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Siegertexte im Schreibwettbewerb: Schattenmädchen (von Franziska Zoller)

  • Franziska Zoller (14) aus Langenhagen gewinnt den Schreibwettbewerb des Kunstkreises Laatzen und des Calenberger Autorenkreises in der Kategorie der Klassen 9 bis 13. (Foto: Daniel Junker)
  • hochgeladen von Robin Jantos

Beim Schreibwettbewerb des Kunstkreises Laatzen zusammen mit dem Calenberger Autorenkreis hat Franziska Zöller (14) aus Langenhagen mit diesem Text in der Altersklasse "Klasse 9 bis 13" den ersten Preis gewonnen:

Von Franziska Zoller

"Was ist es, was uns ausmacht? Was aus uns uns macht? Es ist nicht Name und nicht Körper. Es ist unsere Seele. Sie definiert uns und braucht dazu nicht einmal Worte. Sie ist der Worte leid, weil sie viel zu unbedacht benutzt. Wo ist das Schöne der Sprache? Verblasst…vergessen. Werde auch ich verblassen? Worte sind nichts als Worte. Doch die Seele ist die Königin unseres Körpers. Zwar kann sie nicht über uns bestimmen, doch sie leitet uns auf all unseren Wegen. Auf den weiten, für die wir Mut brauchen und auch auf denen, die wir schon oft gegangen sind. Was brauchen wir also? Nichts als unsere Seele.“

Schattenmädchen

– für alle, die noch Träume haben –

1.

Ich höre den Blitz, wie er den Himmel zerreißt, sehe den Donner, wie er sich dunkel und grollend über das Land erstreckt. Es ist komisch, denke ich und halte mein kaltes Gesicht in den Wind. Ich kann ihn hören, den Wind, wie er den Bäumen das Blätterkleid entreißt. Ich hebe die Arme gen Himmel und bin eins mit diesem Schauspiel.
Vor wenigen Wochen hätte ich all das noch nicht im Entferntesten wahrgenommen. Ich hätte, wie immer, in meinem Zimmer gesessen und ferngesehen oder ein Buch gelesen. Doch jetzt stehe ich mit nackten Füßen auf der Erde und genieße es, wie meine Zehen sich in die feuchte Erde graben. Ich lächle. War ich glücklich? Ich weiß es nicht mehr, aber jetzt bin ich glücklich… meistens. Bald muss ich nach Hause zurück, aber ich will noch etwas bleiben. Vermissen können sie mich schließlich nicht. Es ist, als würde der Himmel weinen, denke ich, als würde er tausend kostbare Tränen vergießen. Ich atme ein letztes Mal die kalte Luft ein und schmecke sie auf meiner Zunge, ehe ich kehrt mache und durch die matschige Erde zurücklaufe.
Ich folge der Straße Richtung Norden, biege bald scharf links ab und gelange zu einem zweistöckigen Einfamilienhaus. Elli, unser alter Hund, dessen Rasse niemand so genau bestimmen kann, schläft im Garten. Als ich lautlos an ihr vorbeikomme, mustert sie mich unter müden Lidern. Ich streiche ihr sanft übers Gesicht. Ich weiß nicht, ob sie mich spürt. In ihren treuen Augen finde ich kein Spiegelbild und das liegt nicht an der Dunkelheit. Ich seufze und folge dem Weg zum Haus.
Ich habe Glück. Ein Fenster im Erdgeschoss steht offen und es brennt Licht hinter den Vorhängen. Dunkle, traurige Musik strömt halblaut aus dem Raum. Keine Stimme. Nur vollkommene Musik. Lautlos und sanft gleite ich durch das Fenster und über den davorstehenden Tisch. Als ich mich umdrehe, sehe ich den Luftstrom, den ich verursacht habe. Die Vorhänge wehen stumm im Wind und die Blätter segeln wie Blütenblätter tanzend zu Boden. Und da sehe ich sie. Sie sitzt auf dem Bett, einen Block und einen Stift in der Hand. Einen Moment sieht es ganz so aus, als würde sie mich ansehen, aber dann wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und steht auf. Sie fegt an mir vorbei und als meine Hand ihre streift, schüttelt sie sich. Ich höre, wie sie hinter mir das Fenster schließt und die Musik herunter dreht, sie läuft nur noch im Hintergrund. Wortlos wandert sie durch den Raum und verharrt schließlich vor der Kommode. Sie nimmt ein gerahmtes Bild herunter und setzt sich auf das Bett. Sie studiert das Bild eingehend, bis die ersten Tränen auf die Glasscheibe fallen. Sie schluchzt vor sich hin, und ich bin drauf und dran sie in den Arm zu nehmen. Doch ich kann es nicht. Genauso wenig kann ich aus dem Raum laufen, denn die Tür ist zu. Aber selbst wenn ich mir die Ohren zuhalten würde, würde ich doch hören, was sie gleich sagt. Und ehe ich weiß, was ich tun könnte, beginnt sie schon: „Warum?“ Ihre Stimme ist zittrig. Ich drehe mich zum Fenster, weil ich sie nicht sehen will. „Ist es meine Schuld? Ich spüre, wie ihr kleiner Körper bebt. „Wenn ich da gewesen wäre, wäre es dann nicht passiert? Es tut mir so leid… so unendlich leid. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll… ich meine…“ Sie hält inne, und ich weiß genau, wessen Foto sie in ihren Händen hält. „Warum habe ich dich verloren?“ Ich zucke zusammen. Ich will weinen, aber ich kann nicht –
Ich bin tot.

