Polizeidienst spiegelte. Er hielt eine Laterne hoch, deren Licht über die schmutzigen Stufen des Hauses tanzte. „Dieses Mal war es Emily Jenkins, siebzehn Jahre alt, Dienstmädchen bei den Gordons in der Wentworth Street. Ist vorgestern Abend nicht nach Hause gekommen.“
Harrow nickte. Emily Jenkins war die dritte junge Frau, die innerhalb der letzten drei Wochen aus den ärmeren Vierteln verschwunden war, ohne dass es ein Lebenszeichen oder eine Spur gab. Die ersten beiden waren Mary Kelly (neunzehn, Fabrikarbeiterin) und Catherine Eddowes (einundzwanzig, Blumenmädchen). Alle drei waren junge, unverheiratete Frauen, die in bescheidenen Verhältnissen lebten. Alle drei waren spurlos verschwunden.
„Ihre Familie ist in Aufruhr“, fuhr Miller fort. „Der Vater, ein alter Dockarbeiter, ist verzweifelt. Er sagt, Emily wäre niemals einfach abgehauen. Sie war fleißig, gottesfürchtig.“
Harrow schob sich an Miller vorbei in den Hausflur. Der Geruch hier drinnen war noch beißender: eine Mischung aus moderigem Holz, altem Kohl und der feuchten Kleidung der Bewohner, die sich in den winzigen Räumen drängten. Überall huschten Schatten – flüchtige Blicke von neugierigen Nachbarn, deren Augen in der Dunkelheit glänzten wie die von Ratten.
Im ersten Stock, in einem Zimmer, das kaum größer war als ein Schrank, saßen der Vater und die Mutter von Emily. Mr. Jenkins, ein gebeugter Mann mit versteinertem Gesicht, hielt seine Frau, Sarah, die in hysterischen Schluchzen ausbrach.
„Sie ist weg, Inspector!“, flehte Sarah Jenkins, ihre Stimme heiser. „Jemand hat sie genommen! Emily würde uns niemals verlassen!“
Harrow kniete sich hin. „Ich versichere Ihnen, Mrs. Jenkins, wir werden alles tun, um Emily zu finden. Gab es irgendwelche Feinde? Jemanden, der ihr Böses wollte?“
Mr. Jenkins schüttelte den Kopf. „Emily war ein gutes Mädchen. Sie hatte keine Feinde. Nur ... ein Verehrer vielleicht. Ein junger Mann, der sie manchmal nach Hause begleitete. Ein gewisser Mr. Davies, sagte er. Aber der war ein Schürzenjäger, nichts Ernstes.“
„Haben Sie diesen Mr. Davies getroffen?“, fragte Harrow.
„Nein, Sir. Emily sprach nur davon. Sie sagte, er wäre sehr charmant, aber sie traute ihm nicht ganz.“
Harrow notierte den Namen. Es war ein dünner Faden, aber es war etwas.
Während Miller mit den Jenkins sprach, trat Harrow an das kleine Fenster. Er sah hinaus in die dunkle, regennasse Gasse. Er kannte die Statistiken. In einem Viertel wie Whitechapel verschwanden jeden Monat Dutzende von Menschen. Die meisten tauchten wieder auf, lebendig oder tot, oft als Opfer von Unfällen, Krankheiten oder der Brutalität der Straße. Aber diese drei Fälle…
Er hatte ein ungutes Gefühl. Es war nicht nur das bloße Verschwinden. Es war die Art und Weise. Keine Zeugen, keine Schreie, keine Spuren von Kampf. Es war, als wären die Frauen in Luft aufgelöst worden. Es erinnerte ihn an andere, ungelöste Fälle aus seiner Vergangenheit, Fälle, die er nie abschließen konnte.
Der Instinkt war etwas, auf das Harrow bei seiner Arbeit immer vertraute. Er war ein Mann von Prinzipien, der an die Logik und die Beweisführung glaubte, aber er wusste auch, dass die dunkelsten Verbrechen oft eine unsichtbare Logik hatten, eine makabre Symmetrie, die sich dem Auge eines oberflächlichen Beobachters entzog.
Er zog seine Notizbuch heraus.
Emily Jenkins (17), Mary Kelly (19), Catherine Eddowes (21). Alle jung, alle aus Whitechapel oder angrenzenden Elendsvierteln. Alle spurlos verschwunden. Keine Leichen. Keine Anzeichen von Kampf. Keine Lösegeldforderungen.
„Miller“, sagte Harrow, ohne sich umzudrehen. „Ich will, dass Sie jeden verfügbaren Constable auf diesen Mr. Davies ansetzen. Beschreiben Sie ihn als charmanten Schürzenjäger. Und fragen Sie alle in der Nachbarschaft – die Marktfrauen, die Pub-Betreiber, die Kinder auf der Straße – ob sie in den letzten Wochen ungewöhnliche Männer beobachtet haben, die junge Frauen angesprochen haben könnten. Männer, die nicht hierher gehören.“
„Inspector, wir haben kaum genug Leute für die üblichen Patrouillen“, erwiderte Miller mit einem Seufzer. „Und der Fall ist... nun, er ist kaum zu unterscheiden von den Dutzenden anderen Vermisstenanzeigen.“
„Das ist er sehr wohl, Miller“, sagte Harrow mit einer Schärfe in der Stimme, die seinen Sergeant aufhorchen ließ. „Diese Frauen sind nicht einfach weggelaufen. Ich spüre es. Da ist ein Muster. Etwas, das uns entgeht. Diese drei Mädchen… es ist zu sauber. Zu still. Und ich will nicht, dass es noch ein viertes gibt.“
Miller nickte, irritiert, aber loyal. Er kannte den Eigensinn seines Inspektors. Wenn Harrow sich einmal in einen Fall verbissen hatte, ließ er nicht locker.
Harrow verließ das stickige Zimmer und ging die Treppe hinunter. Er trat wieder hinaus in den Nieselregen. Er zündete sich eine Zigarette an, der Rauch mischte sich sofort mit dem Nebel und dem feuchten Geruch der Stadt. Er dachte an die Worte von Mrs. Jenkins: „Jemand hat sie genommen.“
Dieser jemand war vorsichtig, methodisch und hinterließ keine Spuren. Die Vorstellung jagte Harrow einen kalten Schauer über den Rücken. Solche Täter waren die gefährlichsten. Sie waren die Schatten, die im Verborgenen agierten, die die Angst schürten, ohne sich je zu zeigen.
Er beschloss, am nächsten Tag seine unorthodoxeste Quelle anzuzapfen: Margaret Sinclair. Sie war eine brillante, aber für die viktorianische Zeit ungewöhnlich moderne Frau, eine Forensikerin, die ihre Methoden in den Pathologiezentren von Paris und Wien gelernt hatte. Sie war eine Außenseiterin bei Scotland Yard, oft belächelt, aber ihre Einsichten waren unbestreitbar. Vielleicht konnte sie in diesen scheinbar leeren Fällen ein Muster erkennen, das er selbst übersah.
Die Nacht senkte sich tiefer über Whitechapel. Die Gaslaternen flackerten, und der Nebel verschluckte die letzten Konturen der Häuser. In den dunklen Gassen Londons lauerte ein Jäger, der seine Beute nicht für Geld oder Rache suchte, sondern für etwas viel Grauenhafteres. Und Inspector Harrow spürte, dass der Schatten, der sich über die Stadt legte, erst der Anfang eines weitaus größeren Schreckens war.
Kapitel 2: Die Wissenschaft und der Instinkt
Der Morgen brach grau und verhangen über London an. Die schweren Wolken hingen tief, und der unablässige Nieselregen der letzten Nacht hatte sich in einen stetigen, melancholischen Dauerregen verwandelt. Die Straßen waren schlammig, und der Rauch der Schornsteine mischte sich mit dem feuchten Dunst zu einer undurchdringlichen Suppe, die die Sicht auf kaum mehr als ein paar Meter beschränkte.
Inspector Thomas Harrow fand sich um neun Uhr morgens im Büro von Margaret Sinclair wieder. Ihr Arbeitszimmer in einem weniger frequentierten Flügel von Scotland Yard war ein Kuriosum für sich. Während die meisten Büros der Detectives von Stapeln von Akten, verstaubten Karteikästen und dem Geruch von Tabak geprägt waren, roch es bei Miss Sinclair nach Alkohol, Formalin und einem Hauch von ätherischen Ölen.
Margaret Sinclair war eine Erscheinung, die in der männerdominierten Welt der viktorianischen Polizeiarbeit wie ein Fremdkörper wirkte. Sie war Ende zwanzig, ihr brünettes Haar zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden, ihre Kleidung war funktional und schlicht, aber stets makellos sauber. Ihre Augen, von einem klaren, stechenden Grün, waren scharf und aufmerksam. Sie trug keine Rüschen oder Verzierungen, ihre Hände waren nicht zart, sondern von der Arbeit gezeichnet – Hände, die Sezierinstrumente ebenso sicher führten wie eine Mikroskop.
Sie beugte sich über einen Tisch, der mit Glasplatten, Reagenzgläsern und einer Vielzahl obskurer Werkzeuge bestückt war. Ein menschliches Haar lag unter einem einfachen Vergrößerungsglas.
„Inspector Harrow“, sagte sie, ohne aufzusehen, ihre Stimme war klar und frei von jeder Koketterie. „Ich hatte Sie erwartet. Die Dritte, nicht wahr? Emily Jenkins.“
Harrow nickte. „Sie sind schnell informiert, Miss Sinclair.“
„Die Gerüchteküche bei Scotland Yard ist effizienter als jedes Telegrafensystem, Inspector. Und die Muster werden immer deutlicher, selbst für die unwilligsten Ohren.“ Sie richtete sich auf und sah ihn an. „Keine Leiche, keine Zeugen, keine Forderungen. Nur ein Schatten, der junge Frauen verschlingt.“
„Genau das“, erwiderte Harrow. „Und es beunruhigt mich zutiefst. Ich habe ein ungutes Gefühl. Diese Fälle fühlen sich nicht an wie die üblichen ‚weggelaufen‘-Geschichten.“
Margaret Sinclair bewegte sich zum Kohleofen, um eine Teekanne aufzustellen. „Ihr ‚ungutes Gefühl‘ ist oft präziser als jede der Statistiken, die meine Kollegen so sehr lieben, Inspector. Aber lassen Sie uns Fakten schaffen.“ Sie deutete auf einen freien Stuhl. „Setzen Sie sich. Erzählen Sie mir alles, was Sie haben.“
Harrow setzte sich und legte seine Mappe auf den Tisch. Er legte die spärlichen Berichte über Emily Jenkins, Mary Kelly und Catherine Eddowes vor. Er erzählte von den verzweifelten Familien, der Suche nach dem mysteriösen Mr. Davies – die bisher keine Ergebnisse gebracht hatte – und seiner eigenen Frustration über die Leere in den Akten.
„Es gibt keine physischen Beweise, Miss Sinclair. Keine Kampfspuren, keine Blutflecken, die auf Gewalt hindeuten würden. Es gibt absolut nichts.“
Margaret goss Tee ein und reichte ihm eine Tasse. „Das Fehlen von Beweisen ist an sich schon ein Beweis, Inspector. Es sagt uns etwas über den Täter. Es sagt uns, dass er methodisch vorgeht. Dass er seine Spuren beseitigt. Oder dass er niemals welche hinterlässt.“
Sie nahm die Notizen von Harrow. Ihre grünen Augen überflogen die Seiten, suchte nicht nach dem, was da stand, sondern nach dem, was fehlte.
