Science Fiction auf MyHeimat: Absturz in Deutsch-Südwest

Science Fiction auf MyHeimat: In dieser Geschichte verschlägt es den Helden in eine Alternativwelt.
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  • hochgeladen von Jens Schade

Es steht uns wieder ein Wochenende bevor, dass wir möglichst zu Hause verbringen sollen. Diesmal tut man dies gern freiwillig. Nachdem der April uns mit schönstem Maiwetter beglückte, startete der Wonnemonat Mai nun mit nasskalter, wechselhafter Aprilwitterung. Da ist es zu Hause bei einer heißen Tasse Tee und interessantem Lesestoff doch gleich gemütlicher.

Deshalb habe ich für Euch / Sie, liebe Leser, noch eine meiner früheren Science-Fiction-Kurzgeschichten herausgesucht. Ich weiß, der Begriff "kurz ..." ist relativ, aber ich würde die Erzählung doch noch dieser Literaturgattung zuordnen. Mein Versuch, die Geschichte nachträglich zu kürzen, war nicht von großem Erfolg gekrönt. Sie wäre zu stark verändert worden. Indes, ich hoffe, ich habe sie interessant genug erzählt, dass man sie auch so gerne zu Ende liest.

Science Fiction ist ein weites Feld. Diesmal habe ich  ein Thema ausgewählt, mit dem wir uns bei "Science Fiction auf MyHeimat" bislang noch nicht beschäftigt haben: mit Pararelluniversen und Alternativwelten. Es kann sein, dass der eine oder andere Tugendwächter die Story als nicht so politisch korrekt bewertet. Niemanden soll damit zu nahe getreten werden. Ich bitte nur zu beachten, dass die Handlung abgesehen vom Einstieg in einem Paralleluniversum spielt, in dem die Geschichte etwas anders verlaufen ist. Doch nun viel Spaß beim Lesen:

Absturz in Deutsch-Südwest

Auf dem Monitor rückte das Flugzeugsymbol ein Stück weiter in Richtung der Grenze zwischen Namibia und der Republik Südafrika. Dann wechselte die Anzeige zur Flughöhe und zur Reisegeschwindigkeit. Ralf Friedmann seufzte erleichtert und versuchte vergeblich, sich in dem engen Sitz etwas zu strecken. Er stieß nur sacht an seinen Nachbarn. Einen dicken Geschäftsmann, der es geschafft hatte, in den engen Sessels Schlaf zu finden und nun leise vor sich hin schnarchte. Ralf Friedmann war das nicht vergönnt. Selbst auf langen Flügen konnte er einfach nicht einschlafen. Aber nun rückte das Ziel seines Fluges wenigstens auf dem Monitor in der Flugzeugkabine in optische Nähe und er tröstete sich mit dem Gedanken, dass der größte Teil seiner Reise schon hinter ihm lag.

Ralf Friedmann war Ingenieur und auf den Weg nach Kapstadt, um für mehrere Monate bei der dortigen Niederlassung seines Unternehmens zu arbeiten. Weil er mit 28 Jahren noch relativ jung und außerdem ledig war, suchte seine Firma den schmächtigen Mann mit dem kleinen Kinnbart vorzugsweise für solche Auslandsjobs aus. Lustlos blätterte Friedmann wieder in einem Magazin über Fotografie, das er sich noch in Deutschland gekauft hatte. Diese langen Flüge erschöpften ihn immer und dann hatte kaum noch zu etwas Lust. Das Zeichen zum Anschnallen leuchtete auf. Gehorsam griff Ralf Friedmann zu seinem Gurt. Eine Stewardess schlenderte den Gang entlang. Die Schaukelbewegungen des Flugzeuges wurden stärker. Offenbar waren sie in eine Zone mit besonderer Luftunruhe geraten. „Hoffentlich kommt kein Luftloch“, dachte Friedmann. Schon einmal saß er in einem Flieger, der plötzlich einige Meter absackte. Dieses Gefühl wollte er nicht wieder erleben. Die Stewardess ging schneller durch die Reihen. Bei Ralf Friedmann zwängte sich zwischen ihm und den Vordersitz, um an den Gurt des benachbarten Schläfers zu gelangen. Friedmann atmete aus, damit er etwas schlanker wurde. Im selben Moment wurde er rabiat in seine Rückenlehne gestoßen und die uniformierte Frau vor ihm verschwand in einem bunten Lichterbogen.

Nur mühsam öffnete Ralf Friedmann wieder die Augen. Sein ganzer Körper schmerzte und er wagte nicht, sich nur ein bisschen zu bewegen. Er lag in etwas Weichem und blinzelte in den hellen Schein einer Lampe. Die Silhouette einer Frau zeichnete sich ab. Friedmann schloss die Augen und öffnete sie erneute. Das Bild wurde klarer. Die weiße, schon etwas ältere Stewardess war einer schwarzen jungen Schönheit in einem weißen Kittel gewichen, die sich nun interessiert über ihn beugte. Friedmann bewegte seine Augen. Er lag in einem Bett, offenbar in einem Krankenzimmer, die Frau musste eine Ärztin oder Krankenschwester sein. Es musste einen Unfall gegeben haben. Das Flugzeug – war es abgestürzt?

Ralf Friedmann sprach eigentlich fließend Englisch. Nun aber formten sich die fremden Worte nur wiederwillig in seinem Kopf zu einem Satz. „Whats’s happen? Where ... I’m ... am I?“ brachte er schwerfällig heraus.

Die schwarze Krankenschwester oder was sie auch immer war, lächelte ihn an. „Beruhigen Sie sich. Sie sind im Krankenhaus, aber Ihnen geht es eigentlich ganz gut“, sagte sie in akzentfreiem fließenden Deutsch.

Ralf Friedmann atmete hörbar aus. „Sie sprechen deutsch?“, fragte er ungläubig. Wo bin ich?“

Die junge Frau lächelte noch immer. „Natürlich spreche ich deutsch! Wie könnte ich sonst als Krankenschwester arbeiten? Mein Name ist Marie, nennen Sie mich einfach Schwester Marie.“

„Bitte, wo bin ich?“ Ralf Friedmann versuchte sich aufzurichten, die Schwester drückte ihn aber sanft zurück auf sein Kissen.

„Im Krankenhaus, das sagte ich doch schon. „Aber Ihnen ist kaum etwas geschehen. Sie müssen einen Schutzengel gehabt haben.“

Ralf Friedmann war zunehmend verwirrt. „Bitte, wo genau bin ich? In welcher Stadt? Und was ist passiert? Ich weiß nur noch, dass ich im Flugzeug saß.“

Schwester Marie nickte eifrig. „Ja, Ihr Flugzeug ist abgestürzt. Die Maschine war der reinste Schrott, noch nicht einmal der Typ soll identifizierbar gewesen sein, habe ich gehört. Und von den anderen Passagieren und der Besatzung blieb wohl kaum etwas übrig. Aber Sie lagen – bis auf ein paar Kratzer unversehrt – bewusstlos mitten in den Trümmern. Ein Wunder muss Sie gerettet haben. Sie wurden dann hier zu uns gebracht.“

„Ja, ich war auf den Flug nach Südafrika“, sinnierte Friedmann laut und blickte dann die Schwester an. „Aber bitte, in welchem Krankenhaus in welcher Stadt bin ich jetzt?“

Die Schwester schaute ihn an. „Was um Himmels willen wollten Sie denn bei den Engländern? Nun, jetzt sind Sie auf jeden Fall im Lüderitz-Krankenhaus in Kaiser-Wilhelm-Stadt. Zufrieden?“

Friedmann schaute verwirrt: „Lüderitz? Kaiser-Wilhelm? Sind das noch die alten deutschen Namen? Wir befanden uns doch über Namibia, als, nun ja, als es geschah. Wie weit ist Windhuk entfernt?