2.

Es war ein grauer, verregneter Morgen gewesen, daran erinnere ich mich. Ich war wie immer zum Bahnhof gegangen, um zur Schule zu kommen. Der Zug hatte Verspätung. Ich erinnere mich daran, dass es kalt gewesen war. Ich konnte den Frost in der Luft beinahe riechen. Und dann hatte ich sie gesehen. Fast alle liefen einfach weiter, doch ich sah sie: Es waren zwei große, muskelbepackte Jungen, sie hatten einen schwächeren, etwas jüngeren bei sich gehabt, auf den sie einschlugen. Er war drauf und dran gewesen, auf die Gleise zu fallen.
Von dem Moment an sind meine Erinnerungen etwas wirr… ich weiß nicht mehr alles.
Ich war zu ihnen gegangen. „Lasst ihn los“. Ich hörte meine eigene Stimme über den Bahnhof hallen, während die Luft vor Spannung und Adrenalin förmlich pulsierte. Ich hörte ihr Lachen und sah ihre kantigen Gesichter förmlich vor mir… für immer eingeprägt in meiner Seele. Den schwächeren Jungen sah ich nicht an, ich schob mich nur vor ihn, sodass sie ihn nicht auf die Gleise werfen konnten. „Geh beiseite, das geht dich nichts an!“ schrie einer der beiden, doch ich wich nicht einen Millimeter. Dann sah ich nur noch, wie er zum Schlag ausholte und spürte, wie er mich mit solcher Wucht traf, dass mich ein scharfer, schneidender Schmerz durchzuckte und ich fiel. Tiefer und tiefer auf die eisigen Gleise. Ich spürte, wie das warme Blut mir aus der Wunde tropfte.
Ich sah hoch in das Gesicht des gepeinigten Jungen. Diesen Moment würde ich niemals vergessen. Er war bildschön. Das braune Haar wehte ihm ins Gesicht und seine blauen Augen waren weit aufgerissen. Erst heute verstehe ich warum.
Er sah den Zug.
Ich jedoch hörte nur das ohrenbetäubende Quietschen der Bremsen, die auf den nassen Gleisen nicht griffen. Ich hörte die Schreie der Leute, die die ganze Zeit weggeschaut hatten und kam der Schmerz.
Es ist schlimm zu sterben. Der Schmerz war unbeschreiblich groß. Ich konnte keines meiner Glieder mehr spüren. Doch ich spürte den Schmerz meiner herausgerissenen Gelenke und den Schmerz der gebrochenen Knochen. Ich schmeckte das warme, metallene Blut auf meinen Lippen, während ich langsam und qualvoll dahinschied.
Ich erinnere mich nur noch an die Dunkelheit und den Schmerz. Ich wusste, dass ich sterben würde. Ich hatte Angst.
Doch als der Tod schließlich kam, war es eine Erlösung. Ich war wie betäubt, die Schmerzen waren verschwunden. Ich fühlte mich so vollkommen, so warm, so geborgen.
Doch ich hatte auch Angst vor dem Ungewissen. Und als die Ungewissheit sich über mich senkte, wurde mir auf einmal unglaublich kalt. Und als ich mich umsah, wusste ich auch warum: Ich stand auf einem Friedhof, im Schnee… mit nicht mehr als einem reinen weißen Kleid. Als ich genauer hinsah, erkannte ich meinen Grabstein. Und ich wusste:
Ich bin tot.
Es war diese eine Erkenntnis, die als Schlüssel diente. Aus dem weißen Schnee entsprangen prächtige Farben, die mich umhüllten. Sie hoben mich empor, immer höher und höher zu einem gleißenden Licht hin. „Ich darf nicht gehen“ dachte ich „ich muss bleiben. Für Mom und Randy und den Jungen, der mich hat sterben sehen…“ „Willst du das wirklich?“ fragte eine Stimme in meinem Kopf. „Es gibt kein Zurück…“ „Ich bin mir sicher!“ dachte ich „todsicher“.
Als ich aufwachte, lag ich auf einem Feld im Regen…
... in einem blütenweißen Kleid.