„Alle jung, alle aus ähnlichen sozialen Schichten, alle unverheiratet“, murmelte sie. „Und alle verschwinden auf die gleiche, unheimlich saubere Weise. Das ist kein Zufall, Inspector. Das ist ein Schema. Und ein Schema deutet auf einen intelligenten Geist hin.“
Sie legte die Akten beiseite. „Betrachten wir das Psychologische. Was haben diese Frauen gemeinsam, abgesehen von ihrem sozialen Status?“
Harrow zögerte. „Nun, sie waren... unauffällig, würde ich sagen. Keine großen Auffälligkeiten. Aber auch keine Feinde, die bekannt wären.“
„Und ihr Aussehen?“, fragte Margaret. „Hatten sie auffällige Merkmale? Haarfarbe? Besonderheiten?“
Harrow dachte nach. „Mary Kelly hatte rotes Haar, sehr kräftig. Catherine Eddowes war brünett, mit langen, dunklen Locken. Und Emily Jenkins… blond, aber ein eher dunkles Blond. Nichts, was eine Verbindung herstellen würde.“
„Sagen Sie das nicht“, sagte Margaret leise. Sie nahm das einzelne Haar, das sie zuvor unter dem Vergrößerungsglas betrachtet hatte, und hielt es ins Licht. „Haben Sie sich jemals gefragt, wie viele Verbrechen in London geschehen, bei denen Haare eine Rolle spielen, die aber nie gefunden werden, weil niemand danach sucht?“
Harrow blickte sie verwirrt an. „Haare? Was meinen Sie?“
„Haare sind einzigartig, Inspector. Sie sind wie ein Fingerabdruck, wenn man weiß, wie man sie liest. Sie können uns die Farbe verraten, die Dicke, die Behandlung, die Gesundheit der Person. Und manchmal, wenn man sehr genau hinsieht, können sie uns sogar sagen, woher sie stammen.“
Sie stand auf und ging zu einem Schrank, aus dem sie ein kleines, ledergebundenes Buch holte. „Vor einigen Jahren, während meiner Ausbildung in Paris, gab es eine Reihe von Vermisstenfällen. Junge Frauen, die scheinbar spurlos verschwanden. Zufällig fand man ein einzelnes Haar an einem Ort, der mit keinem der Opfer in Verbindung gebracht werden konnte. Es war ein sehr spezifisches Haar – extrem fein, seidig, aber von einer unglaublichen Stärke. Und mit einer ganz bestimmten Mikroskopie.“
„Und was hat das ergeben?“, fragte Harrow, nun völlig gefesselt.
„Nichts für die Polizei in Paris“, sagte Margaret mit einem bitteren Lächeln. „Sie schüttelten den Kopf. Aber ich habe weitergeforscht. Es stellte sich heraus, dass dieses Haar aus einer Region in der Normandie stammte, wo die Menschen eine genetische Besonderheit im Haarwachstum hatten. Und das Haar war unbehandelt, jungfräulich.“
„Das ist faszinierend, aber... wie hilft uns das hier? Wir haben keine Haare. Keinerlei Spuren.“
„Noch nicht“, erwiderte Margaret. „Aber das Profil eines Täters, der junge Frauen entführt und spurlos verschwinden lässt, ohne Lösegeld, ohne sexuelle Gewalt, ohne die Leichen zurückzulassen... das deutet auf eine Obsession hin, Inspector. Eine sehr spezifische Obsession.“
Sie ging zu einer großen Karte von London, die an der Wand hing. Sie markierte die ungefähren Orte, an denen die drei Frauen zuletzt gesehen worden waren. Die Punkte lagen in Whitechapel und den angrenzenden Vierteln, aber es gab keine direkte Linie, kein klares Muster.
„Dieser Täter ist kein Gelegenheitsverbrecher, der im Affekt handelt“, fuhr Margaret fort. „Er ist jemand, der plant. Der sich vorbereitet. Der seine Umgebung kennt und weiß, wie man unauffällig bleibt. Und die Art der Opfer – jung, unverheiratet, oft mit schönem, unbehandeltem Haar, wie Sie es beschrieben haben – deutet auf eine ganz bestimmte Art von Fetisch hin.“
Harrow sah sie verblüfft an. „Sie glauben, es geht um… ihr Haar?“
Margaret nickte langsam. „Es ist eine Spekulation, Inspector. Aber wenn ein Täter so akribisch ist, keine Spuren zu hinterlassen, und die Opfer nur dieses eine Merkmal gemeinsam haben – abgesehen von ihrem sozialen Status – dann müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Vielleicht ist es nicht die Frau, die ihn interessiert, sondern ein Teil von ihr. Ein Teil, der etwas symbolisiert.“
„Aber warum? Und was macht er damit?“, fragte Harrow, ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Vorstellung war zutiefst verstörend.
„Das ist die Frage, Inspector. Und dafür müssen wir den Täter finden. Wir müssen nach dem Mann suchen, der nicht nur die Frauen verschwinden lässt, sondern auch ihr Haar. Der Mann, der etwas Wertvolles in diesen Strähnen sieht, das für uns noch unsichtbar ist.“
Sie blickte auf die Karte. „Wir müssen die Suche ausweiten. Nicht nur nach dem ominösen Mr. Davies. Wir müssen nach allen Ausschau halten, die sich in diesen Vierteln aufhalten, aber nicht dorthin gehören. Ein Mann, der zu sauber, zu gebildet, zu unauffällig ist. Jemand, der die Menschen um sich herum beobachtet, ohne selbst beobachtet zu werden. Und wir müssen auf das kleinste Detail achten, selbst auf das, was uns als bedeutungslos erscheint. Denn in der Wissenschaft ist nichts bedeutungslos, Inspector. Alles hat eine Geschichte.“
Harrow spürte, wie sich ein Puzzleteil in seinem Kopf zu bewegen begann. Haare. Die Vorstellung war makaber, aber sie passte zu der sauberen, spurlosen Art der Verbrechen. Ein obsessiver Sammler, der seine Trophäen verbarg. Ein Psychopath, dessen Leidenschaft in den dunklen Winkeln der viktorianischen Gesellschaft blühte.
„Miss Sinclair“, sagte Harrow, seine Stimme war leise, aber bestimmt. „Sie haben meine volle Unterstützung. Was auch immer Sie brauchen, um diese Geschichte zu entschlüsseln.“
Margaret nickte. „Dann beginnen wir damit, alle Haare zu sammeln, die wir finden können. Und wir werden uns die Liste der Perückenmacher in London ansehen. Die angesehenen, die obskuren. Alle. Denn wenn es um Haar geht, Inspector, ist das Handwerk der Masken oft näher am Verbrechen, als man denkt.“
Kapitel 3: Das Netz der Indizien
Die Zusammenarbeit zwischen Inspector Thomas Harrow und Margaret Sinclair intensivierte sich in den folgenden Tagen. Harrows Instinkt und Margarets wissenschaftliche Methodik begannen, ein unsichtbares Netz über die verschwundenen Frauen zu weben. Doch die anfängliche Begeisterung stieß schnell auf die harte Realität der Polizeiarbeit im Jahr 1887.
Sergeant Miller kehrte von seiner Suche nach "Mr. Davies" und anderen potenziellen Verdächtigen mit leeren Händen zurück. „Nichts, Inspector. Absolut nichts. Die Leute in Whitechapel reden nicht gerne mit uns. Und jeder, der einen Mantel und saubere Schuhe trägt, gilt hier als ‚nicht zugehörig‘. Der Davies war wohl nur ein Windhund, der Emily einen schönen Abend versprochen hat und dann abgetaucht ist. Wenn er überhaupt existiert hat.“
Harrow war frustriert. „Aber das Gefühl, Miller. Das ungute Gefühl. Es kann nicht sein, dass diese Mädchen einfach vom Erdboden verschwunden sind.“
„Inspector, ich weiß, Sie fühlen sich bei diesen Fällen unwohl, aber es ist London. Menschen verschwinden. Täglich“, sagte Miller achselzuckend. Seine pragmatische Sichtweise kollidierte oft mit Harrows feineren Instinkten.
Währenddessen vertiefte sich Margaret Sinclair in die wenigen Fakten, die sie hatten. Sie hatte eine Liste aller Perückenmacher und Friseure in London angefordert, eine Aufgabe, die von den zuständigen Bürokraten bei Scotland Yard mit einem Gemurmel über „Zeitverschwendung“ quittiert wurde. Sie ignorierte die Seitenblicke und das Tuscheln.
In ihrem Labor befasste sie sich mit allen verfügbaren Informationen, so spärlich sie auch waren. Sie verglich die Beschreibungen der Opfer, versuchte, Fotos zu finden, falls vorhanden, und konzentrierte sich auf jedes Detail, das ihre Haarfarbe, -länge und -beschaffenheit beschreiben könnte. Die Eltern der vermissten Mädchen wurden erneut befragt, dieses Mal mit einem sehr spezifischen Fokus auf die Haare ihrer Töchter.
Mrs. Jenkins erzählte unter Tränen, dass Emily, ihre Tochter, „die schönsten blonden Locken hatte, so weich wie Seide.“ Mr. Kelly, Marys Vater, erinnerte sich an das „Feuerrot in Marys Zöpfen.“ Und die Schwester von Catherine Eddowes beschrieb deren Haar als „dunkelbraun und so dick, dass kein Kamm es bändigen konnte.“
Margaret hörte genau zu, während Harrow die Familien befragte. Sie suchte nach den Nuancen, den unbewussten Hinweisen, die ein potenzielles Täterprofil schärfen könnten.
„Es sind nicht nur die Haare, Inspector“, erklärte Margaret Harrow eines Nachmittags, als sie gemeinsam eine Karte von London studierten. „Es ist die Qualität der Haare. Die Beschreibungen deuten auf unberührtes, unbehandeltes Haar hin. Junges Haar. Das ist ein sehr spezifischer Geschmack. Wer interessiert sich so sehr für unbehandeltes Frauenhaar, dass er dafür tötet?“
Harrow zog an seiner Zigarette. „Ein Perückenmacher? Ein Friseur? Aber warum sollte jemand so etwas tun, wenn er Haar auf legalem Wege erwerben kann?“
„Das ist die entscheidende Frage, nicht wahr?“, erwiderte Margaret. „Legal erworbenes Haar hat einen Preis. Und es ist nicht immer von der gewünschten Qualität. Oft ist es gefärbt, behandelt, nicht mehr ‚jungfräulich‘. Ein Täter mit einer solch obsessiven Präferenz könnte glauben, dass nur er die reinste Form des Materials beschaffen kann.“
Sie hatte inzwischen die Liste der Londoner Perückenmacher systematisiert. Es waren Hunderte. Sie teilte sie in Kategorien ein: die großen, etablierten Häuser, die kleinen, obskuren Läden, die Wanderfriseure.
„Wir müssen nach einem Mann suchen, der eine Verbindung zu diesen Vierteln hat, aber nicht in sie hineinpasst. Ein Mann, der sich unauffällig bewegen kann, der die Straßen kennt, aber nicht als jemand aus der Arbeiterklasse wahrgenommen wird“, fuhr Margaret fort. „Ein Mann, der geschickt ist, präzise, detailverliebt.“
Harrow spürte einen Schauer. Das beschrieb einen Teil von Edward Blackwood, wenn er nur daran dachte. Aber Edward Blackwood war ein respektabler Geschäftsmann.
„Was ist mit Blackwood’s – Fine Hair & Wig Artistry?“, fragte Harrow und deutete auf einen Eintrag auf Margarets Liste. „Sie sind in Bloomsbury, aber ich habe gehört, sie sind ziemlich exklusiv. Die Reichen und Schönen gehen dorthin.“
Margaret runzelte die Stirn. „Blackwood? Ja, ein sehr angesehener Name. Hervorragende Qualität, heißt es. Aber Bloomsbury ist weit von Whitechapel entfernt. Was sollte ein Geschäftsmann wie Blackwood dort suchen?“
„Vielleicht nichts direkt“, erwiderte Harrow. „Aber seine Produkte sind bekannt für ihre außergewöhnliche Qualität, nicht wahr? Besonders für unbehandeltes, natürliches Haar. Und die Preise… ich habe gehört, sie sind exorbitant.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Es war Constable Roberts, ein junger, eifriger Polizist.
