Hainhofen damals
FRÜHER WAR MEHR LAMETTA!

Der Christbaum war geklaut und die Lederhose abgewetzt: das Weihnachsfest 1962 in äußerst bescheidenem Rahmen | Foto: Helmut Weinl
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  • Der Christbaum war geklaut und die Lederhose abgewetzt: das Weihnachsfest 1962 in äußerst bescheidenem Rahmen
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Ein Blick durchs Schlüsselloch ins Weihnachtszimmer 1962

In den frühen 60er Jahren waren die Lohntüten der meist alleinverdienenden Väter immer noch nicht prall gefüllt, aber mit dem stetigen Aufblühen des Wirtschaftswunders konnte man sich doch hin und wieder etwas leisten, z.B. den ersten eigenen Fotoapparat. So entstand dieses Familienfoto am Heiligen Abend mit einer modernen Agfa Optima, die durch eine edel aussehende Bereitschaftstasche aus braunem Kunstleder geschützt war. Man konnte auf die Kamera ein kleines Blitzgerät aufstecken, dieses klappte man auf, öffnete den fächerartigen silbernen Reflektor und steckte eines der teuren blauen Blitzlämpchen in die Fassung. Für einen Sekundenbruchteil wurde die Szene taghell beleuchtet, das Lämpchen schmolz mit einem leisen Plopp und der festliche Moment war für die Nachwelt festgehalten. Auf einem bunten Agfacolor Dia, denn diese waren deutlich günstiger als die kostspieligen Papierabzüge, die man ins Familienbalbum kleben konnte.

Wir sehen in die Küche, die gleichzeitig Wohnzimmer und der einzig beheizbare Raum im Obergeschoß des Stemmerhofs war. Es gab noch zwei Schlafzimmer für die Eltern und die Kinder, die im Winter nur unter den Bettdecken durch Liebe und Bettflaschen erwärmt wurden, sowie eine winzige „Speis“ als Vorratsraum für die wenigen Lebens- und Putzmittel. Zum „Häusle“ mußte man über eine steile Stiege ins Stockwerk darunter gehen. Wenn es schon arg pressierte, rutschten wir Kinder die ausgetretenen Holzstufen auch schon mal auf dem Hosenboden hinunter. In unserer Wohnküche standen auf wenigen Quadratmetern ein Tisch mit 3 Stühlen und ein Sofa, das man damals „Diwan“ nannte. Es gab einen vierflammigen Gasherd mit Propanflaschen zum Kochen und daneben einen eisernen Kanonenofen, auf dessen glühender Platte jedes Kind irgendwann die schmerzhafte Erfahrung machte, was die Erwachsenen mit „heiß“ meinten. Ein Küchenschrank mit Anrichte beherbergte das komplette Porzellan, das Besteck, die Töpfe, die Pfannen und dickwandige Glasschütten für Mehl, Salz und Zucker. Durch das einzige Fenster hatte man einen tollen Blick hinüber zum Schloß oder hinauf zum Kirchturm und an besonderen Sonntagen standen draußen auf dem Fensterbrett die Glaschüsseln mit dem köstlichen Doktor-Oetker-Schokopudding zum Abkühlen, bis sich eine zarte Haut auf der cremigen Oberfläche gebildet hatte. Jetzt in der Weihnachtszeit konnte man morgens an den Scheiben die glitzernden Kristallmuster von Eisblumen bewundern, die in den frostigen Nächten erblühten. In der hintersten Ecke hing ein einfaches Waschbecken als einzige sanitäre Einrichtung des Haushalts. Mußten die Kinder samstags gebadet werden, wurde eine metallglänzende Badewanne mitten ins Zimmer gestellt, die schamhaften Eltern gingen indes zum Haus der Großmutter, wo die Waschküche im muffig feuchten Keller angeheizt wurde. Die modernen Zeiten zogen 1963 in unsere Küche ein, denn ab diesem Jahr stand dort ein nagelneuer Schwarzweiß-Fernseher der Firma SABA mit zwei Programmen und der Kinderstunde um 16.00 Uhr.