3.

„Zeit ist mal schnell, mal langsam und doch immer gleich. Wofür brauchen wir die Zeit? Man kann sie nicht anhalten, sie ist eine Art Dauerzustand. Selbst wenn die Welt stillstünde, würde die Zeit doch weiterschreiten. Jede Sekunde eines Tages ist einzigartig, nichts kann wiederholt werden. Unsere Zeit läuft unaufhörlich. Man soll den Tag nutzen, um nicht das Geringste zu verpassen. Das Rauschen der Blätter im Wind, das sich wogende Gras… jede Sekunde, die uns bleibt, ist wertvoll. Zusammenkunft, Ewigkeit, irreal, tödlich… das ist Zeit.“

4.
Ich folge ihr aus dem Haus zum Bahnhof. Ich fühle mich hier nicht gut. Überall stehen Kerzen und Bilder, um an meinen Tod zu erinnern. Randy legt wie jeden Morgen eine einzelne, weiße Rose zu den Bildern, bevor sie in ihren Zug steigt.
Unauffällig schlüpfe ich hinter Randy durch die Tür.
Ich setzte mich neben sie auf den leeren Platz und denke nach. Ich erinnere mich dunkel an die Phasen der Trauer… wie war das… verleugnen? Ich verleugne meinen Tod nicht, nein, ich will nur nicht allzu oft damit konfrontiert werden. Wut? Nein. Den Jungen, die an meinem Tod schuld sind, geht es bestimmt schlecht genug. Verhandeln? Mit wem und worüber? Ich weiß es nicht… akzeptiere ich es bereits? Ja… ich bin einverstanden mit meinem Tod. Auch wenn mir die Leute um mich herum leidtun.
Als ich wieder aufblicke, keuche ich:
Da sitzt er.
Der Junge, der mich hatte sterben sehen. Er fühlt sich sichtlich unwohl. Er schaut immer wieder um sich, wie ein verschrecktes Tier. Für nur einen Moment weiche ich von Randys Seite und schlängle mich durch die Masse von Schülern hindurch. Die Leute erzittern, wenn ich sie berühre. Ich knie mich vor ihn hin.
Ohne nachzudenken lege ich meine Hände auf seine Knie. Er schüttelt sich und schaut mir einen Moment in die Augen. Doch sofort schaut er wieder weg und wendet sich seinem Buch zu. Er liest einen mir unbekannten Roman. Ich seufze. Ich würde auch gerne wieder lesen. Ich vermisse es. Aber ich bin tot.
Ich muss zurück zu Randy, weil sie bald aussteigen muss. Ich werfe einen letzten Blick zurück zu dem Jungen mit den saphirblauen Augen. Er lächelt nicht. Er sieht aus, als würde er innerlich weinen, während er das Buch schließt und es zurück in seine Tasche schiebt.
Als die Haltestelle für Randy kommt, stellt er sich hinter sie und als die Türen sich öffnen, rast er förmlich an ihr vorbei und stößt sie an, sodass sie hinfällt. Ich halte den Atem an, weil ich weiß, dass ich ihr im Notfall nicht helfen kann. Ich müsste zusehen, wie sie stirbt.
„Aufpassen, Mann!“ schreit Randy, während sie ihre Hand betastet, auf die sie gefallen ist. Sie ist etwas aufgeschürft.
Ängstlich dreht sich der Junge um und sieht Randy am Boden. Sofort läuft er zurück und hilft ihr auf. „Tschuldigung“, murmelt er. „Hab dich nicht gesehen.“
Wie benommen starrt er Randy an. Ich weiß warum, Randy ist zwar erst 14, aber sie sieht mir zum Verwechseln ähnlich. „Was ist denn?“ zischt Randy und ich würde sie am liebsten schütteln.
„Du erinnerst mich an wen“, murmelt er. „Wen denn?“ keift sie. „Ein Mädchen… sie ist vor kurzem gestorben… bei einem Zugunfall an dem Bahnhof…“ Randy blinzelt verzweifelt. Sie hält ihre Tränen zurück. „Das war meine Schwester Dawn“, flüstert sie und reißt sich los. „Dawn“ murmelt er. Es klingt schön, wie er das sagt. Dawn… „Ich muss los“, und weg ist Randy. Der Junge hebt die Hand um sie zurückzuhalten,
doch Randy ist schon weg…

5.

