Hainhofen damals
DER UNHEILIGE MARTIN

Der Gedenktag für St. Martin ist für Gänse oftmals ein rabenschwarzer Tag | Foto: Helmut Weinl
  • Der Gedenktag für St. Martin ist für Gänse oftmals ein rabenschwarzer Tag
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Von fetten Gänsen, brennenden Laternen und dem längst vergessenen "Nußmärtel"

Das Datum des 11. November haben viele Menschen parat, denn bekanntlich beginnt jedes Jahr am 11.11. exakt um 11.11 Uhr der Karneval der Rheinländer Jecken, wenn uniformierte Elferräte die Session eröffnen. Der geschichtliche Hintergrund dieses speziellen Termins ist ebenfalls militärischer und völlig unlustiger Natur, erklärten doch das Deutsche Reich und die Westmächte im Jahr 1918 im Frieden von Compiègne vom „elften Tag des elften Monats um elf Uhr an" die Kampfhandlungen des 1. Weltkriegs für beendet. Wir Bayern gelten bekanntlich karnevalistisch als weniger ausgelassen, doch bei uns ist dieser Tag trotzdem wegen seines Namenspatrons, des Heiligen Martin im Kalender markiert.

Einer ersten Legende nach soll der römische Soldat und spätere Mönch an einem eiskalten Wintertag seinen Offiziersmantel mit dem Schwert geteilt und einem bedürftigten, unbekleideten Bettler geschenkt haben. Dieser Akt gelebter Barmherzigkeit beeindruckte den Erlöser Jesus dermaßen, daß er dem selbstlosen Mantelteiler nächtens leibhaftig im Traum erschien und die berühmten Worte sprach: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“. Nach dem Militärdienst lebte Martinus als asketischer Einsiedler, er galt als Nothelfer und wirkte als wundertätiger Klosterbruder in Frankreich. Die Einwohnerschaft seiner neuen Heimatstadt Tours wollte ihn unbedingt als nächsten Bischof sehen, doch der bescheidene Mönch fühlte sich mit einem derart hohen Amt überfordert, flüchtete vor seiner ekstatischen Fangemeinde und verbarg sich etwas unüberlegt in einem Gänsestall. Das angeborene Verhalten des Federviehs war ihm bis dahin vermutlich nicht bekannt, denn die nervösen Gänse taten das, was sie immer tun, wenn ein Fremder in ihren Stall eindringt: sie schnatterten lauthals los und verrieten damit das extrem schlecht gewählte Versteck. Der aus dem Schlaf gerissene Bauer vertrieb knüppelschwingend den Eindringling und auf der Flucht lief Martin seiner Anhängerschaft direkt in die offenen Arme. Die jubilierende Bürgerschaft leuchtete ihm mit einem Fackelzug buchstäblich nach Hause und so wurde der Unwillige doch noch für 30 lange Jahre der dritte Bischof von Tours, vollbrachte das eine oder andere Wunder, nur für die Lebenserwartung von Gänsen hat sich diese Episode forthin negativ ausgewirkt. Auch die Lichterprozession hat die Jahrhunderte überdauert, allerdings ziehen heute unsere Kinder mit bunten Laternen singend durch die Straßen bis regelmäßig ein Wehklagen einsetzt, wenn just zum Refrain "brenne auf mein Licht" die eine oder andere mühsam gebastelte Leuchte in Flammen aufgeht.

Daß am Martinstag so viele Gänse in der Bratröhre landen, hat aber noch eine zweite, halb religiöse halb weltliche Erklärung. Nach dem 11. November begann einst die 40tägige vorweihnachtliche Fastenzeit, auch Philippus-Fastenzeit genannt, in der fetttriefende Kost streng verboten war. Außerdem endete für die unfreien Bauern das Wirtschaftsjahr und sie hatten die drückend hohen Pachtschulden fristgemäß an ihre Lehnsherrn zu bezahlen. Bargeld war damals Mangelware und so wurden die Abgaben nicht selten in Form von Naturalien beglichen. Dafür waren die gut gemästeten Gänse als Zahlungsmittel natürlich bestens geeignet und die reichen Grundherrn verspeisten sie sogleich, um gut über die kalorienarme Fastenzeit zu kommen. Für ihre Vasallen galten die Adligen deshalb als die reinsten Halsabschneider und für die Gänse waren sie es sogar im wahrsten Sinn des Wortes!

