„Ich hoffe auf einen liebenden Gott“

Wassernachschub für die Vögel
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myheimat: Herr Dr. Waigel, in einem sehr bewegenden Fernseh-Interview mit Werner Schmidbauer nahmen Sie auf ein Gespräch zwischen August Everding und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger Bezug, um Ihren eigenen Glauben näher zu beschreiben. „Auf welchen Gott hoffen Sie am Ende der Tage – einen gerechten oder einen barmherzigen?“ lautete die Streitfrage zwischen dem Theatermann und dem Kirchenmann. Sie sagten damals, dass Sie Everdings Antwort „auf einen barmherzigen Gott“ überzeugender fanden. Sie hoffen also auch auf einen gütigen, barmherzigen Gott?
Dr. Theo Waigel: Auch wenn der „Kirchenmann“ heute Papst ist, bleibe ich bei meiner Antwort. Natürlich ist die Aussage „Ich setze auf einen gerechten Gott“ nicht falsch. Ich kann mich aber mit Everdings Antwort besser identifizieren. Ich hoffe auf einen liebenden, gütigen Gott.
myheimat: Warum lässt dann aber ein allgütiger, allweiser, allmächtiger Gott Leid und Übel zu?
Dr. Theo Waigel: Das ist die nicht erst seit Guardini viel diskutierte Frage. Sie ist kaum zu beantworten. Gott hat den Menschen mit einem freien Willen ausgestattet. Das bringt auch den Missbrauch der Freiheit mit sich. Man würde an der Welt verzweifeln, wenn man in diesem Zusammenhang nicht an eine ausgleichende Gerechtigkeit glauben würde. Ich glaube daran, dass die Sünden dieser Welt nicht später, sondern im Hier und Jetzt abgestraft werden. Es fällt mir schwer, an die Existenz der „Hölle“ zu glauben. Die Vorstellung, dass Gott Milliarden von Menschen erschaffen hat und Millionen von ihnen dann nach einem relativ kurzen Leben für immer verdammt, lässt sich mit meinem Gottesbild kaum vereinbaren.
myheimat: Lassen Sie uns ein wenig über Ihr Menschenbild sprechen. Ist der Mensch aus Ihrer Sicht eher ein mürrischer, von Neid zerfressener, aggressiver Einzelgänger, wie ihn Thomas Hobbes beschreibt oder ist er ein von Natur aus auf die Gemeinschaft hinstrebendes Wesen, wie Aristoteles meint?
Dr. Theo Waigel (lacht): Menschliches Leben ergibt nur im sozialen Kontext einen Sinn. Insofern würde ich eher Aristoteles zustimmen, wenngleich ich in der Politik schon einige mürrische Einzelgänger kennenlernte. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. Einerseits ist der Mensch ein Individualwesen, andererseits strebt er zur Gesellschaft hin. Die Gemeinschaft war für mich immer ein tragendes Prinzip. Vernünftige Freunde, Nachbarn und Familie waren für mich immer besonders wichtig. Dieses Netzwerk habe ich versucht zu pflegen.
myheimat: Aber die ökonomischen Verteilungskämpfe werden härter. Der Firnis der Zivilisation scheint dünn zu sein, der soziale Kitt porös.
Dr. Theo Waigel: Da haben Sie nicht ganz Unrecht. Der Kampf gegeneinander – und hier sind wir wieder bei Hobbes’ „homo homini lupus“ -, ist schon da. Das ist keine Frage. Darum muss der Kitt immer wieder „neu erzeugt“ und gepflegt werden. Ohne bürgerschaftliches Engagement ist eine moderne Gesellschaft nicht vorstellbar. Einer, der sich ausklinkt und ohne sozialen Bezug egoistisch durch das Leben marschiert, kann nicht glücklich werden. Das ist meine feste Überzeugung.
myheimat: Ein anderes Themenfeld. Sie gelten als humorvoller, amüsanter Plauderer. Können Sie uns Ihr Humorverständnis etwas näher beschreiben? Die Münchner Komiker Karl Valentin, Weiß Ferdl, aber auch Gerhard Polt dürften Ihnen liegen, oder?
Dr. Theo Waigel: Mein Vater und meine Mutter schätzten Karl Valentin und Weiß Ferdl sehr. Ich bin dagegen eher ein Anhänger des etwas „strengeren“, schwäbischen Humors, wobei sich mein Humorverständnis im Lauf der Jahre durchaus erweitert hat. Ich bin ein großer Liebhaber des Kabaretts und der Karikaturen. In meinem Speicher habe ich eine umfangreiche Sammlung guter Karikaturen angelegt. Damit könnte ich fast eine eigene Ausstellung bestreiten. Ernst Maria Langs Zeichnungen gefielen mir hervorragend. Auch die Karikaturen von Dieter Hanitzsch und Horst Haitzinger zählen dazu. Was Karikaturisten mit wenigen Strichen verdichtet auf den Punkt bringen können, ist phänomenal. Zu einigen Kabarettisten unterhalte ich einen sehr guten persönlichen Kontakt. An meinem 60. Geburtstag tauchte beispielsweise völlig überraschend Ottfried Fischer in Ursberg auf, bei meiner Hochzeit trat Gerhard Polt unerwartet auf. Einen Kabarettisten, den ich sehr schätze, ist Bruno Jonas. Seine Gastspiele auf dem Nockherberg sind unvergesslich. Ganz wichtig sind für mich die Selbstironie und die Fähigkeit zur Selbstkritik.