In dieser Nacht regnet es und Blitze zucken hell über den Himmel. Der Geruch von nasser Erde erfüllt die Luft. Ich stehe auf dem Feld und genieße das alles. Ich will nichts davon verpassen, nicht das allerkleinste bisschen. Ich will ihn fühlen, den Wind, ich will die Blitze sehen und den Donner wie einen Herzschlag spüren. Ich will sein. Ich will vergessen, dass ich tot bin. Ich tanze durch das wogende Gras, lausche dem Rauschen der Bäume und bin zufrieden, weil sich all das niemals ändern wird. Selbst wenn alle Menschen stürben, würde es noch immer regnen und stürmen.
Es wird ewig so sein.
Allerdings kann ich nur abends oder nachts kommen… aber wieso eigentlich? Ich kann bei Randy sein, aber das wird sie niemals wissen. Ich kann nicht mit ihr kommunizieren und ich kann ihr nicht helfen. Und ich begreife, dass es vielleicht überstürzt war, zu bleiben. Sicher freue ich mich, Randy zu sehen, und das jeden Tag, aber war es die richtige Entscheidung? Ich werde immer nur der stille Beobachter sein, der unfähig ist, ins Geschehen einzugreifen. Und mein Herz bereut es etwas. Der Himmel weint für mich eisige Tränen und ich verliere mich im Sturm. Der Donner grollt schwer übers Land. Es klingt, als wäre etwas zersprungen, als wäre mein Herz zersprungen…

6.

„Was passiert mit einem lieben Menschen, wenn er stirbt? Verschwindet er einfach, mit all den Gefühlen? Ich glaube nicht, ich meine…wozu leben wir dann? Nur um zu sterben?“
Der Zettel liegt ganz oben, über all den weißen Rosen auf meinem Grab.

Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf einen einzelnen Rosenbusch, der trotz der Kälte noch immer schneeweiße Blüten trägt. Ein einzelnes Blatt löst sich von einer Blüte und tanzt im Wind. Ein wildes Ballett voll unbedachter Schönheit. Ich verfolge den Tanz und genieße die dargestellte Freiheit. Manchmal bin ich wie das Blütenblatt, so wild und eins mit dem Wind, aber dann bin ich wieder gefangen, wie die Blüten und muss allem trotzen, was sich mir in den Weg stellt.
Randy muss mich loslassen. Aber was wäre, wenn Randy mich vergisst? Woran soll ich dann noch festhalten? Ich werde eine ruhelose Seele sein. Doch ich weiß, dass es so das Beste ist. Mit dem Schnee beginnt ein neues Kapitel.
Randy akzeptiert, so wie ich es akzeptiert habe, so wie es der Junge mit den saphirblauen Augen akzeptiert hat, der mittlerweile nicht mehr von Randys Seite weicht, was ich gut finde, auch wenn es mir schwer fällt, denn so ist Randy nicht mehr allein. Und meine Eltern werden es auch eines Tages akzeptieren. Und ich bin froh.

7.

Es hat angefangen zu schneien und der Schnee hat die Wunden verschlossen.
Randy geht über den Friedhof, in ihrer Hand eine einzige, weiße Rose.
Mein Grab ist von weißem Schnee überzogen und die Rose hebt sich kaum von ihm ab. „Ich danke dir so sehr Dawn“, flüstert sie in den Wind „Für alles, was du mir gegeben hast“ Noch einmal kniet sie sich herunter und legt ihre Hand auf den vereisten Stein. Eine Träne fällt auf den Schnee. „Ich hoffe, dir geht es gut, dort wo du bist.“

***

Randy hatte es akzeptiert, weil sie wusste, dass Dawn überall um sie herum war. Sie war im prächtigen Regen, im reinen Schnee und in den Blütenblättern, die im Wind ihr Ballett vollführen. Und wenn ihr eine weiße Rose, oder im Regen Schatten oder Blütenblätter im Wind seht, dann seid Euch gewiss, dass das etwas ganz Besonderes ist. Denn jede Sekunde ist einzigartig und der Wunsch eines jeden von uns sollte es sein, genau das zu erhalten. Für alle, die noch kommen werden, und in Ehren an alle, die verblasst sind. Denn all diese Menschen leben in unserer Welt weiter. Sie leben in den schönen Dingen um uns herum und sorgen dafür, dass wir glücklich sind. Vielleicht lebt im Sonnenaufgang Dawn weiter und erzählt Euch das Ende ihrer Geschichte. Lauscht dem Wind und vergesst sie nicht.

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3 Kommentare

Wow, ich bin schlichtweg begeistert...

Eine traurig-schöne Geschichte!! :)

Herzlichen Glückwunsch!

Eine sehr beeindruckende und emotionale Geschichte.
Besonders begeistert mich die Dartstellung der Thematik in ihrer Einfachheit.

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