Jetzt machte Marie große Augen? „Namibia? Windhuk? Lieber Freund, Sie sind wirklich durcheinander. Dieses Land heißt schon seit fast hundert Jahren Deutsch-Südwestafrika und Windhuk wurde vor über 30 Jahren in Kaiser-Wilhelm-Stadt umbenannt.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein junger Weißer im Arztkittel schaute herein. „Na, wie geht es unserem Patienten“, sagte er fröhlich, griff in die Hosentasche und tupfte sich mit einem nicht mehr ganz so sauberen Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn. „Verdammt heiß ist es heute schon wieder“, stellte er fest. Dann schaute er Friedmann durchdringend an. „Sie sind ein medizinisches Wunder! In Gottes und des Kaisers Namens. Sie müssten tot sein. Eigentlich hätten wir von Ihnen mit viel Glück vielleicht den Teil einer Hand oder einen Fuß finden können. Man fischte Sie aber mit sage und schreibe genau drei kleinen Kratzern, die kaum geblutet haben, aus einem Trümmerberg, der nicht mehr als Flugzeug identifizierbar war. Wie um Himmels Willen haben Sie das gemacht? Nichts gebrochen, nichts zerquetscht, nichts verbrannt.“

Friedmann zuckte unwillkürlich die Achseln. „Ich – ich weiß nicht. Es ging alles so schnell und dann wachte ich hier auf.“

„Unser Patient ist immer noch etwas durcheinander“, ergriff nun Marie das Wort. „Er nennt Kai-ser-Wilhelm-Stadt immer noch Windhuk.“

Der Arzt blinzelte etwas misstrauisch. „Wie die Engländer“, stellte er. fest. „Die halten an diesem Namen fest, dabei ist er doch gar nicht sonderlich englisch, oder?“ Nun kicherte er etwas. „Aber jetzt, , lassen Sie mal sehen.“

Die Untersuchung verlief offenbar zur Zufriedenheit des namenlosen Arztes. Denn vorgestellt hatte er sich nicht. „Alles wunderbar in Ordnung“, stellt er fest, „aber unser Patient muss langsam wieder etwas essen. Nachher heißt es noch, Absturz durch Wunder überlebt, im Krankenhaus verhungert. Schwester kümmern Sie sich darum. Ich schreibe jetzt meinen Bericht.“

Es war ein Frühstück, was ihn Marie nach kurzer Zeit brachte. Neben einer Scheibe Schwarzbrot mit Marmelade gab es reichhaltiges Obst und eine Tasse Kaffee. Eine andere Schwester räumte Geschirr und Tablett wieder ab und ermahnte Friedmann, etwas zu schlafen. Er würde bald seine Entlassungspapiere erhalten. Dann verschwand sie durch die Tür.

Friedmann hatte tatsächlich mit Appetit gegessen. Aber nun, wo er wieder allein war, drehte sich in seinem Kopf alles. Wo in aller Welt war er? Windhuk mitsamt dem ganzen Südwest-Afrika wurden nach dem Ersten Weltkrieg doch südafrikanisches Protektorat und dann als Namibia unabhängig. Hatte man in diesem Krankenhaus den Lauf der Geschichte verpasst?

Draußen vor der Zimmertür wurde es unruhig. Friedmann hörte Maries Stimme. „Er braucht noch Ruhe. Sie können da jetzt nicht ...“ Da wurde die Tür aufgestoßen, Marie durch die Körper-fülle eines Mannes in Uniform ins Zimmer gedrängt, dann rückte der nicht gerade schlanke weiße Uniformträger nach. Links und rechts neben der Tür nahmen zwei bewaffnete Schwarze in Uniform Aufstellung und standen stramm. Ihre Gewehre zeigten – was Friedmann irgendwie beruhigend empfand – harmlos mit den Lauf nach oben.

Der Weiße hielt Friedmanns Pass in der Hand und blätterte darin. „Ihr Name ist Ralf Friedmann?“ bellte er.

„Friedmann nickte. „Ja, haben Sie meinen Pass gerettet?“

„Er steckte in Ihrer Jackentasche. Ihre Kleidung war bis auf etwas Dreck genauso unversehrt wie Sie. Seltsam nicht? Es scheint fast so, als ob man Sie erst im Nachhinein in die Trümmer gelegt hat.“

Friedmann wurde wieder schwindlig. „Ich, ich verstehe nicht.“

Der Uniformierte knallte den Pass auf die Bettdecke. „Eine unverschämte Fälschung!“ Bloß weil die Engländer 1918 ihren König davon jagten und die Republik ausriefen ist das Deutsche Reich noch lange keine ‚Bundesrepublik‘. Aber das geht wohl in die Köpfe der Engländer nicht hinein.“

Friedmann schlug die Hände vor dem Kopf zusammen. „Bitte, ich verstehe überhaupt nichts.“

„Er braucht Ruhe“, wagte Marie einzuwenden, doch der dicke Mann brachte sie mit einer Hand-bewegung zum Schweigen. Dann bohrte sich sein Zeigerfinger der rechten Hand durch die Bettdecke in Friedmanns Brust.

„Sie sind ein englischer Spion! Haben wohl gedacht, die dummen Deutschen merken das nicht. Haben sich aber geirrt! Die da ...“, er deutete auf Marie, „hat berichtet, Sie haben zuerst Englisch gesprochen. Klar, wenn man aus der Bewusstlosigkeit aufwacht, in der ihre Freunde Sie offenbar versetzt haben, um das ganze etwas realistischer zu gestalten, dann redet man immer erst in der eigenen vertrauten Sprache. Und unsere schöne Kaiser-Wilhelm-Stadt heißt bei Ihnen Windhuk, wie bei den Engländern. Sie sind überführt und verhaftet!“

Friedmann hatte einen Kloß in der Kehle. Er wusste, er hätte etwas sagen müssen. Aber er brachte kein Wort heraus. Auf einen Wink traten die beiden schwarzen Wachleute an das Bett heran und rissen Friedmann, der nur ein weißes Krankenhaus-Nachthemd trug, aus dem Bett heraus.

„Sie werden das weiche Bett nun mit einem etwas unkomfortablen Lager vertauschen müssen“, schnarrte der Dicke. „Aber keine Sorge, es ist nicht für lange. Ich gehe davon aus, dass man Sie sehr bald erschießen wird.“

„Sie können ihn nicht so mitnehmen. Er trägt ja nur ein Krankenhaushemd!“ wandte Schwester Marie ein.

„Das wollen wir dem Krankenhaus natürlich nicht stehlen“, entgegnete der Dicke und riss mit einer Handbewegung Friedmann das Stückchen Stoff herunter. Die beiden schwarzen Uniformierten zwangen Friedmann die Arme auf den Rücken und dann klickten Handschellen.

Friedmann wurde trotz des Protestes von Schwester Marie durch das Krankenhaus hinunter zu einem in militärischen Farben angestrichenenKleintransporter geschleift. Friedmann erkannte den typischen Stern des Herstellers und konnte auch noch die Aufschrift „Reichswehr-Polizei“ lesen, bevor er auf einer schmalen Bank im Laderaum Platz nehmen musste. Die beiden Schwarzen setzten sich ihm gegenüber, schauten ihn stumm an und hielten ihre Gewehre bereit. Der dicke Offizier schien vorn zu dem Fahrer gestiegen zu sein. Das Auto rumpelte los. Nur durch einen kleinen Fensterschlitz in der hinteren Tür fiel etwas Licht. Friedmann konnte nicht erkennen, wohin die Fahrt ging.

„Wo bin ich bloß gelandet?“ fragte sich Friedmann. Zuerst hatte er an einen Fantasy-Film gedacht, den er einmal im Fernsehen gesehen hatte. Dort war der Held durch ein Zeitloch gefallen. Ohne dass der Film erklärt hatte, was eigentlich ein Loch in der Zeit sein könnte und ohne dass Friedmann selbst eine konkrete Vorstellung davon hatte, was man sich unter so etwas eigentlich vorstellen musste, war sein erster Gedanke, dass ihm genau das gleiche wiederfahren sei, wie jenen Filmhelden damals und er in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder aus diesem Loch aufgetaucht war. Schnell revidierte er aber seine Ansicht. Die Technik im Krankenhaus ent-sprach in etwa dem ihm vertrauten Standard. Ein Krankenhaus vor 1918 muss anders ausgese-hen haben, insbesondere in Afrika. Auch das Auto, mit dem man ihn wer weiß wohin brachte, sah nicht so aus, als ob es aus den Anfängen der Automobilgeschichte stammte. Vielleicht war er doch tot, hatte den Flugzeugabsturz, oder was immer mit dem Flieger geschehen war, nicht überlebt und dies war nun eine besondere Form der Hölle. Der Teufel müsste dann aber Sinn für skurrilen Humor haben, wenn er eine Hölle ausgerechnet in Form einer deutschen Kolonialherrschaft geschaffen hatte.

Friedmann wurde aus seinen Gedanken gerissen. Der Wagen stoppte. „Aussteigen!“ befahlen seine Bewacher barsch, packten ihn am Arm und zerrten Friedmann hinaus. Er wurde über einen geteerten Hof in ein Gebäude gebracht. Durch ein Wirrwarr von Gängen gelangte er in eine große Halle. Seine beiden Bewacher öffneten die Handschellen und übergaben ihn zwei anderen weißen Uniformierten. Um ihn herum herrschte geschäftiges Treiben. Uniformträger, teils bewaffnet, teils mit irgendwelchen Papieren in der Hand, hasteten an ihnen vorbei, ohne die Gefangenen groß zu beachten. Seine Bewacher bedeuteten ihn, stehen zu bleiben und zu warten.

Nach einiger Zeit trat ein weißer Offizier an ihn heran und kommandierte: „Mitkommen!“

Als Friedmann sich nicht sogleich bewegte, stieß ihm einer der Soldaten die Waffe in den Rücken. Er taumelte vorwärts. Friedmann wurde in ein Büro gebracht und musste vor einem Schreibtisch Aufstellung nehmen. Dahinter saß eine ältere Frau, in Uniform mit einem Friedmann völlig unbekannten Rangabzeichen am Ärmel. Ein bewaffneter Wärter blieb hinter ihm stehen. „Name?“ bellte die Frau.

