MyHeimat – ernsthaftes Medium oder Explosion des Quatsches?

MyHeimat: Symbol der Konfusion.

Der Computerpionier und Computerkritiker Josef Weizenbaum (1923–2008) hat das Internet einmal „Explosion des Quatsches“ genannt. Was würde er, wenn er noch lebte, zu MyHeimat sagen?

Dieses Portal wird von gewissen Zeitungsverlagen als Anwendung der neuartigen Web-2.0-Technologie betrieben. Ihre Nutzer (oder „User“) bilden eine sogenannte Internetgemeinschaft, d.h. sie sind nicht mehr lediglich Leser einer (auf Papier gedruckten) Zeitung, sondern aktive Mitgestalter eines elektronischen Mediums, und werden offiziell als „Bürgerreporter“ bezeichnet. Ein Bürgerreporter nimmt die Funktion eines Berichterstatters wahr, wird aber – im Gegensatz zum professionellen Reporter – nur nach Eigenbedarf und spontan aktiv, d.h. dann, wenn es etwas ihm wichtig Scheinendes zu berichten gibt. Sind die MyHeimatler Bürgerreporter in diesem Sinn? In vielen Fällen zweifellos: da wird über Sportereignisse berichtet, es werden Veranstaltungen angekündigt oder auf wohltätige Projekte hingewiesen. Aber die Mehrheit der Teilnehmer sieht MyHeimat doch ziemlich anders.

Beispiel Garbsen (5. 12. 2008, 10:37 Uhr). Während zwei Berichte „Feuer im Gleidinger Einfamilienhaus“ und „Welttag des Ehrenamts“ (jeweils 3-mal gelesen) keine Kommentare bekommen, erfreut sich der Schnappschuss einer Schneeplastik aus dem Grödnertal mit dem Titel „Das ist Kunst“ begeisterter Zustimmung (20 Mal gelesen, 8 Kommentare, nach 37 Minuten). Es folgt ein Kalenderblatt aus Barsinghausen (63-mal gelesen), in dem ein Schüler in Krakelschrift allen MyHeimatlern ein schönes Weihnachtsfest wünscht. Als Kommentar wünscht Frau Müller (um 5:20 Uhr) „einen fröhlichen guten Morgen allerseits“. Weitere 16 Kommentare drücken fast gleichlautende Glückwünsche und Dankesbezeigungen aus. Nun kommt als nächster Beitrag eine Skulptur im Rathaus Garbsen (7 Kommentare), ein Bekenntnis „Ja zum Ehrenamt“ (0 Kommentare), Ankündigung eines „Feuerwerks der Turnkunst“ (2 Kommentare), der christliche Seniorenbund übernimmt eine Patenschaft (0 Kommentare), eine Serie Winterbilder, die sich in nichts von tausend anderen unterscheiden, usw.

Allgemein fällt die starke Bezogenheit der Beiträge auf den aktuellen Zeitpunkt auf: man wünscht sich gute Nacht oder ein schönes Wochenende; das heißt, man ist darauf eingestellt, dass der Beitrag am nächsten Tag oder in der kommenden Woche bedeutungslos geworden ist und somit im großen Haufen spurlos verschwinden kann. Nur ganz wenige Beiträge erheben den Anspruch, noch nach Monaten lesenswert zu sein.
Ferner ist auffällig, dass die nebensächlichsten und seichtesten Themen die größte Resonanz erfahren. Ganz selten wird ein wichtiges Thema ernsthaft diskutiert; sehr häufig bestehen die Kommentare aus einem Hin und Her von Witzeleien und persönlichen Anspielungen.
Das tausendste Morgen- oder Abendrot, die millionste Ente wird ausgiebig gelobt und beklatscht, wenn einem der Autor (über Kontakte) bekannt und genehm ist. Und derzeit bundesweit am laufenden Band: Adventsbasare, Weihnachtsmärkte und Krippenausstellungen; ein Beitrag wie der andere, mit immer den gleichen Bildern.
Bemerkenswert ist auch das oft große Mitteilungsbedürfnis der (häufig weiblichen) Teilnehmer und ihre religiöse Bekenntnisfreudigkeit. Da werden eigene und fremde Gedichte und Geschichten vorgetragen; wenn Pfarrer Markus seine mystisch bewegten Gedanken vorträgt, suchen ihn einige noch an religiöser Inbrunst zu übertreffen.
Eine Teilnehmerin sendet einen unaufhaltsamen Strom von Glitzerkarten mit Sinnsprüchen in die Welt und redet in kuriosem Nicht-Deutsch: „Gute Nacht von herzen wünschen der von herzen kommt.“ Ein Rentner schreibt Tag für Tag seitenlange Koch- und Backrezepte ab, ein Hobbykünstler sucht die MyHeimat-Gemeinde mit naiv-schönen Gemälden zu erfreuen.

Würde man dies alles als repräsentative Stichprobe ansehen, müsste man zu einem ernüchternden Urteil über die Gedankenwelt unserer Landsleute gelangen. Aber vielleicht werden FAZ-, HAZ- oder Zeit-Leser das Portal eher meiden? Für die Mehrheit jedoch ist es eine Spielwiese und ein Marktplatz der Eitelkeiten, es gleicht dem Stimmengewirr eines überregionalen Cafés oder dem Sprüchekloppen in einer globalisierten Kneipe.

Hat Weizenbaum schließlich recht? Ich weiß es auch nicht und muss nun gehen ...

Bürgerreporter:in:

Rüdeger Baumann aus Garbsen

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