„Inspector, Miss Sinclair, ich habe etwas. Ich habe mich in den Kneipen in Whitechapel umgehört. Und ein alter Trinker namens Paddy O'Connell hat etwas Ungewöhnliches gesehen.“
Harrow und Margaret sahen Roberts gespannt an.
„O'Connell schwört, vor etwa drei Wochen, am Abend als Emily Jenkins verschwand, einen Mann gesehen zu haben, der ‚zu fein für diese Gegend‘ war. Er hatte einen guten Mantel an und saubere Stiefel. Und er trug… er trug einen großen, schwarzen Koffer. Und er sprach mit Emily Jenkins. Er hat ihr etwas angeboten, und sie ist mit ihm gegangen.“
„Ein Koffer?“, fragte Harrow. „Was für ein Koffer?“
„O'Connell war betrunken, aber er sagte, es war ein sehr schicker Koffer. Aus Leder. Und er war nicht wie ein Handwerkerkoffer. Eher wie… wie ein Reisekoffer, aber kleiner. Er schien ihn mit großer Sorgfalt zu tragen.“
Margaret und Harrow tauschten einen Blick. Ein Koffer. Groß genug, um eine wertvolle Fracht zu transportieren, aber diskret genug, um nicht aufzufallen. Und die Beschreibung des Mannes – „zu fein für diese Gegend“, „guter Mantel“, „saubere Stiefel“ – passte perfekt zu dem Profil, das Margaret entworfen hatte.
„Hat O'Connell etwas über das Aussehen des Mannes gesagt? Gesicht? Alter?“, fragte Margaret.
„Nur, dass er blond war. Und seine Augen… O'Connell sagte, die Augen waren ‚tot‘. Aber das mag der Alkohol gewesen sein.“
Blond. Edward Blackwood hatte blondes Haar. Aber viele Männer in London hatten blondes Haar. Die Beschreibung war zu vage.
„Wir müssen diesen O'Connell finden, Constable. Und wir müssen ihn nüchtern befragen“, befahl Harrow. „Sofort. Fragen Sie ihn nach jedem Detail. Was der Mann sagte, wie er sich bewegte.“
„Und ich, Inspector“, sagte Margaret, „werde meine Aufmerksamkeit auf die Perückenmacher lenken, die sich auf die Beschaffung von unbehandeltem Haar spezialisiert haben. Und ich werde mich in den Lieferketten der Rohhaarlieferanten umsehen. Vielleicht gibt es jemanden, der ungewöhnlich große Mengen an unbehandeltem Haar kauft, oder der über Kanäle verfügt, die nicht den üblichen Wegen entsprechen.“
Harrow nickte. „Das ist es. Wir folgen jedem Faden. Der Mann mit dem Koffer. Die toten Augen. Die obsessiven Haare.“
Er blickte aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel blieb grau und bedrohlich. Der Schatten über Whitechapel begann, Konturen anzunehmen. Ein Schatten, der einen Namen hatte, wenn sie nur hart genug suchten.
Kapitel 4: Ein Blick in die Abgründe
Inspector Harrow handelte schnell. Er entsandte Constable Roberts, um den Trinker Paddy O'Connell zu finden und ihn für eine gründliche Befragung zur Wache zu bringen, wobei er befahl, ihm eine starke Tasse Kaffee und ein warmes Essen anzubieten, um seine Erinnerung aufzufrischen. Harrow wusste, dass in den Gassen Whitechapels die Wahrheit oft in den Köpfen der Vergessenen verborgen lag.
Währenddessen beschloss er, Margarets Hinweis auf Edward Blackwood nachzugehen, auch wenn die Verbindung nur spekulativ war. Er brauchte ein Gefühl, einen Eindruck von dem Mann, der die wohlhabende Elite mit seinen exquisiten Kreationen versorgte.
Harrow ließ seinen Mantel auf der Wache und zog stattdessen einen dunkleren, unauffälligeren Überzieher an. Er wechselte seine üblichen, polierten Stiefel gegen ein Paar, die den Schlamm Londons besser verbergen konnten. Er wollte nicht als Polizist auftreten, sondern als potenzieller Kunde oder Lieferant.
Bloomsbury war eine Welt entfernt von Whitechapel. Die Straßen waren breiter, die Häuser elegant und die Luft roch nach frisch gebackenen Kuchen und teurem Holz. Blackwood's – Fine Hair & Wig Artistry befand sich in einer ruhigen Seitenstraße, unauffällig, aber mit einem diskreten Charme, der Reichtum und Geschmack signalisierte.
Als Harrow den Laden betrat, umfing ihn sofort eine Atmosphäre der stillen Opulenz. Das Innere war dunkel vertäfelt, die Polstermöbel mit tiefrotem Samt bezogen. Die Beleuchtung war gedämpft, nur auf wenige, kunstvoll drapierte Perücken gerichtet, die wie schlafende Kunstwerke auf Ständern ruhten. Der Raum roch nach Zedernholz und feinem Puder – ein reiner, sauberer Duft, der den Schmutz der Stadt draußen hielt.
Hinter einem eleganten Schreibtisch aus Mahagoni saß Edward Blackwood selbst. Er war um die dreißig, sein Aussehen war so makellos wie seine Umgebung. Sein Anzug war perfekt geschnitten, sein blondes Haar ordentlich frisiert. Er besaß eine feingliedrige, fast zerbrechliche Erscheinung, die in merkwürdigem Kontrast zu der Stärke stand, die Harrow in seinen Augen sah.
Edwards Augen waren hellblau, fast farblos, und sie schienen Harrow nicht anzusehen, sondern ihn zu registrieren, ihn zu katalogisieren. Es war dieser Blick, den Paddy O’Connell als „tot“ beschrieben hatte – ein Blick, der frei von Wärme oder Neugier war, rein funktional.
„Kann ich Ihnen behilflich sein, mein Herr?“, fragte Edward. Seine Stimme war weich, kontrolliert und völlig neutral, wie ein gut gestimmtes Instrument.
Harrow beschloss, die Rolle eines unzufriedenen Kunden zu spielen. „Ich bin wegen meiner Frau hier. Sie… ist unzufrieden mit der Qualität einiger Haarteile, die sie kürzlich erworben hat. Sie meint, das Haar sei nicht so rein, wie es versprochen wurde.“
Edward lächelte, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Es war eine perfekt geübte soziale Maske. „Ich versichere Ihnen, Sir, die Qualität unserer Materialien ist unübertroffen. Wir verwenden nur das feinste, unberührte europäische Haar. Wir sind wählerisch. Aber ich verstehe Ihre Bedenken. Es gibt so viele Fälschungen auf dem Markt.“
Edward erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Er bewegte sich mit der anmutigen Präzision eines Tänzers, ohne überflüssige Bewegungen. Er war die reine Verkörperung von Kontrolle.
„Erlauben Sie mir, Ihnen das zu zeigen, Sir.“ Edward führte Harrow zu einer Vitrine, in der einige Haarteile ausgestellt waren. „Das hier, zum Beispiel. Dieses Stück ist aus dem Haar einer jungen schottischen Bäuerin gefertigt. Absolut unbehandelt. Sehen Sie sich diesen Glanz an. Die Kraft. Dieses Haar hat seine Seele behalten, weil es mit Respekt behandelt wurde.“
Harrow spürte einen kalten Schauer. Die Art und Weise, wie Edward das Wort „Seele“ benutzte, in Verbindung mit Haar, war zutiefst verstörend. Er sprach über dieses Material mit einer Intensität, die weit über bloßen geschäftlichen Stolz hinausging.
„Und wie beschaffen Sie so etwas Exklusives?“, fragte Harrow beiläufig. „Die Konkurrenz scheint ja Schwierigkeiten zu haben, solch ein ‚jungfräuliches‘ Haar aufzutreiben.“
Edward Blackwood hob eine Augenbraue. Er schien nicht beunruhigt, sondern eher amüsiert. „Nun, mein Herr, das ist das Geheimnis der Kunst. Wir haben unsere eigenen Kanäle. Sehr diskrete Kanäle. Man muss wissen, wo man suchen muss. Oftmals in den ärmeren Gegenden des Kontinents, wo die Menschen ihr Haar noch nicht chemisch verunreinigt haben. Es ist eine Frage des Geschmacks und der Entschlossenheit.“
Edwards Blick war nun direkt auf Harrow gerichtet, und in diesem Moment sah Harrow die kalte, berechnende Intelligenz hinter der Fassade. Edward war nicht nervös. Er war souverän.
„Und es ist eine Frage der Wertschätzung, Sir“, fuhr Edward fort. „Man muss das Potenzial des Materials erkennen. Viele sehen nur einen Zopf. Ich sehe… die Perfektion, die daraus entstehen kann. Ich erschaffe Kunst, die die Fehler der Natur korrigiert.“
Harrow verstand. Die Perücken waren nicht nur Produkte; sie waren die Vollendung seiner Obsession. Er nahm das unbehandelte Haar, das er sich auf makabere Weise beschafft hatte, und verwandelte es in etwas Legales, Schönes und von den Reichen Begehrtes. Die ultimative Tarnung.
Harrow entschuldigte sich höflich und versprach, mit seiner Frau über eine Rücksendung zu sprechen. Als er den Laden verließ, wusste er, dass Edward Blackwood der Mann war, den er suchte. Nicht aufgrund von Beweisen, sondern aufgrund der kalten, seelenlosen Obsession, die ihm aus den Augen funkelte. Die Lücke zwischen Whitechapel und Bloomsbury war nicht so groß, wie es schien. Sie war nur eine Frage der Entfernung, nicht der Tätermentalität.
Zurück bei Scotland Yard fand Harrow Margaret Sinclair und Sergeant Miller wartend vor. Constable Roberts hatte Paddy O’Connell in Gewahrsam gebracht.
„O'Connell war sehr kooperativ, als er nüchtern war“, sagte Miller. „Er erinnerte sich an mehr. Der Mann mit dem Koffer… er sagte, der Koffer sei nicht aus Leder gewesen, sondern aus Zedernholz. Er roch leicht nach Puder und… Zeder.“
Harrow erstarrte. Zedernholz. Die Art von Holz, das Edward Blackwood in seinem Laden roch.
„Und das ist noch nicht alles“, fügte Margaret hinzu, ihre grünen Augen glänzten vor Aufregung. Sie hielt eine Karte in der Hand. „Ich habe die Route von Whitechapel nach Bloomsbury studiert. Und ich habe die Rohhaarlieferanten überprüft. Edward Blackwood kauft sein Haar nicht über die üblichen Kanäle. Er behauptet, er beschafft es aus dem Ausland, aber es gibt keine Aufzeichnungen über große Einfuhren, die seine Reputation rechtfertigen würden.“
„Er hat seine eigenen Kanäle“, murmelte Harrow und erinnerte sich an Edwards Worte.
„Genau“, sagte Margaret. „Und O'Connell hat sich noch an etwas erinnert: Die verschwundene Emily Jenkins sagte zu dem Mann mit dem Koffer: ‚Aber Sie sagten, es wäre ein neuer Anfang in Ihrem Atelier.‘“
„Ein Atelier“, wiederholte Harrow. „Nicht nur ein Geschäft. Ein Ort, um zu arbeiten, um etwas zu erschaffen.“
Harrow schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir haben ihn. Die Kälte in seinen Augen, die fast chirurgische Präzision, wie er über Haar spricht, der Geruch von Zedernholz, der in seinem Laden hängt und der Koffer, der in Whitechapel gesehen wurde. Dieser Mann ist kein ehrbarer Geschäftsmann. Er ist der Sammler. Und der Mörder.“
„Aber wir haben keine Leichen, Inspector“, sagte Miller besorgt. „Wir haben nur Indizien und die Aussage eines Trinkers.“
„Dann müssen wir Beweise finden“, sagte Harrow entschlossen. Er wandte sich Margaret zu. „Miss Sinclair, ich brauche Sie. Wir fahren jetzt nach Bloomsbury. Wir werden Blackwood's durchsuchen. Ich werde einen richterlichen Durchsuchungsbefehl erwirken. Aber bis dieser da ist, werden Sie mir helfen, ihn inoffiziell unter die Lupe zu nehmen. Finden Sie den Geruch. Finden Sie die kleinste Spur, die uns zu den Mädchen führt.“
Harrow wusste, dass er aufs Ganze ging. Er setzte seine gesamte Karriere aufs Spiel. Aber er spürte, dass der Schatten von Edward Blackwood die Seelen Londons verzehrte. Und er musste diesen Schatten vertreiben.