Seine Angaben trug die Frau sorgfältig in einen Vordruck ein. Friedmann wurde nach seiner Heimatadresse befragt, seinen Geburtstag und Geburtsort, den Namen seiner Eltern und nach einer Reihe von Krankheiten. Bei seinem Geburtsdatum stockte die Frau etwas, musterte ihn, zuckte dann die Schultern und schrieb die Zahlen auf. Als Friedmann beteuerte, er sei kein englischer Spion, unterbrach ihn die Frau mit einer Handbewegung. Zur Sache wolle sie von ihm nichts wissen, ihre Aufgabe sei nur, seine Angaben zur Person, seien sie nun wahr oder nicht, aufzunehmen.

Nach dieser Prozedur brachte ihn sein Bewacher wieder hinaus, über den Hof in ein anderes Gebäude. Hier musste er vor einem Tresen warten, über dem ein Schild mit „Kleiderkammer“ hin. Die für die Kleiderausgabe zuständige Wärterin musterte ihn kurz, ging nach hinten und kam mit einem Bündel wieder und knallte es auf den Tresen. „Hose und Hemd, passend“, sagte sie, trug wieder etwas in eine Liste ein und schob Friedmann dann das Bündel herüber. Auf der linken Seite das Bündel unter dem Arm geklemmt, musste Friedmann mit der anderen Hand seinen Namen auf die Liste schreiben. Es war dort eine Extraspalte für „Empfangsbestätigungen – Vom Gefangenen eigenhändig zu unterzeichnen“ vorgesehen. Nur wenige Minuten später fand sich Friedmann dann in einer muffigen Einzelzelle wieder. Sein Bewacher hatte die Tür zugeknallt und verriegelt. Der Boden und die Wände bestanden aus nacktem Beton. Als Einrichtungsgegenstand war lediglich eine von der Wand herunterklappbare Holzpritsche und ein Blecheimer – wohl für dringende körperliche Bedürfnisse – vorhanden. Durch ein kleines vergittertes Loch, fast an der Decke, fiel etwas Licht herein.

Seufzend breitete Friedmann seine neue Bekleidung auf den Boden aus. Keine Unterwäsche, keine Schuhe. Nur eine gestreifte Hose mit Gummizug und ein gestreiftes Hemd, beides ohne Taschen. Die Hose passte einigermaßen, das Hemd war viel zu weit. Friedman war froh, dass es auch in der Zelle warm war. Sonst hätte er sich jetzt schon eine Erkältung oder noch etwas Schlimmeres geholt. Er stellte sich vor, dass er eine Lungenentzündung bekommen könnte und schüttelte sich.

Dreimal am Tag brachte Wärter etwas zu essen. Morgens durfte er zum Duschen antreten und musste den Eimer zuvor in einer Art Jauchekuhle in einem Schuppen entsorgen, der in einem düsteren und unbelebten Innenhof stand. Das war das einzige Mal am Tag, dass Friedmann kurz ins Freie gelangte. Der Duschraum grenzte unmittelbar an diesem Hof  und war für mehrere Personen eingerichtet, aber Ralf Friedmann säuberte sich unter den Augen eines Wachmannes stehts allein. Der Fußboden war aber bereits nass, wenn Friedmann zum Duschraum geführt wurde. Offenbar gab es hier doch weitere Gefangene und man ihn hielt nur von den anderen getrennt. Und es gab normalerweise wohl auch Morgenappelle. Denn von weither vernahm Friedmann manchmal Männerstimmen, die anscheinend das Deutschlandlied intonierten. Jedenfalls vermeinte Ralf Friedmann, die Melodie zu erkennen. Einmal glaubte er, einen Textfetzen verstehen zu können. „Gott beschütze, Gott erhalte, unseren Kaiser, unser Land“, lies der Wind es durch die Mauern schallen, bis die Worte wieder unverständlich wurden. . Diesen Text hatte Friedmann vorher noch nie gehört.

Zweimal holte drei Wachleute Friedmann zum Verhör. Er hatte die schlimmsten Befürchtungen und stellte erleichtert fest, dass die einzige Beschwernis der Befragung darin bestand, dass er die ganze Zeit über stehen musste, während die zwei Männer, die von ihm seine Geschichten hören wollten, hinter einem Schreibtisch saßen und seine Aussagen auf ein Kassettengerät aufzeichneten. Jedes mal musste er erzählen, wie Deutschland und die Welt aus seiner Sicht aussah, was alles in den vergangenen Jahren seiner Ansicht nach in der Welt geschehen sei und immer, wenn er in das ungläubige Gesicht seiner Zuhörer blickte, stieg die Angst in ihm auf. Würde man nun auf ihn einprügeln, um die angebliche Wahrheit zu erpressen? Doch nach einigen kurzen Detailfragen, die er so gut, wie er konnte, zu beantworten suchte, führten ihn die Wachleute zurück zu seiner Zelle.

Friedmann hatte schon fast das Zeitgefühl verloren. Saß er seit drei Tagen hinter Gittern oder war es schon eine Woche? Dann, eines morgens, wurde wieder seine Zelle aufgeschlossen. „Gefangener Friedmann, raustreten“, kommandierte der Wächter.

Ralf Friedmann trat vor und streckte seine Hände aus. Wie immer, wenn er aus der Zelle geführt wurde, bekam er Handschellen angelegt. Zwei Wärter führten ihn dann durch die Gänge des Gefängnisses in einem Bereich, den Friedmann noch nicht kannte. Stand diesmal kein Verhör auf dem Programm? Oder wurde er jetzt zu einem anderen Verhörraum gebracht. Vielleicht ein Raum, wo auch „schärfere Mittel“ eingesetzt werden konnten?

Zu seiner Überraschung bestand das Ziel in einem Raum, der durch eine Glasscheibe in zwei Teile getrennt war. An drei Stellen boten Sitzgelegenheiten an der Trennscheibe mit Mikrofon und Lautsprecher die Möglichkeit, mit Personen auf der jeweils anderen Seite zu sprechen. Auf den Platz rechts jenseits der Glasscheibe saß eine junge schwarze Frau. Friedmann erkannt sie erst nicht, dann fiel es ihn aber wie Schuppen vor die Augen. Es war die Krankenschwester, die sich zuerst um ihn gekümmert hat.

Friedmann wurde zu dem entsprechenden Platz auf seiner Seite des Raumes gebracht. „Setzen!“, kommandierte sein Bewacher. „Besuchszeit fünf Minuten.“ Dann nahm einer der Wärter hinter ihm Aufstellung, der andere blieb an der Tür stehen.

Die Krankenschwester schaute ihn durch die Glasscheibe an. „Wie geht es Ihnen?“ fragte sie nach kurzem Zögern.

„Ich lebe noch“, krächzte Friedmann. „Danke, dass Sie gekommen sind. Sie sind mein erster Besuch. Es kennt mich hier ja auch niemand. Aber weshalb sind Sie hier, Schwester? Man hält mich für einen Spion. Wenn man Sie mit mir in Verbindung bringt, dann könnten Sie auch in Verdacht geraten.“

Die Frau auf der anderen Seite suchte nach Worten. Dann: "Nun, ich, ich musste einfach kommen. Ich weiß, Sie sind kein Spion. Dass fühle ich. Und durch meine unbedachten Äußerungen – hätte ich doch nur nicht weiter erzählt, dass Sie Englisch gesprochen haben.“

„Sie trifft keine Schuld. Bitte, ich machen Ihnen keine Vorwürfe. Und ich bin natürlich kein Spion!“ Friedmann versuchte, mit seinen nach wie vor gefesselten Händen seinen Kopf zu stützen. „Ich weiß noch nicht einmal, wo ich bin. Ich weiß nur, das hier ist nicht meine Welt. Träume ich Sie? Dass wäre – trotz aller Umstände – insoweit dann doch ein schöner Traum.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Woher Sie kommen, weiß ich nicht. Aber ich bin kein Traum. Das versichere ich.“

Friedmann sah sie an. „Bitte, wie heißen Sie? Wenn ich vielleicht doch hier herauskommen, würde ich Sie gern auch einmal besuchen.“

„Haben Sie meinen Namen vergessen. Ich heiße Marie.“

„Marie, ja. Ihren Namen habe ich nicht vergessen. Aber haben Sie keinen Nachnamen?“

„Doch. Mondjäger, Marie Mondjäger.“

„Mondjäger?“

Alle meines Angehörige meines Volkes haben deutsche Nachnamen angenommen, oder jedenfalls Namen, die deutsch klingen. Seit meinem Großvater heißt unsere Familie Mondjäger. Und wenn Sie mich später einmal besuchen wollen, ich bin im Krankenhaus zu finden, im Schwesternwohnheim.“

„Es ist sehr schön, dass Sie gekommen sind. Wirklich, ich freue mich so.“

Schwester Marie beugte sich vor. „Ich freue mich auch, Sie zu sehen.“

Der Wärter fasste Friedmann an die Schulter. „Aufstehen. Besuchszeit zu Ende.“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Friedmann in das Mikrofon.

