Hainhofen damals
HAINHOFEN VOR DEM MAUERFALL

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Eine Kindheit im Schatten des Schlosses

Ich bin eine waschechte Hainhofer Haus- und Hofgeburt, auf die Welt gepurzelt mitten im Dorf und mitten im kalten 52er Winter in einer ungeheizten, eisgeblümten Schlafkammer, in einem durchweg nachhaltigen Möbel, denn darin wurde man sowohl gezeugt als auch geboren. Sobald ich die Augen aufschlug, konnte ich das Hainhofer Schloß sehen, besonders von unserer winzigen Küche im 3. Stock aus hatte man einen wahren Panoramablick auf das herrschaftliche Bauwerk hinter prächtigen Kastanien, auf die Schloßgärtnerei und die weitläufigen landwirtschaftlichen Gebäude, die sich bis zur heutigen Hainhofer Straße hinüber zogen. Das komplette geschichsträchtige Anwesen war umringt von der hohen Schloßmauer, die vom Badsteg heraufkam und den von-Humannschen Besitz vollständig hermetisch gegen das Eindringen unbefugter, neugieriger Lausbuben abriegeln sollte.

Vor der nördlichen Mauer befand sich die sog. "Anlage", eine grüne Wiese mit einer Birke und mehreren Apfelbäumen, deren holzige unveredelte Früchte grauslig sauer schmeckten. Die Anlage war zentraler Treffpunkt der 3 bis 13 jährigen und unser Spiel- und Sportplatz zugleich. Einziges Spielgerät war eine primitive Schaukelstange am größten der Apfelbäume. "Eindrehen" war darauf die beliebteste Disziplin, bei der einen ein oder zwei Helfer solange im Kreis drehten, bis die immer kürzer werdenden Schnüre so verzwirbelt waren, daß es nicht mehr weiter nach oben ging. Einmal losgelassen wirbelte man mit einer irren Drehgeschwindigkeit nach unten, die Fliehkräfte rissen einem den Kopf nach hinten und es war ein Wunder, daß es dabei zu keinen Fällen von frühem Kindstod kam. Andere Spielchen waren weit harmloser, wie das simpel gestrickte "Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann", das wegen seines rassistischen Anklangs heutzutage auf der Schwarzen Liste steht. Äußerst beliebt war "Drei Scheitla", quasi ein Update des eher langweiligen "Versteckus", bei welchem der Sucher erschwerend eine Holzpyramide aufbauen, bewachen und verteidigen mußte. Ballspiele waren immer dann angesagt, wenn einer grade einen funktionsfähigen Ball sein eigen nannte. Der Ballbesitzer genoß dann naturgemäß gewisse Privilegien, denn falls er samt Sportgerät beleidigt nach Hause ging, war Schluß mit Mannschaftssport. Fußball wurde stets nur auf ein einziges Tor gespielt, wobei ein dünnes Apfelbäumchen den linken Pfosten bildete und der rechte nur durch einen Stecken oder einen Haufen Kleidungsstücke angedeutet wurde. Mangels Torkamera und Videobeweis war die Gültigkeit der Treffer ein ständiges Streitthema und führte nicht selten zu vorzeitigem Spielabbruch, wenn nicht der bemitleidenswerte Torwart schon vorher tränenüberströmt nach Hause gerannt war, denn da der arme Tropf keiner der beiden Mannschaften angehörte, wurde ihm so gut wie immer die alleinige Schuld an den Treffern zugesprochen.

Ein einzigartiges Ballspiel, das in Hainhofen exklusiv auf der Anlage gespielt wurde, war das treffend so genannte A ... ball! Der Name steht mittlerweile ebenfalls auf dem Index, war aber damals die gängige und präzise Bezeichnung, an der sich keiner störte. Es hieß A ... ball, weil alle Mitspieler mit Ausnahme des Jägers, auf eben diesem Körperteil saßen. Der Jäger versuchte nun mit seinen Würfen die Spieler am Kopf oder Oberkörper bis zum Popo zu treffen. Die Gejagten durften den Ball nur mit ihren Beinen abwehren. Wurde einer getroffen, verwandelte er sich auch zum Jäger, d.h. die Werfer wurden immer zahlreicher und die Lage für die übrig gebliebenen Spieler wurde zusehends schwieriger. Da war es von Vorteil, die Schloßmauer strategisch in seine Defensivtaktik einzubinden. Man setzte sich also mit dem Rücken in die Nähe der schützenden Wand und konnte so nicht mehr von hinten getroffen werden. Bei der Fußabwehr bestand allerdings permanent die Gefahr, den Ball ungewollt über den Kopf und auch über die Mauer zu lenken und dann war der Schrecken groß: Klirrte es oder klirrte es nicht? Das war die bange Frage, denn jenseits der Mauer befand sich nämlich die Schloßgärtnerei des alten Herrn Maly und wenn es klirrte, hatte man die Glasscheibe eines seiner Frühbeete zerdöppert. Herr Maly war ein grundguter Mensch, aber den grenzüberschreitenden Ball sperrte er erstmal als erzieherische Sofortmaßnahme weg. Auf den bedauernswerten Unglücksschützen kam nun ein äußerst erniedrigender Moment zu. Daß man beim Gärtner Maly mit weichen Knien an der Haustüre klopfen und kleinlaut die Herausgabe des konfiszierten Balls erbitten mußte, wäre schon schlimm genug gewesen, aber noch weitaus demütigender waren die Blicke der schadenfrohen Kumpels, die hämisch grinsend aus sicherer Deckung über die Mauer lugten.

Ich weiß nicht mehr genau, wann dieses Hainhofer Mauerstück endgültig gefallen ist. Heute steht dort das Neue Feuerwehrhaus. Nur ein paar grüne Quadratmeter der „Anlage“ und die alte Birke gibt es tatsächlich noch. Groß ist sie geworden und könnte so vieles berichten, von frechen Jungs, die an ihr hochgeklettert sind und von den Bällen, die immer wieder mal über die Schloßmauer geflogen sind.

Bilder (zur Verfügung gestellt von Familie Maly)
01 Der rote Pfeil zeigt die Schloßmauer, der gelbe die Schloßgärtnerei
02 Die glasgeschützten Beete der Gärtnerei
03 Herr Maly, der Gärtner in seinem Reich
04 Die "Anlage" mit dem großen Apfelbaum


Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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