Hainhofen damals
ZURÜCK IN DIE KREIDEZEIT

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Eine graphologische Retrospektive meiner ersten Schuljahre

Der Begriff "Griffel" stammt aus dem antiken Mesopotamien und bezeichnete ein einfaches Schreibwerkzeug, welches dazu geeignet war Schriftzeichen in eine harte Oberfläche einzuritzen. Genau das taten wir Jahrtausende später bei unseren ungelenken Schreibversuchen als Erstkläßler in der Unterstufe der Volksschule Hainhofen. Aufbewahrt wurden die extrem bruchgefährdeten Stifte in einer hölzernen Griffelschachtel im Schulranzen. Geschrieben wurde auf der doppelseitigen, holzgerahmten Schiefertafel, die sich seit unseren mesopotamischen Vorfahren technisch nicht entscheidend weiterentwickelt hatte. Auch die Bewegung ähnelte immer noch mehr einem Ritzen als als dem flüssigen Schreiben späterer Jahre. Die Auf- und Abstriche der deutschen Schönschrift von ungelenker Kinderhand über die vorgegebenen Zeilen auf der Vorderseite der Tafel mit viel zu viel Anpreßdruck gekritzelt, sorgten für gehörigen Abrieb und Quietschgeräusche, die direkt an den Nervensträngen zerrten. Zwar konnte man die Griffel in verschiedenen Härtegraden kaufen, aber die Sorte "Butterweich" war genauso schmierig wie der Name befürchten ließ. Und es gab sie sogar in Farbe für besonders dekorative Lettern oder Zeichnungen auf der Rückseite der Tafel. Diese bunten Griffel hinterließen den nachhaltigsten Eindruck. Zunächst mußtest Du deren Spitze leicht ablecken, damit sie auf dem harten Schiefer überhaupt Spuren hinterließen. Das war ein Geschmackserlebnis, welches Du Dein ganzes Leben nicht mehr vergißt. Aber einmal auf die schwarze Oberfläche gemalt, waren die Linien darauf fast unauslöschlich verewigt. Zwar gehörte zur Grundausstattung jeden Ranzens die sogenannte "Schwammdose", ein unappetitliches Behältnis aus Gummi, in dem ein großporiges rundes Schwämmchen aufbewahrt wurde, aber dieses war meistens staubtrocken und bröselig und zum Reinigen einer farbverschmierten Tafel völlig ungeeignet. War der Schwamm ausnahmsweise mal so richtig feucht vollgesogen, diente er zweckentfremdet als Wurfgeschoß zur Abwehr feindlich gesinnter Klaßkameraden in den Pausen. Gerne schob man ihn auch vor dem morgendlichen "Setzt Euch" dem Vordermann blitzschnell auf die Sitzfläche.

Die ersten vier Jahre unseren schulischen Laufbahn waren ein Zeit des unaufhaltsamen technischen Umschwungs. Die runde lateinische Schrift löste endgültig die kantigen deutschen Runen ab, Hefte ersetzten die Schiefertafeln und Tintenfedern die Kreidegriffel. Weniger nervenaufreibend gestaltete sich das Programm für uns ABC-Schützen aber keineswegs. Das begann schon bei den Heften. "Holzfrei" stand auf manchen Etiketten, aber diese Qualität war teuer. Holz in Form von Zellstoff war natürlich in jedem Papier enthalten, aber in den billigen Sorten konntest Du die rohen kleinen Spreißel mit bloßem Auge sehen und die Oberfläche war so spröde, daß die Tinte Mühe hatte einzudringen. Aufgebracht wurde die Schrift mit einer goldglänzenden Feder, die in einen Federhalter gesteckt wurde und um es auf den Punkt zu bringen: Tintenfeder und Zweitklässler paßten nicht zusammen und das Ergebnis war immer dasselbe: ein ebenso unfreiwilliger wie unschöner Tintenbatzen, auf Hochdeutsch Klecks genannt. Die Federn gab es in mehreren Stärken und es galt: je spitzer desto feiner der Strich. Zunächst galt es die Tinte aufzunehmen, dafür wurde die Feder in ein Tintenfaß getaucht. Das hatte man im Ranzen mitgebracht oder es war im zweisitzigen Vorkriegs-Kombimöbel der Klassenzimmer bereits eingebaut. Die richtige Menge Tinte hatte man nie auf der Feder, aber dafür demoralisierend sogleich den ersten Batzen im Heft. Beim Schreiben kam es auf den richtigen Winkel und den wohldosierten Druck an, ein unlösbares Problem für 8jährige Grobmotoriker. Wenn man die sensible Feder zu sehr preßte, spreizte sie sich mittig auseinander und schon erzeugte man ungewollt doppelte Linien in der Schönschreibprobe. Tintige Fehler waren irreparabel! Für die grobsten Kleckse hatte man zwar das saugkräftige Löschpapier erfunden, doch davon fand man in jedem Heft genau ein Blatt und das war spätestens auf Seite 4 aufgebraucht. Der Klecks blieb trotz der Löscharbeiten als gut sichtbares Wasserzeichen im Heft zurück. Schreibfehler zu korrigieren war in der Griffelperiode noch ein Kinderspiel gewesen, aber nunmehr schlicht unmöglich. Zwar gab es diese coolen Zweiphasen-Radiergummis mit der weichen roten Hälfte für Bleistift und dem blauen Teil für Tinte, aber damit rubbelte man nicht nur die Tinte ab, sondern quasi die ganze Papieroberfläche samt eingelagerter Holzrückstände. Im schlechtesten Fall entstand dabei ein kleines Loch, aber zumindest war das Papier so aufgeraut, daß die Tinte beim Korrekturversuch in alle Richtungen verlief. Am Ende einer Schönschreibstunde hattest Du überall Tintenflecke: auf dem Holz Deiner Bank, im Löschpapier, an tausend Stellen, wo sie nicht sein sollten und vor allem an Deinen Fingernkuppen, von wo sie mit den damaligen Natronseifen schwerlich abzurubbeln waren. Nach dem Tatzenstecken war der Federhalter für unsere Kinderseelen unbestritten die Nummer 2 der schulischen Folterinstrumente. Vom traumatischen Befinden der Gepeinigten zeugen die Bißspuren der kleinen Milchzähne im Holz aller historischen Federhalter aus dieser Ära.