„Auf Wiedersehen“ kam es aus dem Lautsprecher zurück. Dann stand auch die junge Frau auf.

Der Wärter schob Friedmann zur Tür zurück. Friedmann versuchte noch, einen Blick auf die andere Seite der Glasscheibe zu werfen, aber da war schon der Ausgang erreicht.

Den Rest des Tages verbrachte Friedmann in nahezu fröhlicher Stimmung, obwohl er zusam-men mit dem Abendessen einen Briefumschlag serviert bekam, für den nach dem unübersehba-ren Absendevermerk der „Militärstaatsanwalt für Deutsch-Südwest“ verantwortlich zeigte. Friedmann riss den Umschlag auf. Darin befand sich eine Anklageschrift. Im wurde darin der Versuch der „landesverräterischen Ausspähung von Staatsgeheimnissen in Tateinheit mit lan-desverräterischer Agententätigkeit für eine auswärtige Macht“ vorgeworfen. Der Staatsanwalt, der mit Oberstabsjustizrat Dr. Schwelm das Dokument unterzeichnet hatte, beantragte dann weiter ein verkürztes, nichtöffentliches Verfahren vor dem Militärgericht und die sofortige Hin-richtung des Verurteilten durch ein Erschießungskommando. Abschließend wurde Friedmann darüber informiert, dass ihm ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werde und sich dieser vor dem noch mitzuteilenden Termin der Hauptverhandlung mit ihm in Verbindung setzen würde. Doch an diesem Abend interessierte Ralf Friedmann die Ausführungen des Militärjuristen wenig. Er überlegte vielmehr, ob der Umstand, dass sich schon der Großvater von Schwester Marie Mondjäger nannte, nun bedeutete, dass das Mädchen noch nicht verheiratet war. „Aber bestimmt hat sie dann einen festen Freund“, kam nun Friedmann ein anderer Gedanke.

Der nächste Morgen begann eintönig wie die anderen Tage auch. Nun drängte sich mehr und mehr der Inhalt der Anklageschrift in die Gedanken. Friedmann schmeckte das dürftige Früh-stück nicht und immer wenn sein Blick auf die am Boden liegende Briefumschlag der Militär-staatsanwaltschaft fiel, verstärkte sich sein flaues Gefühl im Magen. Er meinte, sich am Eimer übergeben zu müssen, würgte aber nur etwas, ohne dass er viel ausspucken konnte.

Ralf Friedmann kaute auf einem Stück Brotrinde herum, als sich unerwartet die Zellentür öffnete. „Friedmann, sofort raustreten!“, befahl der Wärter. „Aber etwas zackig! Ich habe Befehl, den Gefangenen umgehend dem Vorsteher vorzuführen. Also auf!“

Verwundert registrierte er, dass der Wärter in der Eile vergaß, ihm Handfesseln anzulegen. Auch der übliche zweite Wachtposten fehlte.

Der Wärter trieb Friedmann zur Eile an. „Schneller, Friedmann, der Vorsteher wartet nicht gerne. Ich will wegen Dir keinen Ärger bekommen.“

Im Laufschritt ging es die Gänge entlang. Schließlich gelangte sie an ein Zimmer. Der Wärter klopfte. „Herein“ schallte es durch das Holz. Vorsichtig öffnete der Justizwachmann die Tür und salutierte. „Gefangener Friedmann zur Stelle“, meldete er.

Der ältere Mann mit einem schon fast weißen Vollbart nickte. Schicken Sie ihn herein und dann lassen Sie uns alleine.“

Nun schob der Wachposten Friedmann in den Raum, salutierte noch einmal und schloss dann von außen die Tür.

Eine Weile schaute der Vorsteher auf Friedmann, bevor er sich erhob und um seinen Schreibtisch herum ging. „Sie scheinen mächtige Freunde in Wien zu haben“, sagte er dann bedächtig. „Ein Gesandter seiner Majestät des Kaisers ist unterwegs hierher um mit Ihnen zu sprechen. Morgen wird er erwartet. Bis dahin sind Sie Gast der Reichsregierung. Ich habe Anweisung, sie im besten Hotel der Stadt unterzubringen. Nun, im Nebenzimmer liegt ihr Anzug und Ihre übrige Kleidung und Schuhe, die die Feldjäger im Krankenhaus sichergestellt haben, natürlich gesäubert und gereinigt. Sie können sich dort umziehen. Wenn Sie fertig sind, lasse ich Sie dann in ihr Hotel bringen.“

Ralf Friedmann verstand nun überhaupt nichts mehr. Er hatte keine Freunde in Wien. Und wieso sollten irgendwelche Leute in Österreich Einfluss auf die deutsche Regierung besitzen, die soviel er wusste, auch im Kaiserreich in Berlin gesessen hatte. Aber diese seltsame Welt, in die er irgendwie hineingeraten war, hielt wohl einige Überraschungen bereit.

Ordnungsgemäß stellte der Vorsteher Ralf Friedmann einen Entlassungsschein aus, dann rief er einen Wärter herein und ordnete an, dass man Friedmann zu einem Hotel bringen sollte, dessen Namen Grandhotel Erzherzogin Maria Theresia oder jedenfalls so ähnlich lautete. Es war mehr als ein Zimmer, was dort für ihn angemietet worden war. Schlafzimmer, Wohnzimmer, ein Arbeitsraum mit Schreibtisch und ein sehr großzügiges Bad standen zu seiner Verfügung. Vom Wohnraum aus war ein Balkon zu erreichen mit einem weiten Blick über die Stadt. Über dem Sofa hing ein in Hochglanz gedrucktes und mit einem schweren, vergoldeten Rahmen versehenes Foto. Das Bild eines Monarchen mit Krone und Zepter. „Unsere Majestät, Kaiser Wilhelm Franz von Habsburg-Hohenzollern, König von Preußen, Erzherzog von Österreich“ stand darunter.

Ralf Friedmann lies sich in einen der Ledersessel fallen, die im Wohnraum standen und versuchte, nachzudenken. Bewacher hatte er nicht bemerkt. War es vielleicht das Beste, still und heimlich dieses Hotel zu verlassen und zu verschwinden? Aber wohin? Lag jenseits der Grenze dieser deutschen Kolonie seine eigene, alte Welt? Wahrscheinlich nicht. Und vor allem, wovon sollte er leben? Gewiss, bei seinen Sachen war seine Brieftasche mit einem Vorrat an US-Dollar-Noten. Soweit er feststellen konnte, hatte man ihm alle Gegenstände vollständig wieder ausgehändigt. Aber würde dieses Geld ihm hier irgendwie weiter helfen? Wohl nicht. Wenn hier alles anders war, dann war es auch das Geld. Vermutlich würde er als Falschmünzer und Betrüger wieder im Gefängnis landen, wenn er nur den Versuch machte, mit Dollar zu bezahlen. Er seufzte. Die überraschende Wendung seines Schicksals musste irgendeinen Grund haben. Am günstigsten wäre es für ihn wohl, abzuwarten, was dieser kaiserliche Beauftragte von ihm wollte, der für morgen angekündigt war.

Friedmann ging in das Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne. Er würde ein entspannendes Bad nehmen, sich danach Essen aufs Zimmer bringen lassen, sich richtig den Bauch voll schlagen und endlich wieder in einem komfortablen Bett schlafen. Alles Weitere sollte sich dann am nächsten Tag ergeben, so oder so.

Strahlender Sonnenschein weckte Ralf Friedmann. Anfänglich hatte er nicht einschlafen können, dann forderte sein Körper jedoch ein, was er in den Tagen des Gefängnisaufenthalts versäumt hatte. Friedmann verfiel in einem tiefen – und wie er jedenfalls nach dem Aufwachen meinte, traumlosen Schlaf. Er gähnte herzhaft und streckte sich, als das Telefon neben seinem Bett klingelte. Ein Mitglied der Hoteldirektion entschuldigte sich überschwänglich für die Störung, brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Friedmann gut geruht habe und kam dann endlich zur Sache. Es läge eine Nachricht vor, wonach sich eine sehr hohe Persönlichkeit aus dem Umkreis des allerhöchsten Kaisers angesagt habe, der Friedmann besuchen wolle. Man rechne in drei Stunden mit dem Eintreffen dieser Person. Ob es ihm, Ralf Friedmann recht sei, wenn das Hotel dazu den Roten Salon für die wohl anstehende Besprechung herrichten würde?

Friedmann nickte automatisch, obwohl sein Gesprächspartner ihn ja gar nicht sehen konnte. „Ich habe volles Vertrauen in Ihr Hotel. Richten Sie alles so ein, wie Sie es für gut und in Ordnung befinden“, entgegnete er, bevor er dann für eine halbe Stunde später ein reichhaltiges Frühstück bestellte. „Langsam wird es spannend“, dachte Friedmann bei sich.