myheimat: Joschka Fischer hat einmal gesagt, dass sich „die Verwandlung des Menschen durch das Amt wesentlich schneller vollziehe als die Verwandlung des Amtes durch den Menschen.“ Sie waren von November 1988 bis Januar 1999 CSU-Vorsitzender und von April 1989 bis Oktober 1998 Bundesfinanzminister. Welche Persönlichkeitsveränderungen haben Sie an sich selbst in dieser Zeit feststellen können?
Dr. Theo Waigel: Ich hoffe, dass ich mich nicht allzu sehr verändert habe. Der Theologe Joseph Bernhart hat dazu folgenden klugen Satz gesagt: „Man ist eine Zeit lang ein anderer gewesen und man ist es nicht umsonst gewesen.“ Natürlich bewegt man sich als Politiker nicht in einer „normalen“ Welt. Insofern muss man schon aufpassen.
myheimat: Das ist der entscheidende Punkt. Berufspolitiker sind ständig gezwungen, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen. Inwieweit besteht die Gefahr, dass man dieses Rollenspiel dann auch im Privatleben praktiziert? Kann man sich überhaupt ein hohes Maß an Authentizität im Politikgeschäft bewahren?
Dr. Theo Waigel (lacht): Die Familie ist ein wichtiges Korrektiv. Sie sorgt dafür, dass man auf dem Boden bleibt. Ich hoffe, dass mir die „Resozialisierung“ besser gelungen ist als anderen.
myheimat: Ein weiteres Problem des Politikerlebens: Die meisten Entscheidungen in der Politik sind Güterabwägungen. Die Gegenseite hat meistens genauso Recht wie man selbst oder um mit Martin Walser zu sprechen: „Wenn man von etwas nicht auch das Gegenteil sagt, sagt man nur die Hälfte. Ohne sein Gegenteil ist nichts wahr.“ Fiel es da nicht manchmal schwer, einen politischen Gegner aus parteitaktischen Gründen anzugreifen, obwohl man innerlich wusste: „Ganz Unrecht hat er mit seiner Argumentation nicht“?
Dr. Theo Waigel: Ich bin zwar kein Anhänger Hegels, aber seine Dialektik hat schon etwas für sich. Im Grunde ist das auch eine Form des Dialogs. Aus These und Antithese erwächst eine Synthese. Im politischen Bereich gilt also kein Standpunkt absolut. Wer zum Kompromiss nicht fähig ist, sollte nicht in die Politik gehen. Viele Entscheidungen im Bundestag sind Ergebnisse von Vermittlungsprozessen. Ich muss einräumen, dass ich heute ehemaligen politischen Konkurrenten ganz anders begegne als früher. Zu Helmut Schmidt unterhalte ich beinahe ein freundschaftliches Verhältnis, obwohl ich ihn in den 1970er und 1980er Jahren politisch erbittert bekämpft habe. Ähnliches galt für Willy Brandt. Die Perspektiven ändern sich. Es freute mich außerordentlich, als Helmut Schmidt bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie in Tutzing sagte, dass er gekommen sei, weil er mich möge.
myheimat: Sie haben im Laufe Ihres politischen Lebens viele faszinierende Persönlichkeiten kennengelernt. Welche charismatische Persönlichkeit hat sie am meisten beeindruckt?
Dr. Theo Waigel: George Bush senior hat mich sehr beeindruckt. Er war ein großer Freund der Deutschen. Ohne ihn wäre die Wiedervereinigung nicht zustande gekommen. Eine weitere faszinierende Persönlichkeit war Michail Gorbatschow. Ich habe ihn in guten und traurigen Stunden im Kaukasus erlebt. Eine Szene blieb mir besonders im Gedächtnis haften: Nach dem Putsch 1991 traf ich einen müden, gebrochenen, einsamen Gorbatschow. Da sagte ich ihm: „Michail, in den letzten Monaten haben viele Menschen in Deutschland mit Ihnen gelitten und - wenn ich das einem Atheisten sagen darf -, für Sie gebetet.“ Dann liefen Gorbatschow vor Rührung die Tränen über die Wange. Er antwortete: „In der Not erkennt man seine Freunde.“ Wenn ich ihn heute umarme, bewegt mich das immer noch sehr. Bill Clinton war auch ein Mensch, der offen auf die Leute zugehen konnte. Er empfing mich jedes Mal, wenn ich zu Besuch in Washington war. Wir frühstückten zusammen und Bill Clinton servierte den Kaffee. Mir fällt spontan eine nette Anekdote ein. Als ich ihn zum ersten Mal traf, fragte er mich: „Theo, is Neuschwanstein still existing?“ Clinton hatte in seiner Studentenzeit einen bayerischen Freund namens Rüdiger Löwe. Sie trampten damals durch Bayern und besuchten Bamberg, Nürnberg und Neuschwanstein. Außerdem interessierte sich Clinton besonders für die skifahrerischen Fähigkeiten meiner Ehefrau. Als ich ihm 1993 beim Gipfel in Neapel begegnete, zeigte er sich ganz begeistert darüber, dass Irene die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Lake Placid gewonnen hatte. Sehr verlässliche Politiker waren auch John Major und Boris Jelzin.
myheimat: Herr Dr. Waigel, vielen Dank für dieses Gespräch.

myheimat-Team:

Joachim Meyer aus Friedberg

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