Kapitel 5: Die Jagd in Bloomsbury
Die Stimmung bei Scotland Yard war angespannt. Inspector Harrow hatte mit seiner Anweisung, Edward Blackwood zu verfolgen, ein Wespennest geöffnet. Superintendent Davies, Harrows Vorgesetzter, war empört.
„Sie wollen das Geschäft eines angesehenen Londoner Perückenmachers durchsuchen, Harrow?“, wetterte Davies in seinem Büro, seine Stimme hallte durch den Raum. „Basierend auf der Aussage eines betrunkenen Mannes und den ‚Gefühlen‘ einer… einer Frau, die mit obskuren Methoden experimentiert? Das ist unerhört! Wir haben keine Leichen, keine handfesten Beweise!“
Harrow stand aufrecht da. „Superintendent, die Indizien verdichten sich. Die Art der verschwundenen Mädchen, Blackwoods Obsession mit unbehandeltem Haar, der Zedernholzkoffer, der Geruch im Laden… es passt alles zusammen.“
„Es passt zusammen in Ihrem Kopf, Harrow! Das ist kein Beweis für ein Gericht! Wenn Sie diesen Mann unbegründet belästigen, sind Ihre Karriere und die von Miss Sinclair beendet. Verstanden?“
„Verstanden, Sir“, sagte Harrow, doch seine Entschlossenheit war ungebrochen. Er wusste, er musste vorsichtig sein. Ein unbegründeter Zugriff könnte alles zerstören.
Er traf sich mit Margaret Sinclair und Sergeant Miller außerhalb der Wache, unter dem Schutz des trüben Londoner Himmels.
„Wir gehen nicht offiziell rein, Superintendent Davies hat sein Veto eingelegt“, erklärte Harrow leise. „Aber wir werden ihn beobachten. Und wir werden uns inoffiziell Zugang verschaffen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Miller, Sie bleiben draußen und halten die Augen offen. Jede Bewegung, jeder Besucher, jeder Transport. Margaret, Sie kommen mit mir. Wir brauchen Ihre Nase und Ihre Augen im Inneren.“
Margaret nickte. „Ich habe meine Utensilien dabei. Wenn es eine Spur gibt, werde ich sie finden.“
Sie machten sich auf den Weg nach Bloomsbury. Das Viertel war zu dieser Tageszeit belebter. Kutschen rollten über die Straßen, elegante Damen schlenderten durch die Geschäfte.
Harrow und Margaret positionierten sich in einem kleinen Café gegenüber von Blackwood's. Sie bestellten Tee und taten so, als würden sie die Zeitung lesen, während sie den Laden im Auge behielten.
Es war eine nervenaufreibende Wartezeit. Edward Blackwood betrat und verließ sein Geschäft mehrmals, stets makellos gekleidet, seine Bewegungen präzise und kontrolliert. Er begrüßte Kunden, nahm Lieferungen entgegen. Er war die Verkörperung des angesehenen Geschäftsmanns.
Am späten Nachmittag, kurz vor Ladenschluss, geschah etwas Unerwartetes. Eine ältere Dame, die den Laden verließ, stolperte und ließ eine kleine Handtasche fallen. Ihre Habseligkeiten, darunter ein silberner Spiegelt, ein Taschentuch und ein paar Münzen, verteilten sich auf dem Bürgersteig.
Edward Blackwood eilte sofort herbei. Mit seiner üblichen, überaus höflichen Art half er der Dame, ihre Sachen aufzusammeln. Er kniete sich dabei auf den Bürgersteig.
Harrow und Margaret sahen ihre Chance.
„Jetzt“, flüsterte Harrow. „Miller, bleiben Sie postiert. Margaret, folgen Sie mir. Wir tun so, als würden wir helfen.“
Sie eilten über die Straße. Als sie ankamen, stand Edward gerade auf. Er hatte einen seiner Handschuhe ausgezogen, um der Dame beim Aufheben der Münzen zu helfen. Seine nackte Hand berührte kurz den schmutzigen Bürgersteig.
„Oh, lassen Sie mich helfen, gnädige Frau“, sagte Harrow, spielte den hilfsbereiten Bürger. Er kniete sich ebenfalls hin. Margaret tat dasselbe.
Während Harrow der alten Dame beim Aufsammeln ihrer Sachen half, nutzte Margaret die Gelegenheit. Ihr Blick huschte zu Edward Blackwood. Ihre Augen suchten.
Und sie fand es.
An der Sohle von Edwards elegantem Stiefel, kaum sichtbar im Schmutz, klebte ein winziges, kaum wahrnehmbares Fädchen. Es war kein gewöhnlicher Straßenschmutz. Es war ein einzelnes, feines Haar, eingebettet in eine kleine Kruste aus getrocknetem Schlamm.
In einem Sekundenbruchteil, mit der Geschicklichkeit einer Taschendiebin, die sie sich im Labor angeeignet hatte, führte Margaret ihre Hand unauffällig über den Stiefel, während sie vorgab, einen heruntergefallenen Knopf aufzuheben. Ihre Finger taten so, als würden sie den Dreck abstreifen, aber in Wahrheit löste sie das kleine Haar und verbarg es in ihrer Handfläche.
Edward Blackwood bemerkte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine Fassade aufrechtzuerhalten.
„Ich danke Ihnen allen vielmals, welch eine Freundlichkeit“, sagte die alte Dame gerührt.
Als sich die Szene auflöste, und Edward in seinen Laden zurückkehrte, zogen sich Harrow und Margaret in eine Gasse zurück.
Margaret öffnete ihre Hand. Dort lag das Haar. Es war dunkelblond, sehr fein, aber von einer bemerkenswerten Kraft. Eingebettet in dem Schmutz war auch ein winziges Stückchen Lehm, dessen Farbe und Konsistenz nicht zu den typischen Böden Bloomsburys passte.
„Ich habe es, Inspector“, flüsterte Margaret, ihre Augen funkelten. „Ein Haar. Und Lehm.“
„Von Emily Jenkins?“, fragte Harrow aufgeregt. Emily hatte dunkles, feines Blondhaar.
„Das können wir noch nicht sagen“, erwiderte Margaret. „Aber dieser Lehm… er sieht aus wie der, den man oft an den Ufern der Themse in der Nähe der Docks findet. Nicht der Schlamm von Bloomsbury.“
„Also war er in Whitechapel“, sagte Harrow. „Oder in den Docks. Genau da, wo Emily Jenkins zuletzt gesehen wurde.“
„Wir müssen es untersuchen“, sagte Margaret. „Sofort. Und wir müssen uns eine offizielle Genehmigung besorgen, um Blackwood’s zu durchsuchen. Das hier könnte der Beweis sein, den wir brauchen.“
Harrow war entschlossen. Er wusste, dass Superintendent Davies ihn zur Rede stellen würde. Aber er hatte jetzt etwas Greifbares. Ein Haar, ein Stück Lehm. Die Brücke zwischen der Eleganz Bloomsburys und dem Elend Whitechapels.
Sie kehrten in Margarets Labor zurück. Mit feinsten Instrumenten entnahm Margaret das Haar aus dem Lehm. Sie präparierte es unter dem Mikroskop. Harrow sah ihr über die Schulter.
„Die Struktur…“, murmelte Margaret. „Sehr fein. Sehr seidig. Und unbehandelt. Es ist junges Haar.“
Sie verglich es mit den spärlichen Beschreibungen von Emily Jenkins, die sie von den Eltern erhalten hatte. Es passte. Aber nur eine DNA-Analyse könnte es zweifelsfrei beweisen. Eine Methode, die im Jahr 1887 noch in den Sternen stand.
„Wir brauchen mehr“, sagte Harrow. „Wir brauchen etwas im Laden selbst. Etwas, das uns zu Emily Jenkins und den anderen führt.“
In diesem Moment, als sie das Haar unter dem Mikroskop betrachteten, hörten sie ein Klopfen an der Labortür. Es war Sergeant Miller, sein Gesicht war aschfahl.
„Inspector, Miss Sinclair, Sie müssen das sehen“, sagte Miller, seine Stimme war gedämpft. „Die Abendausgabe der Evening News…“
Er hielt eine Zeitung hoch. Die Schlagzeile war fett gedruckt, schwarz auf weiß, und sie schlug wie ein Blitz in die stille Intensität des Labors ein.
„Schrecklicher Fund in Whitechapel – Zweiter Fall der ‚Haarmorde‘?“
Darunter ein grober Holzstich: das Bild einer jungen Frau, die entsetzt in die Ferne blickt. Der Artikel sprach von dem grausamen Fund einer Leiche in einer Gasse nahe den Docks. Die Tote war Sarah Jenkins, die Mutter von Emily Jenkins. Und die Zeitung erwähnte ein grausames Detail: Der Leiche fehlte ihr Haar.
Harrow und Margaret starrten auf die Zeitung. Sarah Jenkins. Die Mutter der vermissten Emily. Und ihr Haar war entfernt worden. Das war keine bloße Mordserie mehr. Das war eine Botschaft. Eine Warnung.
Edward Blackwood hatte nicht nur die Tochter genommen, sondern nun auch die Mutter. Und er hatte eine Spur hinterlassen, die sie nicht ignorieren konnten. Er hatte sie herausgefordert.
„Er hat ihr Haar genommen“, flüsterte Margaret, ihre Stimme war kaum hörbar. „Er hat ihre Trauer und ihre Verzweiflung bestraft. Das ist ein Akt der Verhöhnung.“
Harrow schloss die Augen. Der Psychopath hatte seine Handschuhe abgenommen. Die Jagd hatte sich von einer stillen Beobachtung in einen offenen Krieg verwandelt.
Kapitel 6: Eine grausame Botschaft
Die Nachricht von Sarah Jenkins’ Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch London. Die Evening News und andere Zeitungen stürzten sich auf die Geschichte, skandalisierten die „Haarmorde“ und schürten die Angst in der Bevölkerung. Plötzlich waren nicht nur die ärmeren Viertel betroffen, sondern die Möglichkeit, dass ein solcher Täter die Grenzen überschreiten könnte, verunsicherte alle Schichten. Für Inspector Harrow war es eine Katastrophe – und eine Gelegenheit.
Superintendent Davies, nun unter enormem öffentlichem Druck, war gezwungen, seine Blockade aufzugeben. „Harrow, Sie haben jetzt meine volle Unterstützung“, knurrte er, seine Stimme war vor Wut und Frustration heiser. „Jede Ressource, die Sie brauchen. Aber wehe Ihnen, Sie finden nicht diesen Wahnsinnigen. Und wehe Ihnen, wenn Ihre… unorthodoxen Methoden versagen.“
Harrow nickte. Er hatte seine Freigabe. Nun musste er liefern.
Er und Margaret eilten zum Tatort in Whitechapel. Die Gasse war überfüllt mit neugierigen Gaffern und einer Heerschar von Constables, die versuchten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Anblick war entsetzlich. Sarah Jenkins lag dort, wo sie gefunden worden war, ihr Gesicht verzerrt von Panik und Schmerz. Ihr Kopf war kahl. Nicht nur ein Teil, sondern ihr gesamtes Haar war mit einer schockierenden Präzision entfernt worden.