Die Erlösung kam in Form des Füllfederhalters, kurz Füller genannt. Dieses Schreibgerät wurde schon lange vorher erfunden und per Drehkolben ebenfalls aus dem Tintenfaß befüllt. Edle Modelle verfügten über einen Resevetank und eine Füllstandsanzeige. Aber diese komplexen Instrumente waren für den Einsatz in patschigen Kinderhänden viel zu teuer. Volksschultauglich wurde die Technik erst, als endlich die ersten Patronenfüller bei Kutscher & Gehr im Schaufenster lagen. Ab dieser Zeit gab es eine weitere Glaubensrichtung: jetzt hieß es nicht nur katholisch oder evangelisch, Cowboy oder Indianer, sondern auch GEHA oder PELIKAN! Der grüne Geha und der blaue Pelikano spalteten ganze Generationen von Schülern in eine Zweiklassengesellschaft. Beide wurden mit Patronen befeuert, mit jeweils einer angekuppelten Ersatzpatrone im Lauf, die goldene oder silberne Feder geschützt von einer metallisch glänzenden Kappe, damit hast Du jeden Unterklässler gekriegt! Die Ersatzmunition gabs im Sechsermagazin und die leeren Patronenhülsen wurden nach Gebrauch geschickt aufgebissen, um an die begehrten Verschlußkügelchen zu kommen. Unsere Diktate wurde durch den Einsatz der Füller zwar nicht weniger fehlerbehaftet, aber Schweißausbrüche und Schnappatmung ließen durch deren einfachere Handhabung deutlich nach.

Die vom Lehrkörper verpönten Kugelschreiber hielten erst viele Jahre später Einzug in die Klassenzimmer und mit ihnen verschwand die Sinnlichkeit für alle Zeiten aus den Schreibheften. Außer daß man mit Hilfe ihrer Kappe, der Mine und der Spiralfeder ein paar Raketenstarts simulieren konnte, übten diese billigen Massenprodukte keinen weiteren Reiz auf technikbegeisterte Schüler aus, es sei denn, man besaß eines der nicht jugendfreien Exemplare, bei dem ein üppiges Pin-Up-Girl willig seine Hüllen fallen ließ, so oft man das Schreibgerät kippte. Damit erwischt zu werden, war doppelt mißlich, denn das Objekt der Begierde wurde vom Lehrer für seine private Asservatenkammer konfisziert und zusätzlich gab es was auf die unkeuschen „Griffel“ und drei Vaterunser beim nächsten Beichtgang.

Eine Konstante verband über all die Jahre sämtliche Schreibutensilien, mit denen ich meine Diktate und Aufsätze während der Volksschulzeit zu Papier bzw. auf die Tafel brachte: In meinem Zeugnis stand stets "der brave Schüler zeigt gute Ansätze, aber schreiben muß er noch sorgfältiger".

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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