Weihnachten war auch damals etwas Besonderes für uns Kinder, aber der Heilige Abend hatte längst nicht diesen wochenlangen „Vorlauf“ wie heute. Es gab keine Supermärkte und keine TV-Sender, die einen bereits ab Oktober mit Produkten und Werbung überhäuften. Die großen Kaufhäuser in der Stadt wie das „ZENTRAL“ oder den „MERKUR“ bekam man als Dorfkind nur sehr selten zu sehen. Der Bayrische Rundfunk sendete auch in der Adventszeit abends nach dem "Betthupferl" traditionelle Volksmusik und blies nicht Tag für Tag nervtötende amerikanische Christmassongs über die UKW-Kanäle in die heimischen Stuben. Vor dem Fernsehschirm mußte man als Kind ohnehin ausharren, bis es am 24.12. um 14.00 Uhr endlich hieß „Wir warten aufs Christkind“!

Doch es gab ein Medium, welches uns Kindern in der Adventszeit beim bloßen Angucken glühende Backen verlieh und tausend Wünsche weckte, von denen wir wußten, daß die meisten unerfüllt bleiben würden: das waren die dicken Spielzeugkataloge von THEINERT und SPIELWAREN HARTMANN in der Annastraße. Wenn die Eltern diese heiligen Bibeln mitbrachten, gab es kein Halten mehr. Als Junge überblätterte man hastig die ersten Seiten mit dem Spielzeug für Kleinkinder und erst recht das Angebot mit dem ganzen Puppenkram für Mädchen. Doch dann hatte man alles vor den feuchten Augen, was das Herz begehrte: die Polizei- und Feuerwehrautos mit echtem Blaulicht, die sündteuren lenkbaren Modelle von Schuco, die Blechpanzer mit funkensprühenden Kanonen, die Tipp-Kick-Tischfußballspiele mit den eckigen Bällen, die geheimnisvollen Zauberkästen für „Kleine Magier“ und diese unerreichbaren Miniaturwelten mit den Modelleisenbahnen von Märklin und Fleischmann.

Die meisten unserer Wünsche blieben für immer solche, aber das eine oder andere Mal erwartete uns doch eine große Überraschung am Heiligen Abend. Den Christbaum hatte der Vater wie immer eigenhändig im Wald geschlagen, umsonst und ohne Erlaubnis natürlich, das gebot die Ehre eines Egerländers. Ausgesucht wurde das Bäumchen bereits im Sommer und dann hieß es nur auf der Hut zu sein vor dem Steiner Schorsch, dem amtlichen Hüter des Forstes. Festlich geschmückt wurde es mit glänzenden Kugeln, echten roten und weißen Kerzen aus Wachs und viel glitzerndem Lametta. Dieses silberne Engelshaar war kostbar und nach dem Abbinden des Christbaums nach Heilig-Drei-König wurde es nachhaltig glattgebügelt und sorgfältig wieder bis zum nächsten Jahr in die Papiertütchen verpackt. Die Kerzen wurden nur vor der Bescherung und allenfalls an den Feiertagen entzündet, danach war es wegen der trockenen Nadeln strengstens verboten und damit die Kinder die Gefahr eines Zimmerbrands auch richtig ernst nahmen, las man ihnen mit erhobenem Zeigefinger die „gar traurige Geschichte von Paulinchen mit dem Feuerzeug“ aus dem Struwwelpeter vor. Das gruselige Bild mit dem lichterloh in Flammen stehenden Mädchen verfehlte sein abschreckende Wirkung nicht!

Einmal, als wir Brüder nach dem erlösenden Klang des Glöckchens die Küche betraten, die nur von den Christbaumkerzen beleuchtet war und in der es so verführerisch nach einem Mix aus Kerzenrauch und "Nußloibla" duftete, stand sie tatsächlich vor uns auf dem Tisch: eine echte Modelleisenbahn von TRIX! Aufgebaut auf einer Holzplatte mit Wiesen und Bäumen, einem kleinen Dorf mit beleuchteten Häuschen, die nach Klebstoff rochen und einem Gebirge unter dem die Schienen in einem Tunnel verschwanden. Es gab einen großen und einen kleinen Gleisbogen, einen Bahnhof Neustadt mit einem Ladegleis samt Prellbock und drei Weichen. Die schwarze Dampflok zog zwei grüne Personenwagen oder wahlweise einen offenen und einen geschlossenen Güterwagen, der eine echte Schiebetüre hatte, durch die man ihn mit kleinen Tierfiguren beladen konnte. Die Lokomotive besaß zwei Frontlichter und wir konnten den Anblick, wenn diese aus dem dunklen Tunnel leuchteten, nicht oft genug bewundern. An einer Ecke der Anlage war der blaue Transformator mit dem roten Regler montiert, der einem zum Herrn über vorwärts und rückwärts und schnell oder langsam machte. Den eigenartigen metallischen Geruch, wenn die Kontakte der Lok über die Schienen schleiften und winzige Funken versprühten, vergißt man sein ganzes Leben lang nicht.