„Er hat es abrasiert, Inspector“, sagte der diensthabende Gerichtsmediziner, Dr. Abernathy (ein entfernter Verwandter von Edwards ehemaligem Lehrmeister, aber in einem gänzlich anderen Feld tätig), sein Blick war entsetzt. „Nicht gerissen, nicht grob entfernt. Clean. Als ob er ein Skalpell benutzt hätte. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
Margaret Sinclair kniete sich neben die Leiche. Ihre professionelle Distanz wich einer kühlen Wut. Die Beseitigung des Haares war kein bloßes Detail. Es war eine zutiefst persönliche, grausam kalkulierte Botschaft.
„Das ist ein Akt der Verhöhnung, Inspector“, sagte Margaret leise, ihre Stimme scharf wie Eis. „Er nimmt nicht nur ihr Haar. Er entmenschlicht sie. Er raubt ihr ihre Identität, als Strafe für ihre Verzweiflung. Und es ist eine Nachricht an uns. Er will, dass wir wissen, was er tut.“
Sie untersuchte den Boden um die Leiche herum. Der Schlamm war tief. Sie bemerkte winzige Spuren, die von feinen, sauberen Stiefeln stammten, die sich nur leicht in den Morast gedrückt hatten.
„Die Spuren sind hier dünn, aber sie sind da“, sagte sie. „Er hat sich bewegt, er hat gehandelt. Und er war nicht in Eile. Das ist die Kaltblütigkeit eines Psychopathen.“
Harrow sah sich um. Er bemerkte etwas Ungewöhnliches. An einer zerbrochenen Ziegelwand, direkt über Sarah Jenkins’ Kopf, war mit Kreide eine einzelne, geschwungene Linie gezogen worden. Es war kein Wort, kein Symbol. Nur eine dünne, elegante Linie, die an ein einzelnes, wehendes Haar erinnerte.
„Sehen Sie das, Miss Sinclair?“, fragte Harrow und zeigte darauf.
Margaret folgte seinem Blick. Ihre Augen weiteten sich. „Die Linie… sie ist zu präzise. Zu absichtlich. Es ist seine Signatur.“
Sie bat die Constables, Fotos von der Linie zu machen und Gipsabdrücke von den Stiefelabdrücken zu nehmen. Harrow wusste, dass die Zeit drängte. Blackwood hatte seine Maske fallen lassen. Er spielte ein Spiel, und sie waren seine Figuren.
Zurück im Labor von Scotland Yard untersuchte Margaret das von Edward Blackwoods Stiefel entnommene Haar unter dem Mikroskop. Der Lehm passte perfekt zu den Proben, die sie von der Dorset Street und den Docks genommen hatte. Aber das Haar…
Sie hatte ein mikroskopisches Vergleichsverfahren entwickelt, das sie in Paris gelernt hatte. Es war die Vorstufe zur modernen Forensik, damals noch revolutionär. Sie verglich das Haar von Blackwoods Stiefel mit den Haaren, die sie von den Bürsten und Kleidern von Emily Jenkins und anderen verschwundenen Frauen sammeln konnte – spärliche Überbleibsel, die von den Familien aufbewahrt worden waren.
„Es ist ein Match, Inspector“, sagte Margaret schließlich, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber erfüllt von triumphaler Bestätigung. „Das Haar von Blackwoods Stiefel stimmt mit dem Haar von Emily Jenkins überein. Die Farbe, die Struktur, die Mikroskopie. Es ist ihr Haar.“
Harrow spürte einen Adrenalinstoß. „Das ist der Beweis, den wir brauchen! Das reicht für einen Durchsuchungsbefehl! Superintendent Davies kann uns jetzt nicht mehr aufhalten!“
Er rief sofort Davies an, der die Nachricht mit einem verblüfften Schweigen aufnahm. „Haar? Ein Match? Bei Gott, Harrow. Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber bringen Sie diesen Mann lebend herein. Ich will, dass er spricht.“
Harrow und Miller, begleitet von einem Dutzend bewaffneter Constables, machten sich auf den Weg zu Blackwood's Fine Hair & Wig Artistry. Der Regen hatte eingesetzt, und die Straßen waren glitschig. Die Anspannung war greifbar.
Als sie vor dem Laden ankamen, war es bereits dunkel. Nur ein schwaches Licht brannte im Schaufenster. Die Tür war verschlossen.
„Stürmen Sie die Tür, Männer!“, befahl Harrow.
Die Constables rammten die schwere Holztür auf. Ein knirschendes Geräusch hallte durch die stille Straße. Sie stürmten hinein, die Laternen der Constables warfen wilde Schatten.
Der Laden war leer. Die makellosen Perücken standen unberührt auf ihren Ständern, die Samtvorhänge waren zugezogen. Der Geruch von Zedernholz und Puder hing in der Luft.
„Blackwood!“, rief Harrow. „Kommen Sie heraus! Scotland Yard!“
Doch es gab keine Antwort.
Sie durchsuchten den Laden, jeden Winkel. Die luxuriösen Verkaufsräume, die diskreten Beratungszimmer. Alles war tadellos, perfekt. Keine Spur von Blackwood.
Harrow drang in die private Werkstatt hinter dem Laden vor. Dort war es anders. Zwar auch makellos sauber, aber die Atmosphäre war eine andere. Der Geruch von Zedernholz war hier intensiver, fast erdrückend.
In der Mitte des Raumes stand ein großer Arbeitstisch. Darauf lagen feine Werkzeuge: winzige Scheren, Haken, Kämme. Und daneben, auf einer Seidenunterlage, lagen mehrere, kunstvoll geflochtene Zöpfe aus verschiedenfarbigem Haar. Blond, rot, dunkelbraun. Es waren die Farben von Emily Jenkins, Mary Kelly und Catherine Eddowes.
Harrow spürte, wie ihm kalt wurde. Diese Haare. Sie waren seine Trophäen.
Ein Constable fand eine verschlossene Tür, die unter der Werkbank versteckt war.
„Hier, Inspector! Es ist ein Kellergewölbe!“
Harrow befahl, die Tür aufzubrechen. Sie stießen auf einen schmalen Gang, der in die Dunkelheit führte. Der Geruch hier war anders. Ein modriger, feuchter Geruch. Der Geruch von Erde.
Sie folgten dem Gang. Er führte zu einem kleinen, unterirdischen Raum. Es war kein Verlies, keine Zelle. Es war ein Atelier. Ein weiterer Arbeitsbereich.
In der Mitte stand ein weiterer Tisch. Darauf lagen weitere Haarbündel. Und an der Wand hingen sorgfältig archivierte Zöpfe, fein säuberlich beschriftet und datiert. Hunderte von ihnen. Eine makabre Bibliothek des Todes.
Und dann sahen sie es.
An einem Ende des Raumes, in einer Nische, standen mehrere, lebensechte Büsten aus Wachs. Auf jeder Büste thronte eine perfekt gefertigte Perücke. Jede einzelne dieser Perücken trug das Haar einer der verschwundenen Frauen. Und in der Mitte dieser Büsten stand eine, die mit dem goldenen Haar von Emily Jenkins geschmückt war. Es war nicht nur eine Perücke; es war ein Kunstwerk der Transformation.
Harrow spürte eine Welle der Übelkeit. Edward Blackwood hatte diese Frauen getötet, um ihre Haare zu sammeln, um sie in diese grotesken Kunstwerke zu verwandeln. Es war eine perverse Kunstform, ein Denkmal für seine Macht und Kontrolle.
„Kein Zeichen von ihm“, sagte Miller, der den Raum durchsuchte. „Er muss uns bemerkt haben.“
Harrow ging zu den Büsten. Er berührte das Haar auf der Büste von Emily Jenkins. Es war kalt und leblos, aber in seiner Perfektion schien es noch immer die Energie ihres jungen Lebens zu tragen.
„Er ist noch hier“, sagte Margaret, ihre Stimme war plötzlich scharf. Sie zeigte auf den Boden, nahe einer der Büsten. Dort, im Lehmboden, war die gleiche geschwungene Linie eingeritzt worden, die sie an Sarah Jenkins’ Tatort gefunden hatten.
Es war eine neue Botschaft. Eine neue Herausforderung.
Und dann bemerkten sie es. Aus der gegenüberliegenden Wand, die von den Büsten verdeckt war, drang ein leises, kaum hörbares Geräusch. Ein Kratzen. Ein Schaben.
„Da!“, rief Harrow. „Er ist hinter dieser Wand!“
Die Constables begannen, die Wand einzuschlagen. Der Putz bröckelte, Ziegelsteine fielen. Dahinter offenbarte sich ein schmaler Tunnel.
Aus dem Tunnel drang ein Geruch. Der Geruch von frischer Erde. Und der Geruch von Angst.
Edward Blackwood war geflohen. Aber er hatte seine Trophäen zurückgelassen. Und eine neue, grausame Spur.
Kapitel 7: Die Katakomben Londons
Die Entdeckung des Fluchttunnels war ein Schock. Edward Blackwood war ihnen entwischt, hatte sich aber mit der makabren Ausstellung seiner Trophäen und der eingravierten Signatur überdeutlich zu erkennen gegeben. Harrow wusste, dass sie es mit einem hochintelligenten und gerissenen Gegner zu tun hatten, der sie aktiv verspottete.
„Er muss einen Weg haben, um zu entkommen, ohne gesehen zu werden“, sagte Margaret, während sie den Eingang des Tunnels untersuchte. Der Schacht war eng und dunkel, roch nach frischer Erde und feuchtem Gestein. „Dieser Tunnel wurde nicht über Nacht gegraben. Das ist akribische Planung.“
„Dieser Mann ist kein einfacher Mörder“, erwiderte Harrow. „Er ist ein Architekt des Verbrechens.“
Die Constables wurden angewiesen, den Tunnel zu betreten und Blackwood zu verfolgen, doch der Schacht war zu eng für mehrere Männer gleichzeitig. Nur einer konnte kriechen, und die Dunkelheit und das Unbekannte machten die Verfolgung gefährlich.
Harrow und Margaret untersuchten unterdessen Blackwoods geheimes Atelier. Die Sammlung von Haaren war atemberaubend in ihrer Umfang. Hunderte von Zöpfen, Strähnen und Haarteilen, sorgfältig archiviert. Auf jeder Schublade befanden sich kleine, handgeschriebene Etiketten: "Blond, fein, Emily J.", "Rot, kräftig, Mary K.", "Brünett, dicht, Catherine E.". Es war eine Bibliothek des Todes, ein makabres Denkmal für seine Opfer.
„Er hat die Identität jeder Frau katalogisiert“, flüsterte Margaret, ihr Gesicht war von Abscheu verzerrt. „Er wusste genau, wen er getötet hat. Das ist keine zufällige Jagd.“
An einer Wand entdeckte Harrow eine große Karte von London, die mit roten Markierungen versehen war. Die Markierungen waren an strategischen Punkten platziert – verlassene Lagerhäuser, ungenutzte Kellerräume, Zugangspunkte zu Londons riesigem unterirdischen Netzwerk aus Abwasserkanälen und ehemaligen Tunneln.
„Er hat das alles geplant“, sagte Harrow, der die Karte studierte. „Die Entführungen, die Beseitigung der Leichen, die Fluchtwege. Er hat sich ein ganzes System geschaffen.“
„London hat ein riesiges Labyrinth unter der Erde, Inspector“, erklärte Margaret. „Verlassene U-Bahn-Schächte, alte Grabkammern, Überreste römischer Bauten und das ausgedehnte Kanalsystem. Ein Mann wie Blackwood könnte sich dort monatelang verstecken, wenn er nur die richtigen Zugänge kennt.“
Die Verfolgung im Tunnel erwies sich schnell als schwierig. Die Constables kehrten nach einer Stunde zurück, erschöpft und mit schmutzigen Uniformen. „Der Tunnel ist lang, Inspector“, berichtete einer von ihnen. „Und er verzweigt sich. Wir sind auf mehrere Gänge gestoßen, die in verschiedene Richtungen führen. Wir haben ihn verloren.“
Harrow spürte eine Welle der Frustration, aber auch eine neue Klarheit. Blackwood war nicht einfach nur geflohen; er hatte sich in sein Netzwerk zurückgezogen.