Die Zeit verging sehr schnell. Ein Hoteldiener brachte Friedmann über mehrere Treppen in einen opulent ausgestatteten Saal. „Der Rote Salon, Herr Friedmann“, sagte er dann und ließ seinen Gast eintreten. Innen wartete schon ein älterer, etwas beleibter Herr, der auf Ralf Friedmann zu stürzte und ihm die Hand schüttelte. „Es freut mich, Sie kennen zulernen. Wir hatten ja gar nicht geahnt, welch einen bedeutenden Gast wir in unseren bescheidenen Räumen beherbergen. Mein Name ist von Schwurach. Ich gehöre zur Hoteldirektion. Unser Haus beehrt sich, Ihnen und seiner Durchlaucht, dem Fürsten von Erlenbach, einige kleine Getränke und einen Imbiss zur Verfügung zu stellen.“ Seine Hand deutete auf ein angerichtetes sehr üppiges Büfett. Ralf Friedmann erkannte mehrere Champagnerflaschen. Eifrig fuhr von Schwurach fort: Der Fürst von Erlenbach ist auf den Weg vom Flughafen zu unserem Haus. Er wird in wenigen Minuten eintreffen.“ Etwas klingelte in seiner Tasche. Der Hoteldirektor angelte ein kleines Mobiltelefon heraus und hielt es sich ans Ohr. Dann schaltete er ab und blickte wieder Friedmann an. „Seine Durchlaucht, der Fürst von Erlenbach ist so eben eingetroffen und begibt sich hierher. Er möchte mit Ihnen alleine sprechen. Ich verabschiede mich daher nun jetzt. Wenn Sie einen Wunsch haben, läuten Sie bitte hier.“ Von Schwurach deutete auf ein herabhängendes Band neben dem Büfett. Mit einer Verbeugung zog er sich dann zurück.

Unschlüssig blieb Ralf Friedmann in der Mitte des Raumes stehen. Wie empfing man einen offenbar sehr bedeutenden Fürsten?

Ein Hoteldiener öffnete die große Flügeltür und stand stramm. „Seine Durchlaucht, der Fürst von Erlenbach, oberster geheimer Rat seiner Majestät, des Kaisers!“ rief er dabei.

Ein Mann mittleren Alters, etwas kleine als Ralf Friedmann, in einer Prunkuniform betrat den Raum und bedeutete den Pagen, die Tür zu schließen. „Wir möchten uns ungestört unterhalten“, sagte er in einem befehlsgewohnten Ton.

Kaum schlossen sich die Flügel der Tür knarrend, trat der Mann forsch auf Friedmann zu, ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Etwas ungewohnt hier, für Sie, schätze ich“, sagte er. „Die gute alte Bundesrepublik kann mit dem hier nicht mithalten.“

Friedmann schaute seinen Besucher erstaunt an. „Sie kennen die richtige Welt?“

Der Fürst von Erlenbach lachte. „Richtige Welt? Ist die Welt, aus der Sie kommen, wirklich die richtige? Oder diese hier? Oder eine andere? Zumindest ist die, in der wir uns beide befinden, um Klassen besser als die, aus der wir kommen.“

„Ich verstehe nicht, Herr, - Herr Fürst von Erlenbach.“

Der Besucher schob Friedmann in Richtung eines Sofas. „Das glaube ich gerne. Kommen Sie, setzen wir uns. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig und hoffe, die Sachlage auch einigermaßen verständlich erläutern zu können. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Es ist besser, wenn Sie sitzen. Und entschuldigen Sie Ihre Inhaftierung. Ich hoffe, wir konnten Sie mit der Unterkunft hier etwas für die Gefängnistage entschädigen. Aber Sie müssen verstehen, seit die Engländer Irland und Schottland in die Unabhängigkeit verloren haben, machen Sie von ihren Kolonien aus eine Menge Ärger. Irgendwie brauchen die einen Ausgleich.“

Unterwegs zum Sofa schnappte sich der Fürst ein paar der Trüffelpralinen, die offenbar als Nachtisch auf dem Büfett lagerten, lehnte sich dann bequem zurück, lächelte und sagte: „Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass es mehr geben könnte, als nur die Welt, in der Sie bislang existierten? Das es irgendwo andere Erden, wohl auch andere Ralf Friedmanns geben könnte, die ähnlich, aber nicht ganz genauso wie Sie, leben? Haben Sie schon einmal etwas von Parallel-Universen gehört?“

Ralf Friedmann nickte langsam. „Früher, als Jugendlicher, Da gab es eine kurze Periode, da hab ich so Fantasie-Erzählungen, auch Science-Fiction gelesen. Da kam mal so etwas vor.

„Na Prima, dann muss ich ja nicht so weit ausholen. Wir befinden uns nämlich in einer derartigen Parallelwelt zu unserer guten alten Erde. Überrascht? Nun, die Geschichte ist hier seit Anfang des 20. Jahrhunderts etwas anders verlaufen. Hier hat Deutschland den ersten Weltkrieg – was heißt eigentlich erster, es kam doch kein zweiter hinterher – gewonnen. Deutschland ist nicht weiter zerstückelt worden, hat keine Kolonien verloren, hat sogar zum Großteil seine in früheren Zeiten verlorenen Gebiete wieder zurückgewonnen. Es gab keinen Hitler – ein gewissen Adolf Schickelgruber wurde vorsorglich durch den Geheimdienst liquidiert, zumindest wurde der Welt damit ein schlechter Kunstmaler erspart. Deutschland blieb ein Rechstaat und wurde viel früher schon als Sie ahnen, eine parlamentarische Demokratie und es gab die Wiedervereinigung der deutschen Lande.“

„Wiedervereinigung? Es gab - gab eine DDR, hier?“

Der Fürst lächelte. „Es war anders als Sie jetzt denken. In erster Linie wurde der verhängnisvolle Fehler von 1866 rückgängig gemacht. Österreich ist – wie sagte man in unseren alten Heimat – ich glaube, „heim ins Reich“ zurückgekehrt. Mit der Heirat des hohenzollerischen Thronfolgers und einer Prinzessin aus dem Hause Habsburg wurde diese Vereinigung der deutschen Lande dann endgültig besiegelt. Aber auch Lichtenstein und die am Ende des 30jährigen Krieges abgespalten Nordwestbereiche gehören erneut zum Reichsverband. Der Niederländische König ist jetzt ein Reichsfürst unter dem Kaiser, dafür herrscht er über die gesamten Niederlande. Belgien gibt es nicht mehr und auch Luxemburg wurde dem niederländischen Reichsteil zugeschlagen. Das heutige Frankreich ist etwas kleiner, als Sie es kennen. Die alte Westgrenze des mittelalterlichen deutschen Reiches ist praktisch wieder hergestellt. Nicht nur Straßburg, sondern auch Metz und Mömpelgard sind erneut deutsch. Nur hinsichtlich der Schweiz gibt es da noch einige Probleme. Aber da verhandeln wir gerade über eine Konföderation als Zwischenlösung. Irgendwann, da bin ich sicher, regiert unser Kaiser dann wieder über ganz Deutschland. Und das ist, auch wenn es unbescheiden klingt, glaube ich, vor allem mein Verdienst.“

„Oh“, sagte Friedmann nur. Und dann nach einer kurzen schweigsamen Pause: „An eine Parallelwelt habe ich nicht gedacht. Zuerst glaubte ich, eine Zeitreise gemacht zu haben, aber das hier konnte nicht das Afrika von vor 1918 sein.“

„Nein, das kann es nicht. Wissen Sie, Zeitreisen in dem Sinn, wie sie mansche Schriftsteller beschreiben sind unmöglich. Das liegt daran, was Zeit eigentlich ist. Das, was wir als Zeit empfinden, ist nur die ständige Ausdehnung unseres Universums in – nun – in irgendetwas, was wir uns nicht vorstellen können. Deshalb kann man nicht in der Zeit reisen. Die Zukunft – jedenfalls die Zukunft dieser Welt – gibt es noch nicht, weil sich das Universum noch nicht so weit ausgedehnt hat und für eine Reise in die Vergangenheit müsste man den Ausdehnungsprozess umkehren. Auch das geht wohl nicht.“

Der Fürst schaute Friedmann an. „Was mich interessiert ist, wie Sie in unsere jetzige Welt gekommen sind.“

„Ich weiß nicht. Ich flog mit dem Flugzeug und da, na ja, dann wachte ich im Krankenhaus wieder auf.“

„Ja, ich habe den Bericht über Ihre Aussagen gelesen. Schade, dass Sie nicht mehr wissen. Offenbar gibt es mehr als einem Weg, die Welten zu wechseln.“

„Man kann die Welten wechseln?“

Der Fürst lächelte. „Nun, Sie sind ja hierher gekommen und ich auch.“

„Dann sind Sie, sind Sie auch ...“

„Richtig. Ich komme ebenfalls aus Ihrer Welt oder zumindest einer, die Ihrer so ähnlich ist, dass wir beide wohl keinen Unterschied feststellen könnten. Ja, ich gelangte hierher, als man in dieser Welt gerade das Jahr 1905 schrieb. Außer der verschobenen Zeit schien – jedenfalls soweit ich es erkennen konnte – alles weitgehend identisch mit der Erde, in der wir beide aufgewachsen waren. Die Geschichte war auf alle Fälle bis 1905 sehr, sehr ähnlich verlaufen. Da ich unsere alte Heimat im Jahr 1976 verlassen hatte, war ich gegenüber meinen neuen Mitbürgern nun jedoch im Vorteil. Ich wusste, was die Zukunft brachte. Es war trotzdem nicht leicht, in den engeren Kreis des damaligen Kaisers Wilhelm den Zweiten vorzudringen. Keine Sorge, ich langweile Sie nicht mit Einzelheiten. Nur soviel. Ich schaffte es und konnte damit Einfluss auf den Verlauf des Weltkrieges und die weitere Entwicklung nehmen. Das Ergebnis sehen Sie hier. Das Deutsche Reich ist eine Weltmacht und steht an der Spitze des technischen Fortschritts. Alle bis heute gemachten wesentlichen technischen Errungenschaften gehen seit 1905 auf deutsche Patente zurück, die ich in Parallelwelten, die uns voraus sind, erkundet habe. Wir schreiben hier das Jahr 1981. Und ...

