Frei erfunden: Igor Roskjev, sein Leben, sein Russland und die Ukrainekrise

Ich bin Igor Roskjev, lebe auf einem Bauernhof in der Nähe der russischen Stadt Woronesch am Don, werde in Kürze 69 Jahre alt, bin gezeichnet von einem harten Arbeitsleben, bin jedenfalls in einem Alter, in dem es Zeit ist, sein Leben Revue passieren zu lassen, das in dem Jahr begann, als Josef Stalin starb.

Mein Vater, ein Jungbauer auf der hiesigen Kolchose, war Jahre zuvor für Russland in den Vaterländischen Krieg gezogen, um die Welt von den Nazis zu befreien. Leicht verletzt am Körper war er zurückgekommen, bevor er meine Mutter Natalja heiratete, die Jahre später mich als einziges Kind zur Welt brachte, aber anscheinend zugleich schwer verletzt an der Seele, wie ich in meiner Kindheit und Jugend deutlich spürte, obwohl bei meiner Geburt schon einige Jahre wieder ins Land gezogen waren. Ich spürte es, ohne dass mein Vater jemals mit mir darüber sprach. Unterdessen wuchs ich zu einem kräftigen jungen Mann heran, der immer mehr Aufgaben auf dem Hof und in der Kolchose übernahm. Ich genoss die Anerkennung, die mir die Eltern, aber auch die anderen Kolchosbauern zollten.

Und dann kam der Tag, an dem mein Vater unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Unfall oder Suizid, es konnte nie geklärt werden. Meine Mutter litt. Als sie dann noch Krebs bekam, wie ihr in einem Krankenhaus in Woronesch diagnostiziert wurde, brachte sie keinerlei Kraft auf, sich dagegen zu wehren. Sie erlag schon bald ihrem Kummer und dem Krebs und folgte meinem Vater. Und ich stand plötzlich alleine da, bis ich Tanja, die Tochter eines benachbarten Kolchosbauern, heiratete, eine anpackende, tüchtige und auch liebreizende junge Frau, mit der ich bestens durch die Jahre kam. Zwei Kinder bekamen wir, zuerst eine Tochter und später noch einen Sohn.

Mein Interesse an Politik war längst erwacht, so dass ich vermehrt über den Tellerrand unseres Kolchoslebens hinausblickte und das kommunistische System der Sowjetunion und seine Gegenposition zum kapitalistischen System des Westens begriff. Auch wenn unser System an manchen Stellen knirschte und einiges, was ich erkannte, von mir nicht gutgeheißen werden konnte, so wusste ich doch die hehren und menschlichen Ziele des Kommunismus zu schätzen. Ich war stolz, Russe zu sein, zu einem guten Land mit Weltgeltung zu gehören.

So vergingen die Jahre, bis sich in den Achtziger Jahren eine Veränderung andeutete. Michail Gorbatschow kam an die Spitze Russlands. Im bisher widerspruchslosen Staatsfernsehen hörte man plötzlich Kritik am eigenen System. Die Begriffe Glasnost und Perestroika hörte man zunehmend. Na, hoffentlich mündet das alles nicht ins Chaos, befürchtete ich. Ich sollte Recht behalten. Der Warschauer Pakt löste sich auf, die Sowjetunion brach zusammen und gab sich für kurze Zeit eine Scheinidentität in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die aber auch schon bald zerfiel. Unsere einstigen im Warschauer Pakt Verbündeten genauso wie einige ehemalige Sowjetrepubliken liefen zum Klassenfeind über, mir völlig unverständlich, aber ich kenne schließlich die Druckmittel des Westens nicht. Die Idee des Kommunismus zerbröselte in den Händen, selbst in meinem geliebten Russland. Die Kommunistische Partei war urplötzlich Geschichte. Es wurde von Demokratie gesprochen. Und immer mehr Kapitalismus schlich sich ein. Ich empfand alles als Verrat an unserer Landesgeschichte. War der Kommunismus übrigens nicht die echte Demokratie? Ich verstand die Welt nicht mehr.

Unsere Kolchose wurde aufgelöst, die Bauern arbeiteten nun privatwirtschaftlich für sich auf ihrem Grund und Boden. Vorgegebene Wirtschaftspläne von oben gab es nicht mehr. Da wir keine sehr große Fläche hatten, stellten wir die Landwirtschaft ein wenig um, so dass wir produktiver wurden. Wir bewirtschafteten den Hof übergangsweise zu zweit, meine Frau Tanja und ich, bis mein Sohn groß genug war, um auch einzusteigen. Er heiratete schon bald, so dass wir mit seiner Frau, übrigens eine Kasachin, eine vierte Arbeitskraft auf dem Hof hatten. Meine Tochter hatte es schon früh in die Stadt gezogen.

Nach einer chaotischen Nach-Gorbatschow-Zeit voller Ungewissheit kam Wladimir Putin an die Macht, der wie ich fühlte, als er sagte, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei eine geopolitische Katastrophe gewesen. Mit Putin verschwand mein Gefühl des Chaos. Russland war weit übers Ziel hinausgeschossen. Hätte es Gorbatschow doch niemals gegeben, der im Westen bejubelt wurde, bei uns aber eher als Totengräber empfunden wurde! Putin versuchte zu retten, was zu retten war - und das tut er immer noch. Ich vertraue ihm, und die meisten Landsleute auch. Bei Wahlen bekommen er und seine Partei immer meine Stimme. Und angesichts der demokratischen Wahlen kann ich nicht verstehen, wie vom Ausland im Zusammenhang mit Putin oft von einer Autokratie oder gar Diktatur gesprochen werden kann.

Vor wenigen Jahren habe ich mich auf dem Hof, was die Arbeit anbelangt, ziemlich zurückgezogen. Meine Kräfte reichen nicht mehr. Tanja, einige Jahre jünger als ich, hilft weiterhin. Übernommen hat den Hof mein Sohn, der ihn inzwischen modernisiert hat und sogar Computertechnik eingeführt hat. Nein, so etwas tu ich mir nicht an.
  
Auf meine alten Jahre interessiere ich mich weiterhin für Politik und verfolge derzeit gebannt die Bedrohungslage Russlands, die von der Nato ausgeht, und freue mich, wie Putin dem Westen, insbesondere der Nato, die Stirn bietet. Glaubt der Westen etwa, der die Nato-Ostflanke aufrüstet, Russland, das größte Land der Erde, würde seine Verteidigungslinien zurückziehen? Es wird von einer Bedrohung der Ukraine durch Russland gefaselt. Dabei geht es doch nur darum, dem Würgegriff der Nato entgegenzuwirken. Als wenn sich unser großes Russland wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließe! Die Forderung Russlands, die Osterweiterung der Nato müsse gestoppt und das auch vertraglich besiegelt werden, ist mehr als legitim. Und ebenso die Forderung, dass sich die imperialistischen Amerikaner mit ihren Truppen aus Ost- und Mitteleuropa zurückziehen müssen. Mit den Ukrainern wollen wir Russen in Frieden leben. Aber zulassen können wir es nicht, dass sie zum einstigen Klassenfeind überlaufen. Das muss jeder verstehen können. 

Putin ist das Beste, was uns geschehen konnte. Und ich hoffe, dass ich meine letzten Lebensjahre in einem friedlichen und stolzen Russland verbringen kann.

gez.

Igor Roskjev, Woronesch, im Februar 2022

Bürgerreporter:in:

Helmut Feldhaus aus Rheinberg

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