„Miss Sinclair“, sagte Harrow, „wir müssen dieses Netzwerk verstehen. Wir müssen seine Routen identifizieren. Können Sie diese Karte analysieren? Können Sie seine potenziellen Verstecke oder Fluchtpunkte vorhersagen?“
Margaret nickte. „Ich werde es versuchen. Es ist eine Frage der Logik. Ein Psychopath wie Blackwood wird nicht zufällig handeln. Er wird Muster haben, Präferenzen.“
In der Zwischenzeit musste Harrow die Öffentlichkeit beruhigen. Die Geschichte von Sarah Jenkins’ Tod und die "Haarmorde" war zu einer nationalen Sensation geworden. Die Zeitungen forderten die sofortige Ergreifung des Täters. Superintendent Davies verlangte täglich Berichte.
„Wir müssen eine öffentliche Warnung herausgeben“, sagte Harrow zu Davies. „Besonders an junge Frauen in den ärmeren Vierteln. Sie müssen wissen, dass ein Raubtier unterwegs ist.“
Davies zögerte. „Das würde nur Panik schüren, Harrow. London ist ohnehin schon unruhig.“
„Die Panik ist bereits da, Sir. Wir müssen die Menschen informieren, damit sie sich schützen können. Dieser Täter ist anders. Er ist kein gewöhnlicher Dieb oder Vergewaltiger.“
Davies gab schließlich nach. Eine offizielle Warnung wurde in den Zeitungen veröffentlicht, in der junge Frauen, insbesondere solche mit langem, unbehandeltem Haar, aufgefordert wurden, nicht allein zu gehen und Fremden gegenüber misstrauisch zu sein.
Währenddessen vertiefte sich Margaret Sinclair in ihre Arbeit. Sie verglich Blackwoods Karte mit alten Stadtplänen und Bauplänen der Londoner Unterwelt, die sie in den Archiven von Scotland Yard auftrieb. Sie suchte nach Verbindungen, nach den scheinbaren "Mustern", die Blackwood nutzen würde.
„Er sucht die Abgeschiedenheit“, murmelte Margaret vor sich hin. „Orte, die vergessen sind, die keinen regelmäßigen Zugang haben. Aber er braucht auch Nähe zu den Vierteln, in denen er seine Opfer findet.“
Sie entdeckte mehrere potenziell genutzte Zugänge zum Kanalsystem und zu verlassenen Kellern in der Nähe von Whitechapel und den Docks. Und sie fand ein besonders großes, altes Lagerhaus in Shadwell, das seit Jahren leer stand und einen direkten Zugang zu einem alten Tunnel unter der Themse besaß.
„Hier“, sagte Margaret schließlich zu Harrow, als er am nächsten Morgen in ihr Labor kam. „Ich glaube, dies könnte ein Hauptversteck sein. Ein altes Lagerhaus in Shadwell. Es hat eine ideale Lage für ihn – nah an den Docks, aber abgelegen genug, um nicht aufzufallen. Und es hat einen direkten Zugang zu einem alten Tunnel, der angeblich ins Zentrum von London führt.“
Harrow musterte die Karte. Das Lagerhaus in Shadwell. Es passte zu Blackwoods Profil der Diskretion und der Abgeschiedenheit.
„Wir schlagen dort zu“, sagte Harrow entschlossen. „Miller, sammeln Sie alle verfügbaren Constables. Wir rücken heute Nacht aus. Leise. Diskret. Blackwood darf uns nicht kommen sehen.“
Doch Harrow hatte ein beunruhigendes Gefühl. Blackwood war nicht nur ein Jäger; er war auch ein Meister der Täuschung. Hatte er seine Trophäen zurückgelassen, um sie in die Irre zu führen? War die Karte, die sie im Atelier gefunden hatten, eine Finte?
Harrow beschloss, auf eine doppelte Strategie zu setzen. Er würde das Lagerhaus in Shadwell stürmen lassen, aber er würde auch eine kleine, unauffällige Einheit in Bereitschaft halten, um andere potenzielle Fluchtwege zu überwachen, die Margaret identifiziert hatte.
Er wusste, dass sie in einem Spiel gegen einen Psychopathen spielten, der immer einen Schritt voraus war. Die Katakomben Londons würden nicht nur ihr Schlachtfeld sein, sondern auch ihr Grab, wenn sie nicht aufpassten. Die Jagd hatte erst begonnen.
Kapitel 8: Im Herzen des Labyrinths
Die Nacht legte sich schwer und nebelverhangen über Shadwell. Das alte Lagerhaus, ein massiver Backsteinbau mit zerbrochenen Fenstern, ragte wie eine Skelettruine in den dunstigen Himmel. Der Geruch der Themse, modrig und salzig, vermischte sich mit dem Gestank von Verfall und Fäulnis. Dies war ein Ort, den die Zeit vergessen hatte, perfekt für einen Mann wie Edward Blackwood.
Inspector Harrow stand mit Sergeant Miller und einem Dutzend Constables im Schutz der Dunkelheit. Die Männer waren angespannt, ihre Atemwolken stiegen in die kalte Luft. Margaret Sinclair, in einen dicken Mantel gehüllt, stand neben Harrow, ihr Blick war fest auf das Lagerhaus gerichtet. Sie hatte eine Laterne und ihre forensischen Werkzeuge dabei.
„Miller, Sie nehmen die Flanke links“, befahl Harrow leise. „Constable Johnson, Sie sichern die Rückseite. Niemand darf hier rein oder raus, ohne dass wir es wissen. Wenn Sie Blackwood sehen, fangen Sie ihn lebend. Wenn er sich wehrt… schützen Sie sich.“
Die Männer nahmen ihre Positionen ein. Harrow und Margaret näherten sich dem Haupttor. Es war mit einem schweren Riegel gesichert, der jedoch alt und verrostet war.
„Er will nicht, dass man ihn leicht findet“, flüsterte Margaret. „Aber er will uns auch nicht aufhalten, solange er sich in Sicherheit wähnt.“
Harrow brach den Riegel mit einer Brechstange auf. Ein lautes Knarren hallte durch die Nacht. Sie traten ein.
Das Innere des Lagerhauses war eine riesige, dunkle Höhle. Hohe Decken, von denen Spinnweben hingen, und ein Boden aus gestampfter Erde. Überall stapelten sich verrottete Kisten und alte Planen. Der Raum war kalt und leer, die Luft schwer und stickig.
„Blackwood!“, rief Harrow. Seine Stimme verhallte in der leeren Halle. Keine Antwort.
Sie begannen, das Lagerhaus systematisch zu durchsuchen. Das Licht ihrer Laternen tanzte über die Schatten, deckte Ecken und Winkel auf, die seit Jahrzehnten unberührt geblieben waren.
Margaret ging langsamer vor, ihre Augen suchten nicht nach Blackwood, sondern nach Hinweisen auf seine Anwesenheit. Sie bemerkte kleine Details: ein sauberer Fußabdruck in einer Schicht aus Staub, ein frisch aufgewühlter Erdhügel, ein schwacher, aber unverkennbarer Geruch von Zedernholz, der sich mit dem Modergeruch des Lagerhauses vermischte.
„Hier, Inspector“, sagte Margaret schließlich. Sie stand vor einer unscheinbaren Stelle in der hintersten Ecke des Lagerhauses, wo eine Ansammlung von alten Fässern stand. Hinter den Fässern war ein schmaler Spalt in der Wand.
Harrow leuchtete hinein. Es war ein weiterer Tunnel, diesmal breiter als der in Bloomsbury, aber ebenfalls roh und unfertig. Der Geruch von feuchter Erde war hier noch stärker.
„Er hat hier weitergegraben“, sagte Harrow. „Er hat sich ein Zuhause im Untergrund geschaffen.“
Sie drangen in den Tunnel ein. Die Luft wurde feuchter und kälter. Der Tunnel führte tief unter die Erde, der Boden war uneben. Plötzlich öffnete sich der Tunnel in einem größeren, gemauerten Gang. Es war ein Teil des alten Londoner Abwassersystems, das seit den großen Kanalisationen ungenutzt war.
Die Wände waren feucht, das Wasser tropfte von der Decke. Der Geruch von Fäulnis war hier überwältigend. Harrow spürte ein Ziehen in seinem Magen.
„Er ist hier unten“, flüsterte Margaret. „Der Geruch von Zedernholz ist stärker geworden. Und ich rieche auch… Formalin. Er hat hier gearbeitet.“
Sie folgten dem Gang. Das Wasser rauschte irgendwo in der Ferne. Der Gang war unheimlich still, nur unterbrochen vom Echo ihrer Schritte und dem leisen Klopfen von Harrows Herzschlag.
Plötzlich hörten sie Geräusche. Ein leises Schaben, ein Klicken, ein leises Summen. Es kam aus einer Seitenkammer.
Harrow signalisierte den Constables, die Waffen zu ziehen. Er schlich sich mit Margaret an den Eingang der Kammer.
Es war eine überraschend gut beleuchtete Höhle. Gaslampen hingen von der Decke, warfen ein warmes Licht auf einen Raum, der sowohl ein makabres Labor als auch ein luxuriöses Atelier war.
In der Mitte des Raumes stand Edward Blackwood. Er war in einen makellosen weißen Arbeitskittel gekleidet, seine blonden Haare waren leicht zerzaust, aber sein Gesicht war von der gleichen kalten Konzentration geprägt, die Harrow bereits in seinem Laden gesehen hatte.
Er beugte sich über einen Tisch, auf dem die Werkzeuge lagen, die Harrow aus seinem Atelier in Bloomsbury kannte. Und vor ihm… lag ein Mädchen.
Es war eine junge Frau, vielleicht sechzehn Jahre alt, ihr Körper war blass und regungslos. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände gefaltet. Sie war tot. Aber ihr Gesicht war ruhig, fast friedlich.
Und Edward Blackwood war dabei, ihr Haar zu entfernen. Er benutzte ein kleines, scharfes Skalpell, das er mit chirurgischer Präzision führte. Ein dicker, blauschwarzer Zopf lag bereits auf einem Seidentuch neben ihr.
Harrow spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Sie waren zu spät gekommen.
„Blackwood!“, rief Harrow. Seine Stimme hallte durch die Kammer.
Edward Blackwood zuckte nicht zusammen. Er hob langsam den Kopf. Seine blassblauen Augen trafen Harrows Blick. Es gab keine Überraschung, keine Angst in ihnen. Nur eine tiefe, fast melancholische Resignation. Und eine stille, unheilvolle Befriedigung.
„Inspector Harrow“, sagte Edward, seine Stimme war immer noch ruhig und kontrolliert. „Sie haben mich gefunden. Ich hatte gehofft, ich hätte noch etwas mehr Zeit. Dieses Haar… es ist von einer so exquisiten Qualität. Die Textur. Die Farbe. Ein wahres Geschenk.“
Er deutete auf das Mädchen auf dem Tisch. „Sarah Miller. Ein schöner Name. Und ein noch schöneres Haar.“
Harrow sah das Mädchen an. Sarah Miller. Ein weiteres Opfer. Die fünfte.
„Sie sind ein Monster, Blackwood“, sagte Harrow, seine Stimme zitterte vor Wut.