„1981? echotete Ralf Friedmann. „Aber ich bin 1998 geflogen und ...“

„Nun, die Zeit vergeht in den einzelnen Universen unterschiedlich. Warum, das wird ein Mensch wohl nie verstehen. Wichtig zu wissen ist auch nur, dass es andere Universen gibt, wo die Zeit insgesamt gesehen schneller oder langsamer läuft. Hält man sich in den einen nur mehrere Minuten unserer Zeit auf, ist man dort aber bereits um Jahre gealtert, in anderen kann man zwei Tage dortiger Zeit verbringen und hier sind Jahrhunderte vergangen. Und nicht immer bleibt der zeitliche Verlauf gleich, mal beschleunigt ein Universum, mal wird es langsamer. Was ich sagen will: Es gibt Welten, da verläuft die Zeit langsamer als hier. Wenn in dieser Welt alles in Ordnung ist und auch ein Ausflug in eine sehr ähnliche Parallelwelt, die schon etwas weiter in ihrer Entwicklung ist, keine Auffälligkeiten zeigt, dann ziehe ich mich in eine Welt zurück, wo die Zeit sehr, sehr langsam abläuft und ich entsprechend langsam altere. Ein, zwei Tage nur, aber hier vergehen Jahre.“

„Sie können die Welten nach Belieben wechseln. Haben Sie eine, eine Was-auch-immer-Maschine zur Reise zwischen den Universen erfunden?“

Der Fürst wirkte plötzlich etwas verlegen. „Nun, äh, es gibt auf alle Fälle ein solches Gefährt. Ich habe es hierher transportieren lassen, weil ich mich niemals weit davon entferne. Es ist in einer Kasematte der Hauptbefestigung dieser Stadt untergestellt. Ich zeige es Ihnen, wenn es Sie interessiert.“

„Können, können Sie mich zurück ...“ Friedmann blickte seinen Gesprächspartner bittend an. Doch der Fürst schüttelte den Kopf. „Leider nein, es ist ein Gefährt nur für eine Person.“

„Können Sie kein anderes bauen? Eines, mit dem Sie mich zurückbringen können?“

Der Fürst blickte traurig. „Junger Mann, wiederum: leider nein. Um nun ganz ehrlich zu sein. Ich habe dieses Gerät nicht selbst gebaut. Ein Reisender aus einem anderen Universum kam damit in unsere gemeinsame frühere Welt.“

„Sie haben es gestohlen?“

„Nein, nein. Nicht so, wie Sie denken. Aber der Reisende verunglückte vor meinen Augen. Ich wollte ihn retten, glauben sie mir, ich leistete erste Hilfe, aber es war zu spät. Doch im Sterben vertraute er mir sein Geheimnis an. Erst habe ich es selbst nicht geglaubt. Aber als ich seine Maschine ausprobierte, da klappte alles so, wie er es beschrieben hatte. Doch nun seien Sie nicht weiter traurig. Ich weiß, sie haben Freunde und Angehörige zurückgelassen, aber dafür haben Sie eine neue, bessere Welt gewonnen. Das ist sehr viel wert und gleich den Verlust mehr als aus, Herr Friedmann. Und vielleicht taucht eines Tages hier ein Reisender oder eine Reisende mit einem Zweisitzer auf, der Sie zurückbringen kann. Aber, ich bin überzeugt, Sie würden es dann nicht mehr wollen. Und hier habe ich Großes mit Ihnen vor.“

„Sie haben etwas mit mir vor?“

Der Fürst wiegt den Kopf. „Nun ja. Erst einmal bitte ich Sie, ihre Kenntnisse von anderen Welten für sich zu behalten. Es wäre ungünstig, wenn dies hier bekannt würde. Anderseits brauche ich einen Assistenten, der mit allen Fragen vertraut ist und vor allem – was mir zugegebenermaßen etwas fehlt – ein gutes technisches Verständnis aufweist. Sie sind Ingenieur. Der fehlende zweite Weltkrieg und der nicht eingetretene kalte Krieg haben – so zynisch es klingt, die technische Entwicklung, nun ja, verlangsamt. Ich sagte ja bereits, ich muss mich in anderen Welten um neue Innovationen kümmern. Manchmal habe ich Schwierigkeiten mit dem, was ich von dort zurückbringe. Dabei können Sie mir helfen. Ihr Schade wird es nicht sein.“

Friedmann nickte bedächtig. „Es ist, es ist alles irgendwie neu für mich. Doch ich schätze, Ihr Angebot, ist das Beste, was mir hier wiederfahren könnte.“

„So ist es. Denken Sie noch einen Tag darüber nach. Aber ich befürchte, allein und auf sich gestellt, kommen Sie hier nicht zurecht. Gemeinsam können wir jedoch Großes vollbringen.“

Von Erlenbach stand auf, ergriff Ralf Friedmanns Hand und drückte sie kräftig. „Wir sprechen uns Morgen wieder. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.“

Am nächsten Morgen fuhr der Fürst von Erlenbach wieder vor. Ralf Friedmann hatte fast die halbe Nacht über sein Schicksal gegrübelt und war zu dem Schluss gekommen, das Angebot des Fürsten anzunehmen. Er war nun einmal hier.

Im Laufe der nächsten Zeit entstand ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden. Der Fürst zeigte ihm sogar die in einem Abstellraum der Reichsfestung „Sedan“ in Windhuk – oder wie die Leute hier sagten, in Kaiser-Wilhelm-Stadt – versteckte und getarnte Maschine, die die Reise zwischen den einzelnen Parallelwelten ermöglichte. Allerdings vermied von Erlenbach sorgsam, Einzelheiten ihrer Bedienung preiszugeben. Friedmann musste auch seine Suite im Hotel aufgeben. Er bekam aber einen fast ebenso großzügigen Wohnraum mit Arbeitszimmer in der Festung zu gewiesen. Die Verpflegung war allerdings nicht ganz so gut. Friedmann aß im Offizierskasino, dessen Koch noch viel vom Fachmann im Hotel hätte lernen können. Vor dem Umzug in die Reichsveste musste Friedmann noch einen Eid auf die Verfassung des Deutschen Reiches und auf das Reichsoberhaupt – derzeit Kaiser Wilhelm Franz von Habsburg-Hohenzollern – ablegen. Das kam Ralf Friedmann etwas seltsam vor, er schluckte und sprach dann doch die Sätze tapfer nach. Pro forma bekam er den Rang eines Oberstleutnants zugesprochen. Jedenfalls teilte man ihm eine Uniform mit entsprechenden Rangabzeichen zu. Sein Aufgabengebiet blieb allerdings begrenzt. Er solle sich erst einmal mit dieser Welt vertraut machen, hatte der Fürst von Erlenbach empfohlen und ihm reihenweise Bücher sowie aktuelle Zeit-schriften und Zeitungen in das Arbeitszimmer bringen lassen. „Lesen Sie sich erst einmal ein“, sagte der Fürst, bevor er sich für einige Tage verabschiedete. Friedmann wusste nicht, ob von Erlebach nach Berlin, wo der Reichskanzler residierte oder an den kaiserlichen Hof in Wien oder in ein ganz anderes Universum reisen wollte. Aber das, so sagte sich Friedmann, ging ihn wohl auch nichts an.

Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Welt und besonders in Deutschland waren völlig anders als ihm bekannt. Es gab zwar noch Parteien, die ihm bekannt vorkamen – etwa die Sozialdemokraten oder das Zentrum. Die Konservative Volkspartei schien aus einem Zusammenschluss von Deutschnationalen und Nationalliberalen entstanden zu sein, die SPD hatte bereits mehrmals den Kanzler einer – seit 1916 parlamentarischen – Regierung gestellt. Offenbar hatten hier die Sozialdemokraten die gleiche Wandlung zu einer reformatorischen Partei durchgemacht wie in Friedmanns Welt. Der Marxismus war längst abgehakt, eine Abspaltung zur KPD hatte es aber nie gegeben und selbst Rosa Luxemburg war erst im Alter von 69 Jahren an Krebs gestorben, als hochgeachtete Reichstagsabgeordnete. Aktuell gab es in Deutschland offenbar Streit zwischen zwei parteiübergreifenden Lagern. Die „Allgermanen“, die nicht nur für einen Zusammenschluss aller germanischen Völker eintraten (und deshalb misstrauisch von Isländern und Skandinaviern beäugt wurden), sondern die auch den strittigen Ausgleich mit den „angelsächsischen Brüdern“ suchten (und deshalb von den England-Feinden in Deutschland mindestens genauso misstrauisch beäugt wurden) und die sogenannten „Karolinger“, die für eine enge Anbindung und Freundschaft mit den „Vettern in Frankreich“ eintraten, die ja ebenfalls Nachfolger des großen Karl seien. Das Lesen strengte Ralf Friedmann an, aber niemand schrieb ihm ja sein Lesetempo vor. Er beschloss, reichlich Pausen einzulegen und versuchte, telefonischen Kontakt mit Schwester Marie zu bekommen. Er glaubte es kaum, als er sie über ihr Mobiltelefon erreichte und sie einwilligte, sich mit ihm zu treffen.

Marie Mondjäger schien gefallen an seiner Gesellschaft zu finden. Immer, wenn sie dienstfrei hatte, verabredete sie sich mit ihm zu Spaziergängen durch die Stadt oder zu Treffen in kleinen Kaffeehäusern. Ralf Friedmann gelang es jedoch nicht herauszufinden, ob es da einen anderen Mann in Maries Leben gab. Sie lud ihn nie zu sich ein und lehnte auch jede Aufforderung ab, ihn in seinen Räumen in der Reichsveste zu besuchen. Anderseits ergriff sie die Initiative, gab ihn mehr als freundschaftliche Abschiedsküsse und hatte keine Einwendungen, wenn er bei ihren Spaziergängen den Arm um sie legte oder ihre Hand ergriff. Weiter schien sie aber nicht gehen zu wollen.

Zwei Wochen später saß Ralf Friedmann an einem Abend zusammen mit ihr an der „Friedrich der Große-Promenade“ und zeigte ein Telegramm. „Das ist aus Wien gekommen“, sagte er. „In zehn Tagen soll ich mich dort zum Dienst am Hof melden.“

Marie schaute traurig. „Dann wünsche ich Dir eine gute Reise und viel Glück. Die Tage mit Dir waren schön.“

Ralf Friedmann ergriff die Hand seiner Gesprächspartnerin. „Marie, willst Du nicht mit mir kommen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Zum einen habe ich hier meine Arbeit, meine Familie – ich muss mich um meine alte Mutter kümmern und -, weist Du es immer noch nicht? Ich bin keine deutsche Staatsbürgerin, sondern nur deutsche Schutzbürgerin. Das ist immer noch ein Unterschied.“

Friedmann schaute etwas verwirrt. „Wie, ich dachte, es wäre, nun, das wäre dasselbe.“

Marie schaute ihn an. „Ja, fast. Sicher. Wir können uns nicht beklagen. Es geht uns viel besser als den Menschen mit schwarzer Hautfarbe in den Kolonien der anderen Mächte. Und die Beispiele derjenigen Länder, die – wie vor 15 Jahren etwa Angola - unabhängig geworden sind, zeigen, dass es auch besser wird, wenn irgendwelche schwarze Herren regieren. Die deutsche Kolonialgeschichte bis etwa 1911 soll nicht sehr schön gewesen sein, aber Dein Freund – weiß Gott, wie lange er eigentlich schon lebt – er hat kontinuierlich Verbesserungen für uns durchgesetzt. Weißt Du, dass man ihn eine lange Zeit deshalb auch den „sozialdemokratischen Bismarck“ nannte? Die deutsche Herrschaft ist hier unangefochten, seinetwegen unangefochten. Die wenigen Rebellen sind Importe von jenseits der Grenzen. Vor allem Engländer und Franzosen finanzieren und rüsten sie aus. Sonst wären sie schon längst verschwunden. Im Volk haben diese Verbrecher keinen Rückhalt. Wir haben hier mehr Rechte als die Menschen in den Kolonien der anderen Mächte. Nun ja, ich glaube Deinem Freund auch, was er vor einigen Jahren in einer Ansprache versichert hat. Langfristig sollen wir alle das Staatsbürgerschaftsrecht bekom-men. Aber die Deutschen in Europa seien noch nicht so weit, es müsse ein langsamer Annäherungsprozess sein, hat er gesagt. Und deshalb, lieber Ralf, kann ich nicht so einfach mitkommen. Staatsbürger können überall hinreisen. Ich brauche ein Visum und einen besonderen Grund, wenn ich Deutsch-Südwest verlassen will.“

„Marie, ich habe Verbindungen. Über ihn, Du weist schon, könntest Du bestimmt ein Visum bekommen.“

„Mein Platz ist hier, so gerne ich auch mitkommen würde. Bitte versteh das.“ Sie stand abrupt auf. „Lebewohl, Ralf!“ Rasch drehte sie sich um, damit er keine Tränen sehen konnte, Friedmann bemerkte sie aber doch.

Marie lief unvermittelt die Straße hinunter. Friedmann rief ihr hinterher, fummelte in seiner Hosentasche nach einen Geldschein, drückte ihn einer vorbeikommenden Kellnerin in die Hand und sprang ihr nach. „Marie, bitte warte“, rief er.

Die Krankenschwester verschwand in einer Seitenstraße. Ralf Friedmann hatte sich schon lange nicht mehr sportlich betätigt und kam rasch außer Atem. Endlich erreichte er die Abzweigung. Die Straße war unbelebt, doch Marie war nirgends zu sehen. Ob sie in einem Hauseingang verschwunden war? In schnellen Schritten ging er weiter, ohne etwas Auffälliges zu bemerken.

Irgendwo da vorne in einer dunklen schattigen Ecke war eine Bewegung. Dann hörte er Marie. „Lauf weg, Ralf, lauf!“ und dann einen kurzen Schrei.

Ralf Friedmann blieb wie angewurzelt stehen. Aus den Schatten schob sich die Krankenschwester mit angsterfülltem Blick. Sie war nicht allein. Zwei ebenfalls farbige Männer standen hinter ihr. Die beiden waren gut gebaut und noch feiner gekleidet und wirkten eher wie gut situierte Geschäftsleute als wie Straßenräuber. Dennoch hielt einer von ihnen Marie Arme auf den Rücken verdreht, der andere spielte mit dem Lauf einer Pistole an ihrem Ohr herum.

„Keine Bewegung, Friedmann“, zischte er auf Deutsch. „Sonst hast Du nichts mehr von Deiner Freundin hier.“

Friedmann verharrte. „Lass‘ sie los“, sagte er. „Ihr bekommt alles Geld, was Ihr wollt.“

„Wir wollen Dich!“, entgegnete der Pistolenmann. „Tritt da rüber, dreh Dich um und halte Deine Hände auf den Rücken. Und ja keine falsche Bewegung, sonst geht es erst ihr und dann Dir schlecht.“

Ralf Friedmann tat, was der Mann wollte. Er drehte sich weg und hielt die Hände nach Hinten. Dann merkte er, wie sich jemand an ihn zu schaffen machte und Handschellen klickte. Er war gefesselt. „Und nun zum Wagen“, kommandierte der Pistolenmann und schob ihn vorwärts.

„Komm, wir nehmen die Hure hier auch mit. Dann können wir noch etwas Spaß mit ihr haben“, hörte Friedmann den anderen Mann sagen.

„Nein.“ Das war wieder der Pistolenmann. „Wir haben Order, den hier mitzubringen. Es kann Ärger geben, wenn wir die da auch mit anschleppen.“

Der andere Mann wollte sich damit anscheinend nicht abgeben und argumentierte nun in einer Sprache, die Friedmann nicht verstand. Der Pistolenmann, der ihn an der Schulter fasste, antwortete kurz offenbar ebenfalls in dieser Sprache. Seine Antwort klang scharf. Nun sprach er wieder deutsch mit seinem Partner und es schien Friedman so, als wähle er absichtlich  Deutsch, damit auch Friedmann ihn verstehen konnte. Der Mann sagte: „Es soll aussehen, wie ein normaler Überfall. Sie sollte vergewaltigt werden, hat sich gewehrt und wurde dann abgestochen.“

Der zweite Mann grinste, drehte Marie herum, hielt sie nur mit einer Hand fest und zerriss mit der anderen ihre Bluse und dann den Büstenhalter. Mit großen Augen verfolgte Marie, wie seine Hand nun über ihre bloßen Brüste fuhr und sie fest drückte, brachte aber keinen Ton heraus.

