Hainhofen damals
FLIEHKRAFT ... SCHWERKRAFT ... SCHLAGKRAFT

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Das „Milchhäusle“ in Hainhofen

In meiner Kindheit konnte man die Dinge des täglichen Bedarfs noch in einigen kleinen Geschäften bei uns im Dorf kaufen und für viel mehr hätte das Haushaltsgeld der Mütter ohnehin nicht gereicht. Da gab es den Laden der Frau Leder, wo man von Obst und Gemüse über Dosenravioli bis hin zu Illustrierten alles erdenklich mögliche erstehen konnte. Draußen an der Treppe hing der Zigarettenautomat, aus dem selbst die teerhaltigsten Stängel wie Zuban und Salem in verlockend hübschen Packungen ohne jeden Warnhinweis des Gesundheitsministers auch von Zehnjährigen gezogen werden konnten. Droben auf dem steilen Hügel befand sich der winzige Tante-Emma-Laden der Babette Wolf, in dem es aller Enge zum Trotz ein hölzernes Wartebänkchen gab und wo es immer so wunderbar nach frischem Sauerkraut aus dem Faß roch. Wir hatten unseren Bäcker, unseren Metzger und Schulhefte, Griffel oder Dauerlutscher konnte man direkt gegenüber des Schulhauses bei der alten Frau Leib kaufen. In der Hauptstraße stand zudem das Milchhäusle, aber was man dort kaufen konnte, wie Milch, Käse und Quark, erfreute sich bei uns Kindern keiner allzu großen Beliebtheit.

Das Milchhäusle öffnete werktags um halb sieben und bei Bedarf die frische Milch zu holen, gehörte zu meinen Aufgaben. Milchflaschen aus Glas kamen zu der Zeit gerade neu auf den Markt, aber wir gingen noch mit dem traditionellen Kännle, das war billiger. Zunächst mußte ich dazu am Hof der Meitingers vorbei und dort lauerte Abend für Abend eine Horde freilaufender fieser Gänse. Die waren stets schlecht gelaunt und bissiger als jeder Wachhund und da zur Straße hin keinerlei Zaun Schutz vor dem aggressiven Geflügel bot, hieß es möglichst unauffällig möglichst weit um die Kurve zu schleichen und sobald sie einen entdeckt hatten, zu rennen, was die Sandalen hergaben. Im Milchhaus drüben roch es immer ganz eigenartig säuerlich steril nach der frischen Milch. Im kleinen Verkaufsraum füllte Frau Schuster meine Kanne mit Hilfe einer silbern glänzenden Pumpe, während ihr Mann im anderen Raum in schwarzen Gummistiefeln und weißer Gummischürze mit der Verarbeitung der rohen Milch beschäftigt war, welche die Bauern in großen Stahlkannen kuhwarm anlieferten. Meine Milli-To-Go-Kanne war aus weißem Kunststoff mit blauem Deckel, andere kamen mit älteren kleinen Blechkannen, die oft schon reichlich verbeult waren. Damals war der Besitz von richtigem Spielzeug recht überschaubar und so mußten halt unsere gefüllten Kannen für ein abendliches risikoreiches Spielchen herhalten, das die Kids von heute vermutlich „Laktose-Challenge“ taufen würden. Es ging darum, die randvollen Behälter ohne Deckel am ausgestreckten Arm vertikal wie ein Riesenrad im Kreis zu drehen und Held des Tages war der Junge, der das am langsamsten konnte. Und das war viel schwieriger als man glaubt! Zunächst begann man mit hohem Tempo, dabei blieb der Henkel schön gestreckt und die Milch verharrte dem Gesetz der Fliehkraft folgend selbst am höchsten Punkt der Rotation brav im Kesselchen. Je langsamer aber man drehte, desto größer war die Gefahr, daß Tragegriff und Kanne ihre starre Position nicht halten konnten oder daß die Milch am oberen Scheitelpunkt nicht mehr der Fliehkraft, sondern lieber der Schwerkraft folgte. Dann hatte man ein echtes Problem, denn mangels Fernseher konnte damals auch nicht das später übliche Fernsehverbot als gewaltfreie Buße verhängt werden und demzufolge fiel das Strafmaß der elterlichen Gerichtsbarkeit für fahrlässiges Milchverschütten meist deutlich körperbetonter aus. Dann lernte man am selben Tag neben dem Unterschied zwischen Flieh- und Schwerkraft auch noch die Wirkung der Schlagkraft kennen.

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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