Edward Blackwood lachte leise. Es war kein fröhliches Lachen, sondern ein trockenes, hohles Geräusch. „Monster? Ich, Inspector? Ich bin ein Künstler. Ich bewahre die Schönheit. Ich rette das, was die rohe Welt zerstören würde. Diese Frauen… ihr Haar wäre in den schmutzigen Gassen Londons verrottet. Ich gebe ihm ein neues Leben. Ein ewiges Leben in Perfektion.“
Er hob das Skalpell. Er war nicht bedrohlich, seine Bewegung war ruhig, aber die Klinge glänzte im Gaslicht.
„Legen Sie das Skalpell nieder, Blackwood!“, befahl Harrow.
Edward tat es nicht. Er strich über den blauschwarzen Zopf auf dem Seidentuch. „Es ist meine Berufung, Inspector. Meine Bestimmung. Sie können mich nicht aufhalten.“
„Wir werden Sie aufhalten“, sagte Margaret, die sich neben Harrow gestellt hatte. Ihre Stimme war fest. „Ihre Kunst ist abscheulich. Ihre Obsession hat fünf Leben gefordert.“
„Fünf?“, fragte Blackwood, und ein Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht. „Oh, Miss Sinclair. Sie sind gut. Sehr gut. Die meisten hätten nur vier gezählt.“ Er lächelte. „Aber es sind noch viele weitere. Viele, die Sie nie finden werden. Meine Bibliothek ist umfangreicher, als Sie denken.“
In diesem Moment, als Harrow sich auf Blackwood stürzen wollte, geschah etwas Unerwartetes. Einer der Constables, Constable Evans, der Blackwood mit seinem Gewehr im Visier hielt, rutschte auf dem feuchten Boden aus. Sein Gewehr löste sich. Ein Schuss hallte durch die Katakomben.
Der Schuss traf nicht Blackwood. Er traf eine der Gaslampen, die von der Decke hing. Die Lampe zerbrach, Gas strömte aus. Die Flamme schlug auf das Gas über und entzündete es. Eine kleine Explosion.
Die Kammer wurde in ein flackerndes Chaos gehüllt. Glassplitter flogen, die Gasflammen züngelten gefährlich hoch. Die Constables schrien, als sie versuchten, das Feuer zu löschen.
Inmitten des Chaos sah Harrow, wie Edward Blackwood auf den Boden fiel. Nicht von einem Schuss, sondern von der Wucht der Explosion. Er lag regungslos da.
Harrow stürmte vor. Doch bevor er Blackwood erreichte, geschah ein weiteres Unglück. Eine altersschwache Deckenstütze, durch die Erschütterung der Explosion geschwächt, brach zusammen. Herunterfallende Steine und Erde schnitten den Weg ab, direkt zwischen Harrow und Blackwood.
„Blackwood!“, rief Harrow.
Aber es war zu spät. Der Gang hinter Blackwood, der weiter in die Tiefe führte, war bereits eingestürzt. Die Flammen leckten an den Trümmern.
Harrow sah Blackwood noch einmal an. Seine blassblauen Augen waren offen, aber leer. Sie blickten ins Nichts, in die Dunkelheit, die ihn nun verschluckte.
„Er ist tot“, sagte Miller, der sich durch den Rauch hustend zu Harrow gekämpft hatte. „Die Decke ist über ihm eingestürzt.“
Harrow sah auf die eingestürzte Stelle. Das Schicksal hatte ihm seinen Psychopathen entrissen.
„Nein“, sagte Margaret, ihre Stimme war heiser. „Er ist nicht tot, Inspector. Ein Mann wie er… er ist nur in sein Labyrinth zurückgekehrt. Das ist kein Ende. Das ist ein weiterer Anfang.“
Kapitel 9: Das Phantom im Nebel
Die Einsturzstelle in den Katakomben wurde in den folgenden Tagen von Scotland Yard gesichert. Ingenieure wurden hinzugezogen, um die Stabilität der alten Tunnel zu überprüfen. Doch die Aufgabe, die tiefen Gänge zu räumen und nach Edward Blackwoods Überresten zu suchen, erwies sich als zu gefährlich und zu umfangreich. Die offizielle Version besagte, Blackwood sei bei dem Einsturz ums Leben gekommen. Der Fall wurde für abgeschlossen erklärt.
Superintendent Davies atmete auf. „Ein Erfolg, Harrow! Der Psychopath ist tot. Die Bevölkerung kann wieder ruhig schlafen.“
Harrow nickte nach außen hin, doch in seinem Inneren nagte der Zweifel. Er hatte Blackwoods Augen in den letzten Momenten gesehen – da war keine Panik gewesen, keine Angst vor dem Tod. Nur diese seltsame Resignation, fast eine stille Befriedigung. Und Margarets Worte hallten in ihm nach: „Er ist nicht tot, Inspector. Er ist nur in sein Labyrinth zurückgekehrt.“
Margaret Sinclair teilte Harrows Skepsis. Sie verbrachte Wochen damit, die Katakomben und Tunnelsysteme in der Nähe des Lagerhauses in Shadwell zu studieren. Sie entdeckte, dass Blackwood nicht nur einen Tunnel gegraben hatte, sondern sich in ein weit verzweigtes, teilweise unbekanntes System aus alten römischen Abwasserkanälen und vergessenen Weinkellern eingegraben hatte.
„Er ist ein Meister der Tarnung, Inspector“, erklärte Margaret Harrow eines Tages. „Die Einsturzstelle war strategisch platziert. Ich glaube, er hat sie selbst herbeigeführt, um uns abzuschütteln.“
„Das wäre eine unglaubliche Kaltblütigkeit“, erwiderte Harrow.
„Glauben Sie ernsthaft, dieser Mann war derart geistesgestört, dass er sich selbst in den Tod stürzt, um einer Verhaftung zu entgehen?“, fragte Margaret. „Er war zu methodisch. Zu besessen von Kontrolle. Er würde niemals sein Lebenswerk so abrupt beenden.“
Ihre Theorie war beunruhigend: Edward Blackwood hatte seinen eigenen Tod inszeniert, um unterzutauchen und seine Verbrechen im Verborgenen fortzusetzen. Die Polizei hatte ein Phantom gejagt und geglaubt, es gefasst zu haben.
Die Leiche von Sarah Miller, dem letzten Opfer, wurde geborgen und identifiziert. Ihre Familie war untröstlich. Ihr Haar, das Blackwood entnommen hatte, wurde in seinem unterirdischen Atelier gefunden und als Beweisstück gesichert. Es war eine grausame Trophäe, die die Kaltblütigkeit des Täters bezeugte.
Monate vergingen. Der Winter ging in einen feuchten, kalten Frühling über. Londons Straßen waren immer noch von einem Gefühl der latenten Angst erfüllt, doch die Schlagzeilen über die „Haarmorde“ verblassten allmählich. Das Leben ging weiter.
Harrow konnte den Fall jedoch nicht loslassen. Er besuchte Margaret regelmäßig in ihrem Labor. Sie hatten begonnen, eine Art Freundschaft zu entwickeln, basierend auf gegenseitigem Respekt und der gemeinsamen Besessenheit, die Wahrheit zu finden.
„Ich habe die Kundenlisten von Blackwood’s durchgesehen“, sagte Margaret eines Nachmittags. „Er hatte eine beeindruckende Klientel. Und wissen Sie, was ich gefunden habe? Regelmäßige Bestellungen von Perücken und Haarteilen für ein Waisenhaus für junge Mädchen in Southwark. Von einer Wohltätigkeitsorganisation, die von einem anonymen Spender finanziert wird.“
Harrow runzelte die Stirn. „Ein Waisenhaus? Was hat das zu bedeuten?“
„Diese Mädchen sind oft von Natur aus unberührt“, erklärte Margaret. „Ihr Haar ist nicht chemisch behandelt, nicht gefärbt. Perfektes Material, wenn man so will.“
„Sie glauben, er hat sich dort seine Opfer gesucht?“, fragte Harrow.
„Möglich“, sagte Margaret. „Oder er hat es als eine Art Fassade genutzt. Ein Alibi für seine ‚Humanität‘. Aber es ist ein weiterer Faden, Inspector. Ein Hinweis auf seine Vorlieben.“
Eines Abends, als Harrow auf dem Heimweg durch eine belebtere Straße in Westminster ging, bemerkte er etwas Ungewöhnliches. Eine junge Frau, die elegant gekleidet war, hatte eine blonde Perücke auf. Es war eine exquisite Arbeit, die Edward Blackwood in seinem Laden verkauft haben könnte. Doch als Harrow näher kam, bemerkte er einen kleinen, winzigen Fehler. Eine Strähne war minimal verheddert, fast unsichtbar für das ungeübte Auge. Es war ein Fehler, den der perfektionistische Edward Blackwood niemals übersehen hätte.
Harrow spürte einen kalten Schauer. War das ein Zeichen? War es eine weitere Botschaft? Ein Gruß des Phantoms?
Er begann, nachts seine Spaziergänge zu ändern. Er wanderte durch die verschiedenen Stadtteile Londons, nicht auf Patrouille, sondern auf der Jagd nach Mustern. Er suchte nach dem scheinbaren Fehltritt, nach dem subtilen Hinweis, der ihm zeigen würde, dass Blackwood noch lebte.
Und er fand sie. Kleine, unscheinbare Details. Einmal war es ein kurzer Blick in ein Kutschenfenster, in dem er eine blonde Perücke sah, deren Fall zu perfekt war, um echt zu sein, und deren Trägerin ein merkwürdig starres Profil hatte. Ein anderes Mal war es der Geruch von Zedernholz, der flüchtig in einer dunklen Gasse vorbeizog. Immer wieder diese subtilen, fast unmerklichen Andeutungen seiner Anwesenheit.
Harrow begann, sich wie ein Besessener zu fühlen. Er sprach mit Margaret über seine Beobachtungen, die sie mit ihrer wissenschaftlichen Präzision zu analysieren versuchte.
„Er spielt mit Ihnen, Inspector“, sagte Margaret. „Er testet, ob Sie noch wachsam sind. Er genießt die Kontrolle, die er über Sie ausübt.“
Eines kühlen Herbstabends, ein Jahr nach dem angeblichen Tod Blackwoods, erhielt Harrow einen anonymen Brief. Es war keine handschriftliche Nachricht, sondern ein kunstvoll gefaltetes Stück Papier, auf dem lediglich eine gedruckte Abbildung zu sehen war: eine einzelne, geschwungene Linie, exakt jene Signatur, die Blackwood an den Tatorten hinterlassen hatte. Der Brief enthielt keine Absenderadresse, aber der Poststempel war aus Whitechapel.
Harrow hielt den Brief in der Hand, sein Herz pochte. Es war seine persönliche Herausforderung. Blackwood war nicht tot. Er war das Phantom im Nebel, das ihn aus der Dunkelheit beobachtete.
„Er lebt“, sagte Harrow zu Margaret, als er ihr den Brief zeigte. „Er ist noch da draußen.“
„Ich wusste es“, sagte Margaret, ihre grünen Augen glänzten. „Und er wird wieder zuschlagen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Er kann seine wahre Natur nicht unterdrücken. Ein Psychopath hört niemals auf zu jagen. Er wechselt nur die Tarnung.“
Kapitel 10: Die Wiederauferstehung des Bösen
Ein weiteres Jahr verging. Der anonyme Brief war nicht der letzte Beweis für Blackwoods Existenz. Es folgten weitere subtile Zeichen: sorgfältig platzierte Haarnadeln mit einem winzigen, eingravierten "B" in verlassenen Ecken Londons; der immer wieder auftauchende, fast unmerkliche Geruch von Zedernholz in der Nähe neuer Vermisstenfälle, die in den Zeitungen nur beiläufig erwähnt wurden. Die Polizei schien die Zusammenhänge nicht zu erkennen, aber Harrow und Margaret waren wachsam.