Der nächste historisch gewachsene Gedenktag im Jahreszyklus wäre der Besuch des Heiligen Nikolaus am 06. Dezember, zur Erinnerung an den Sterbetag des sagenumwobenen Bischof von Myra in der heutigen Türkei. Dieses Datum ist heute noch als angesagtes Event in aller Munde, allerdings wie so viele andere oft herabgestuft zu einem reinem Konsum- und Kostümfest, bei dem sich das feierwütige Partyvolk nicht zu blöde ist, mit roten Zipfelmützen vom Discounter auf die Weihnachtsmärkte zu drängen um sich dort literweise mit süßem Heidelbeerglühwein zu betrinken.

Es gab am Martinstag bzw. an dessen Vorabend einen ähnlichen, heute weitgehend vergessen Brauch, den Besuch des „Nußmärtel“, der thematisch gut in diesen Kontext paßt. Hinter dem nicht mehr gebräuchlichen Dialektnamen Märtel für Martin verbarg sich demnach der „Nußmartin“, eine eher furchteinflößende Gestalt, die quasi die beiden Charaktere des gütigen Nikolaus mit den Geschenken und seines rohen Gesellen Knecht Ruprecht mit der Rute in einer Person vereinte. Mit dem christlichen Bischof Martin von Tour hat der Nußmärtel allerdings nichts zu tun und er ist auch kein himmlischer Bote wie der Nikolaus. Es handelt sich vielmehr ein Überbleibsel weit zurückliegender religiöser Vorstellungen, bei denen unartigen Kindern mit einer unheimlichen Gestalt namens „Wodan“ oder „Waudel“ gedroht wurde. Dessen Nachfolger wurde irgendwann der „Nußmärtel“, der zwar den braven Kindern in seinem Sack einfache Gaben in Form von Nüssen, Äpfeln oder Dörrobst brachte, nicht aber ohne sie vorher durch sein polterndes, lautstarkes Auftreten in Angst und Schrecken zu versetzen. Daß die so eingeschüchterten Dreikäsehochs mit Tränen in den Augen ein Gebet vortrugen und Folgsamkeit für das kommende Jahr versprachen, war das erklärte Ziel der damals üblichen derben Erziehungsmethoden. Diesbezüglich waren die verängstigten kleinen Seelen ohnehin einiges gewohnt, denn die Vorlesegeschichten aus Doktor Hoffmanns blutrünstigem Struwwelpeter bereiteten seit 1844 mehreren Generationen schlaflose Alptraumnächte.

Ich kenne den Brauch des Nußmärtel aus meiner Kindheit nur noch als Relikt in abgeschwächter Form. Da mein Opa mit Vornamen Martin hieß, gab es für alle Enkel an seinem Namenstag eine kleine Geschenktüte, natürlich mit Nüssen und einer kleinen Tafel Stockmann-Schokolade, aber der Besuch des bärtigen Poltergeists blieb uns gottseidank erspart. Mein Onkel Martin hingegen, in seinen Kindertagen nicht gerade als braver Junge bekannt, mußte noch oft die schmerzhafte Erfahrung machen, daß sein Namenspatron Nußmärtel nicht nur Äpfel, Nuß und Mandelkern mit sich führte, sondern ihm seine tränenreichen Versprechen auf sofortige Besserung nicht abnahm ohne sie ihm mit der Haselnußrute nachhaltig einzubläuen.

Im Schmuttertal ist das Ritual des Nußmärtels längst aus dem Dorfleben verschwunden, doch weiter nördlich im Fränkischen ist der Brauch in anderer Form noch mancherorts anzutreffen. In Wassertrüdingen z.B. findet am Vorabend des Martinstags ein öffentliches Fest mit Geschenken für die Kinder statt. Das „Nußmärteltreiben“ dort ähnelt aber mehr dem Herumziehen maskierter „Perchten“, die in anderen Regionen vor allem in den Rauhnächten die Dämonen oder den Winter austreiben.

Statt des Nußmärtels klopfen Ende Oktober heute überall als Monster verkleidete Kinder an unsere Haustüren und erhalten für den simplen Spruch "Süsses oder Saures" Leckereien im Überfluß. Dieses "Fest des Grauens" am keltischen Neujahrstag hat seinen heidnischen Ursprung in Irland, wurde in den USA kommerziell aufgepeppt und ist in jüngster Vergangenheit über den großen Teich auch nach Schwaben gekommen. Es gibt nicht wenige, welche dieses zugewanderte "Brauchtum" namens Halloween nur allzu gerne wieder zurück ins Meer schubsen würden.

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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