„Lass den Quatsch. Wir müssen weg! Mach sie fertig.“ sagte der Pistolenmann bestimmend.

Der Mann, der Marie hielt, hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Doch ehe er zustoßen konnte, hallte ein Schuss durch die Häuserschlucht. Auf seiner Stirn erschien Blut, seine Augen wirkten erstaunt. Er ließ das Mädchen los und brach lautlos zusammen.

„Der Pistolenmann brachte nur ein „He, was soll das?“ hervor, als ein zweiter Schuss zu hören war. Seine Hand verschwand von Ralfs Schulter. Der Mann schaute auf seinen Bauch, wo  Blut herausspritzte. Er ließ seine Pistole fallen und presste beide Hände auf die Wunde. Gleichzeitig begann er schmerzerfüllt zu schreien. Doch nur einen sehr kurzen Moment lang. Ein dritter Schuss erklang und dann lag der Mann vor Friedmann im schmutzigen Straßenstaub und rührte sich nicht mehr.

Zwei Männer, einer weiß, sein Partner farbig, in lockerer Sportbekleidung kamen heran und steckten ihre Waffen im Laufen wieder in ihrer Hosen. „Mann, wenn Sie so schnell verschwinden, können wir doch gar nicht auf sie aufpassen. Plötzlich waren Sie aus dem Café weg. Ich bin froh, dass wir Sie noch rechtzeitig entdeckt haben. Dass hätte mächtigen Ärger gegeben, wenn wir Sie verloren hätten“, sagte der eine.

Friedmann stotterte ein Danke und setzte hinzu: „Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Wer sind Sie?“

Obergefreiter Schmidt und – der Sprecher deutete auf seinen Kollegen – Obergefreiter Goldfinder. „Wir sind von der militärischen Abwehr“, sagte er und seufzte dann, „man bin ich froh, dass wir noch rechtzeitig dazu gekommen sind. Nicht auszudenken, was der Hauptmann mit uns gemacht hätte, wenn die Kerle Sie mitgenommen oder erledigt hätten. Wir hatten ein paar Tische weiter von Ihnen und Ihrer Freundin gerade eine Tasse Espresso in Ruhe geschlürft, ein Blick zur Seite und Sie waren weg. Mann, oh, Mann. In Zukunft lassen Sie sich bitte nicht wieder so überraschend überfallen. Sie können sich doch denken, dass die von den Engländern und Franzosen bezahlten Rebellen an Leuten interessiert sind, die gute Kontakte nach oben haben. Ihre Anwesenheit hier lässt sich doch nicht geheim halten. Also, lassen Sie sich zukünftig nicht mehr überfallen und schon gar nicht von solchen wie diesen da.“

Ralf Friedmann nahm Marie in die Arme und antwortete: „Nun, ich werde mich bemühen. Aber wieso sollten Sie mich bewachen?“

Obergefreiter Schmidt zuckte die Achseln. „Befehl von ganz oben. Sie gelten als gefährdete Persönlichkeit und irgendjemand an höchster Stelle ist halt um Ihr Wohlergehen besorgt.“ Er fingerte an einem Mobiltelefon herum und sprach leise etwas hinein. „So, um die beiden Verbrecher hier...“- er deutete knapp auf die auf der Straße liegenden Leichen – „werden sich gleich meine Kameraden kümmern. Ich habe jetzt den Befehl erhalten, sie zurück in die Festung zu bringen.“

Die beiden Sicherheitsbeamten brachten ihren Schützlinge zu einer großen weißen Limousine mit verspiegelten Scheiben und dann brausten sie mit schnellten Tempo durch die Straßen. Schon nach kurzer Zeit erreichte der Wagen die Mauern der Reichsveste.

Als sie ausstiegen, klingelte das Mobiltelefon eines der Sicherheitsbeamten. Er nahm das Gespräch an, antwortete nur ein zackiges „Jawoll“ und wandte sich dann an Friedmann. „Der Fürst von Erlenbach erwartet Sie im Hof 4. Wir bringen Sie hin.“ Hof 4 war ein abgelegener Bezirk im Rückteil der Festung, der für den normalen Betrieb gesperrt blieb. Friedmann wusste, dass der Fürst, wenn er mit seiner Parallelwelt-Maschine direkt nach Deutsch-Südwest kam, immer hier erschien.

Am Eingang zu Hof 4 wurden Ralf und Marie von drei anderen Sicherheitsbeamten „übernommen“ und die beiden Obergefreiten entlassen. Einer der Geheimdienstleute verschloss das Tor hinter ihnen wieder sorgfältig.

Der Fürst erwartete sie bereits, noch an seine seltsame Maschine gestützt. Sie sah aus wie ein Motorroller auf viereckigen Rädern, dessen Design von einem zur Hälfte verrückten und zur anderen Hälfte wahnsinnigen Konstrukteur entworfen worden war. Der silberfarbige Metallrahmen spiegelte den blauen Himmel. Der Fürst kam auf sie zu.

„Guten Tag, Friedmann. Ich sehe, Sie haben sich schon mit der hiesigen Schutzbevölkerung angefreundet. Ich komme übrigens gerade aus einer der unserer sehr ähnlichen Welt. Auch dort sind Sie, lieber Friedmann, in das schöne Afrika verschlagen worden. Aber ich musste leider feststellen, dass Sie das Vertrauen meines dortigen Pendants erschlichen und meine, ich meine natürlich seine, Maschine hier stahlen, nur um in die alte grässliche Welt der Bundesrepublik zurückzukehren. Nicht sehr schön, dass muss ich schon sagen.“

Ein Kloß saß Friedmann im Hals. Er versuchte zu antworten, entlockte seiner Kehle aber anfangs nur ein Krächzen. Irgendwann formten sich aus dem Gekrächzte dann doch die Worte: „Nein, um Himmelswillen nein. Noch nicht einmal gedacht habe ich daran.“

Der Fürst lächelte immer noch und besonders charmant zu Marie, die noch weniger als Ralf Friedmann verstand, was hier gerade ablief. „Wissen Sie was? Dass glaube ich Ihnen sogar. Aber leider, sie werden noch daran denken, jedenfalls zeigt die andere Welt, dass dies innerhalb eines Wahrscheinlichkeitsrahmens liegt, der mich beunruhigt. Und so einen Diebstahl kann ich nicht zulassen.“

„Die Welten...“, Ralf Friedmann rang nach Worten, „sie sind doch alle irgendwie etwas unter-schiedlich. Nichts muss hier geschehen, was dort passierte.“

„Diese besagte Welt war der unseren hier sehr ähnlich. Das Risiko ist zu groß für mich. Sie – und nun leider auch noch ihre kleine hübsche Freundin hier, was ich von ganzem Herzen besonders aufrichtig bedauere – sind daher nun doch englische Spione, die – um die Sicherheit des Vaterlandes wegen, leider sofort auf frischer Tat erschossen werden.“ Der Fürst gab den drei Ge-heimdienstleuten einen Wink.

In Friedmanns Kopf kreiste die Welt. Aufgrund einer Eingebung (woher und von wem auch immer, Gott …, sein Unterbewusstsein?) riss er Marie mit sich, stieß den Fürsten unsanft in den Raum zwischen ihnen und den drei Geheimpolizisten, zerrte Marie zu dem geheimnosvollen Gerät und drückte blindlings eine ihm besonders groß erscheinende und zudem rot markierte Taste.

„Halt! Um Deutschland Willen! Dass dürfen Sie nicht!“ rief der Fürst in das nun entstandene sehr kurzfristige Vakuum, das sich mit einem „Plopp“ wieder mit Luft füllte. Friedmann, Marie und vor allem das seltsame Gefährt waren verschwunden.

Von Erlenbach musste von den drei Beamten gestützt werden und weigerte sich zwei Stunden lang, den Hof 4 zu verlassen. In dieser Zeit schien er um Jahre zu altern. „Es geht doch um mehr. Es geht doch um das Wohl des Reiches, es geht um Deutschland. Das müsst Ihr doch verstehen!“, murmelte er immer wieder vor sich hin. Doch weder die beiden Menschen noch die Maschine tauchten wieder auf.

Düster starrte der Fürst auf die leere staubige Hoffläche. „Was wird jetzt aus Deutschland?“ fragte er dann leise die leere Hoffläche. Er bekam keine Antwort und erwartete wohl auch keine.

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Die Beschäftigung mit der deutsche Geschichte bringt immer wieder Fallstricke und Fettnäpchen mit sich. Und vielleicht wird auch der eine oder andere Leser sie für politisch nicht ganz korrekt halten. Ich hoffe nur, es geht mir nicht wie dem amerikanischen Schriftsteller Norman Spinrad, desses Alternativwelt-Roman "The Iron Dream" erst einmal in Deutschland auf dem Index landete und ein Rechtststreit bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht geführt werden musste, bevor auch die deutschen Leser den "stählernen Traum" im Buchhandel erwerben konnten.

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Bürgerreporter:in:

Jens Schade aus Hannover-Döhren-Wülfel-Mittelfeld

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