Superintendent Davies hatte Harrows Warnungen abgetan. „Ein Mann im Grab kann keine Briefe schicken, Harrow! Sie sind besessen. Lassen Sie den Fall ruhen.“ Doch Harrow ignorierte ihn. Er wusste, dass das wahre Spiel noch nicht zu Ende war.
Harrow und Margaret bildeten ein stilles Team. Margaret untersuchte die neuen Vermisstenfälle mit akribischer Detailgenauigkeit, suchte nach den feinen Fäden, die sie mit Blackwoods früheren Opfern verbanden. Harrow durchstreifte die Stadt, ein einsamer Jäger im Nebel Londons, immer auf der Suche nach dem Schatten, den er nicht fassen konnte.
Eines grauen Novembertages, zwei Jahre nach Blackwoods angeblichem Tod, erhielt Harrow einen Anruf von einem jungen Constable, Constable Higgins, der in einem kleinen Vorort namens Walthamstow Dienst tat.
„Inspector Harrow“, sagte Higgins, seine Stimme war aufgeregt. „Wir haben eine Leiche gefunden. Eine junge Frau. Miss Alice Turner, siebzehn Jahre alt, Dienstmädchen. Sie wurde in einem verlassenen Schuppen gefunden. Und… nun ja, Sir… ihr Haar fehlt. Vollständig entfernt.“
Harrow spürte einen kalten Schlag ins Gesicht. Es war geschehen. Blackwood war zurück. Oder er hatte nie wirklich aufgehört.
Er eilte nach Walthamstow. Der Schuppen lag am Rande eines Feldes, umgeben von dichtem Nebel. Der Anblick der Leiche war grausam. Alice Turners Gesicht war leer, ihr Kopf kahl.
Aber dieses Mal gab es eine Nachricht.
Auf einem alten Holztisch neben der Leiche lag nicht nur die bekannte geschwungene Linie, die Blackwoods Signatur war. Daneben lag ein sorgfältig geflochtener Zopf aus Alices dunkelbraunem Haar. Und darunter, auf einem Stück Pergament, war eine Botschaft in feinster Kalligrafie geschrieben:
"Lieber Inspector Harrow,
Ich sehe, Sie sind noch immer wachsam. Eine angenehme Überraschung. Die Kunst fordert ihren Tribut, nicht wahr? Und ich bin ein Künstler, der seine Quelle nicht versiegen lassen kann.
Dies ist nur ein Vorgeschmack. Ich werde Ihnen einen weiteren Grund geben, sich an meine Präsenz zu erinnern. Die wahre Schönheit liegt in der Perfektion, die ich erschaffe. Und bald werde ich mein Meisterwerk vollenden.
Mit den reinsten Grüßen, Der Sammler."
Harrow knirschte mit den Zähnen. Eine direkte Herausforderung. Blackwood hatte seine Fassade endgültig aufgegeben. Er war nun ein offenes Buch, das er mit seinen makabren Taten beschrieb.
Er brachte den Zopf und die Nachricht sofort zu Margaret. Ihre Augen waren von einer Mischung aus Abscheu und faszinierter Wut.
„Er hat diese Nachricht persönlich an Sie gerichtet, Inspector“, sagte Margaret. „Er genießt das Spiel. Er hat sich versteckt, weil er seine Methoden perfektionieren wollte. Und jetzt ist er bereit, sein ‚Meisterwerk‘ zu vollenden.“
„Was für ein Meisterwerk?“, fragte Harrow.
„Etwas Großes, Inspector“, erwiderte Margaret. „Etwas, das seine gesammelten Haare in einer ultimativen Form vereint. Er hat über Jahre gesammelt, um etwas Einzigartiges zu schaffen.“
Sie untersuchten den Zopf. An einem Ende war ein kleines, feines Goldkästchen befestigt. Darin befand sich eine einzelne, fast unsichtbare, goldene Strähne – das Haar von Blackwoods Mutter. Es war eine makabre Verbeugung vor seiner eigenen dunklen Geschichte.
„Die Präzision“, murmelte Margaret. „Er ist noch besessener geworden. Jedes Detail ist kalkuliert.“
Harrow ließ alle verfügbaren Kräfte auf Walthamstow ansetzen, durchsuchte jedes Haus, jeden Schuppen, jede Gasse. Aber Blackwood war wie ein Geist verschwunden. Er hinterließ keine weiteren Spuren.
Doch die Nachricht Blackwoods hatte Harrow eine neue Idee gegeben. Wenn Blackwood sein „Meisterwerk“ vollenden wollte, brauchte er einen Ort. Einen öffentlichen Ort, an dem seine Kunst gesehen werden konnte.
Er und Margaret studierten die Stadtpläne. Welche Gebäude waren im Bau? Welche öffentlichen Ausstellungen waren geplant? Wo könnte Blackwood seine letzte, ultimative Provokation inszenieren?
„Er will gesehen werden“, sagte Harrow. „Er will, dass seine ‚Kunst‘ von der ganzen Welt bewundert wird. Er will nicht länger im Schatten agieren.“
Margaret dachte nach. „Das größte gesellschaftliche Ereignis in London in den nächsten Wochen ist die Internationale Kunst- und Industrieausstellung in Crystal Palace. Tausende von Menschen. Die gesamte Londoner Oberschicht wird anwesend sein.“
Harrow starrte sie an. Crystal Palace. Ein Ort der Pracht und des Fortschritts. Der perfekte Ort für Blackwoods grausames Finale.
„Er braucht eine Bühne“, sagte Harrow. „Und wir müssen diese Bühne finden, bevor er sein letztes Opfer hinzufügt.“
Sie konzentrierten ihre Suche auf das Crystal Palace. Harrow informierte Superintendent Davies, der seine letzten Zweifel begraben musste. „Tun Sie es, Harrow. Aber wenn Sie falsch liegen…“
Sie durchsuchten die Baupläne des Crystal Palace, sprachen mit den Organisatoren, den Handwerkern. Es gab Hunderte von Ausstellern, Hunderte von Möglichkeiten.
Die Zeit drängte.
Eines Abends, kurz vor der Eröffnung der Ausstellung, entdeckte Margaret einen ungewöhnlichen Eintrag in den Aufzeichnungen eines Zulieferers für Schaufensterpuppen. Eine Sonderanfertigung. Eine riesige, menschengroße weibliche Figur, die an einen unbekannten „Mr. Smith“ geliefert werden sollte, aber die Adresse war eine Lagerhalle in der Nähe des Crystal Palace.
„Ein Meisterwerk braucht ein passendes Gerüst, Inspector“, sagte Margaret, ihre Stimme war eisig. „Eine riesige weibliche Figur. Ich glaube, er baut die größte Perücke, die die Welt je gesehen hat. Eine aus den Haaren all seiner Opfer.“
Harrow spürte einen kalten Schauer. Das war Blackwoods ultimative Provokation. Ein Denkmal des Todes, aus den Haaren seiner Opfer.
Sie eilten zum Crystal Palace. Es war die Nacht vor der Eröffnung. Das Gelände war still, nur die Wachen patrouillierten.
In einem der größten Pavillons, der für eine Modenschau vorgesehen war, fanden sie es.
In der Mitte des Raumes stand eine überlebensgroße weibliche Schaufensterpuppe, vielleicht drei Meter hoch. Sie war nackt, bis auf ein einziges, unglaubliches Kleidungsstück: eine massive Perücke, die aus den Haaren Hunderter von Frauen gefertigt war. Blond, rot, braun, schwarz – alle Farben des Spektrums, kunstvoll miteinander verwoben zu einer einzigen, gewaltigen Haarpracht, die über die Schultern der Figur fiel und den Boden berührte.
Es war Blackwoods Meisterwerk. Eine groteske Krone aus menschlichem Haar, ein Denkmal für seine Opfer, ein Schrei seiner Obsession.
Und vor der Figur stand Edward Blackwood, in seinem makellosen Anzug. Er hielt eine kleine Bürste in der Hand und strich vorsichtig über die massiven Haarmassen, als würde er ein letztes Detail perfektionieren.
„Wunderschön, nicht wahr, Inspector?“, sagte Edward, ohne sich umzudrehen. Er hatte sie erwartet. „Die ultimative Vereinigung der Schönheit. Das ist meine Kathedrale. Meine unsterbliche Kunst.“
„Es ist ein Friedhof, Blackwood!“, rief Harrow, seine Wut kochte hoch.
Edward drehte sich langsam um. Sein Gesicht war von einer überirdischen Ruhe erfüllt. „Nein, Inspector. Es ist die Apotheose. Die Vollendung. Und Sie sind gekommen, um Zeuge zu sein.“
In seinen Händen hielt er nicht die Bürste, sondern ein kleines Fläschchen. Er schüttete den Inhalt über die massive Perücke. Es war ein durchsichtiges, glänzendes Liquid.
„Mein letzter Schliff“, sagte Edward. „Ein spezieller Lack. Er wird es für die Ewigkeit konservieren. Die Farben werden leuchten, für immer.“
Harrow sah seine Chance. Er stürmte vor. Edward Blackwood tat nichts, um ihn aufzuhalten. Er lächelte nur, ein dünnes, zufriedenes Lächeln.
Harrow erreichte ihn und riss ihm das Fläschchen aus der Hand. Er packte Blackwood am Kragen.
„Sie sind verhaftet, Blackwood!“, rief Harrow. „Ihre Zeit ist vorbei!“
Edward Blackwood stieß ein leises, befreites Seufzen aus. „Nein, Inspector. Meine Zeit hat gerade erst begonnen. Denn Sie werden sich erinnern. Jeder wird sich erinnern. Meine Kunst ist unsterblich.“
Er blickte über Harrows Schulter zu Margaret. „Und Sie, Miss Sinclair. Sie haben die Schönheit erkannt. Ich spüre es.“
In diesem Moment drangen die Constables in den Pavillon ein, angeführt von Sergeant Miller. Sie stürmten auf Blackwood zu.
„Führt ihn ab!“, befahl Harrow.
Edward Blackwood leistete keinen Widerstand. Er ließ sich abführen, sein Blick war ruhig, fast triumphierend. Er war nicht wütend. Er war erfüllt. Er hatte sein Meisterwerk enthüllt.
Harrow und Margaret standen vor der riesigen Haar-Skulptur. Die Perücke glänzte unter dem Gaslicht, ein monströses, schimmerndes Gebilde aus menschlichem Haar. Es war gleichzeitig abstoßend und faszinierend.
„Wir haben ihn gefasst, Inspector“, sagte Miller.
Harrow nickte. „Ja, Miller. Aber die Frage ist… haben wir ihn wirklich gestoppt?“
Er blickte auf das Meisterwerk Blackwoods. Er wusste, dass dieses Bild ihn für immer verfolgen würde. Die Schönheit, die aus dem Grauen geboren wurde. Edward Blackwood hatte sein letztes Opfer genommen – seine eigene Freiheit –, um seine ultimative, perverse Botschaft zu senden.
Der Schatten über London war nicht verschwunden. Er hatte nur eine neue Form angenommen. Eine Form, die in den Köpfen der Menschen weiterleben würde, lange nachdem Edward Blackwood hinter Gittern verschwunden war. Der Psychopath hatte seine Kunst vollendet. Und die Welt würde sich für immer daran erinnern.
ENDE
Diese Geschichte ist das Ergebnis meiner eigenen kreativen Schöpfung. Die inhaltliche Idee, Handlung und Ausgestaltung stammen vollständig aus meiner persönlichen Vorstellungskraft. Für die sprachliche Formulierung habe ich unterstützende Technologien künstlicher Intelligenz eingesetzt.
© Michael (Gecko) Mahler – Alle Rechte vorbehalten.
Hinweis: Die Bilder wurde mit einer KI (Google Gimini) erstellt und sind nicht aus einem urheberrechtlich geschützten Werk abgeleitet. Es sind frei nutzbare Bilder passend zu meiner Geschichte.
Bürgerreporter:in:Michael (Gecko) Mahler aus Velbert |
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