Auch zu dieser Zeit war es schon so, daß Väter und Söhne im Umgang mit technischem Spielzeug selten gut harmonierten, weil die Väter selbst ihren lange verdrängten Spieltrieb ausleben wollten. So begann der Senior immer wieder eigenmächtig an „unserer“ Eisenbahn herumzubasteln. Zunächst installierte er mit viel handwerklichem Geschick eine Innenbeleuchtung in den beiden Personenwagen 2. Klasse. Mir gefiel das überhaupt nicht, weil irgendein Fehler in Papis Elektrik dafür sorgte, daß die Lämpchen stets nervös flackerten, was bei Fahrten im Dunkeln sehr unromantisch aussah. Noch weniger leiden mochte ich seine nicht genehmigten Baumaßnahmen zur Erweiterung der Strecke. Da auf der kleinen Grundplatte kein zusätzlicher Platz zur Verfügung stand, führte mein Vater einen weiteren Gleisbogen mittels zweier Weichen und hölzernen Stützen einfach über das bis dahin malerische Gebirge mit dem Tunnel hinweg. Nach zahllosen Testfahrten schaffte unsere Lok zwar mühsam die imposante Steigung, aber dieser tiefgreifende Eingriff in das vormals intakte Landschaftsbild war einfach unverzeihlich.

Und noch ein zweites Spielzeug fiel dem väterlichen Basteltrieb zum Opfer und es traf ausgerechnet das nach der Modelleisenbahn teuerste Weihnachtsgeschenk, das ich als Kind jemals bekam. Auf dem Gabentisch stand eines Heiligen Abends unerwartet ein kostbares rotes Modellauto mit weichen Gummireifen und funktionierenden Scheinwerfern. Ins Dach konnte man ein Spiralkabel stecken, an dessen anderem Ende ein kleines Lenkrad befestigt war, mit welchem man den Pkw fernsteuern konnte. Die Hauptattraktion war allerdings sein ultramoderner Antrieb über aufladbare Batterien. Zum „Tanken“ fuhr man damit an eine wunderbar gestaltete Blechzapfsäule, in der wohl ein Ladegerät verbaut war. Die Gründe für den Umbau, den mein Vater in den Weihnachtsferien vornahm, als er einen zusätzlichen Batteriepack auf dem Dach des Fahrzeugs montierte, blieb mir verborgen. Vielleicht wollte er als Vorreiter der Elektromobilität die Ladezeit verkürzen oder die Reichweite verlängern, doch tatsächlich ist mein kostbares Automobil beim nächsten Tankstopp sang- aber nicht klanglos explodiert und hatte somit eine extrem kurze Lebensdauer für einen soliden Mittelklassewagen.

Dessen ungeachtet fällt mein heutiger Blick durchs Schlüsselloch in unsere Weihnachtsstube der Sechziger Jahre dennoch positiv aus. Das Einkommen der einfachen Haushalte war niedriger und wurde im Dezember noch nicht durch ein großzügiges Weihnachtsgeld aufgewertet, die Erwartungen und das Angebot blieben viel bescheidener, der Konsumzwang späterer Jahre hatte noch längst nicht die Oberhand gewonnen. Wenn man weniger bekommt, als man sich gewünscht hat, bleibt mehr Raum für Gedanken zum eigentlichen Sinn eines Festes mit religiösem Hintergrund … aber das sahen wir als Kinder damals zugegebenermaßen natürlich noch ganz anders.

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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