Soldatengräber
Die großen Prediger des Friedens

Gemälde des Monte Chaberton hängt im Eingangsbereich des Hotels. Mit bloßem Augen sind vom Tal aus die auf dem Berg stehenden geometrischen Körper zu erkennen.
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  • Gemälde des Monte Chaberton hängt im Eingangsbereich des Hotels. Mit bloßem Augen sind vom Tal aus die auf dem Berg stehenden geometrischen Körper zu erkennen.
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Skifahrt des Alpenvereins Friedberg ins Skigebiet nach Cesana - Piemont

Rund 700 km, also etwa 10 Busstunden von Friedberg entfernt, liegt der kleine Ort Cesena im Piemont, nahe der Grenze zu Frankreich. Trotz der Entfernung entschieden sich Franz Reif und seine Frau Ursula als Leiter der Skifahrertruppe des Alpenvereins Friedberg ausgerechnet für dieses ferne Cesana als Ausgangspunkt für unseren fünftägigen Skiaufenthalt. Im Hotel Chaberton waren wir untergebracht. Schon bei der Anreise betrachtete man mit Sorge die braunen, schneelosen Hänge, die weit hinauf zu reichen schienen, auch entlang des mächtigen Berges Chaberton. Gab es oben in der nahen Skiwelt überhaupt ausreichend Schnee zum Skifahren? Bedenklich stimmte auch, dass ein Skibus nur am Wochenende verkehrte. Das bedeutete konkret, sich rechtzeitig für den Rückreisetag ausreichend Taxis zu bestellen, damit der Busfahrer die vorgeschriebenen Ruhezeiten einhalten konnte. Aber bereits nach dem ersten Skitag zeigten sich die Friedberger Skihaserl begeistert von den phantastischen Schneeverhältnissen mit ihrer Infrastruktur dort oben, die es gestattete, mühelos und ohne Hindernisse auf zwei Brettern zwischen Italien und Frankreich hin und her zu wechseln.


Wo sich Füchse und Hase Gute Nacht sagen....

Man möchte meinen, Cesana, einst Mit-Austragungsort der Olympischen Spiele 2006, müsste wegen des nahen attraktiven Skigebietes überlaufen sein von Skitouristen. Aber jetzt, im März 2022, waren bei den meisten Hotelanlagen die Fensterläden geschlossen. Die Auslagen der Geschäfte für Gaumenfreuden wie „Macelleria“, „Vinotheka“ und anderer Feinkostläden erfreuten das Auge, aber flotte Mode schien weniger gefragt zu sein. Manche Schaufenster waren von der Innenseite her mit Weiß abgedeckt. Diese Läden standen leer. Wegen der Trockenheit, die in diesem Winter herrschte, wirbelten durchfahrende Autos den trockenen Staub auf, der das Atmen erschwerte. Wenn man einen Tag mit dem Skifahren aussetzte und sich den Ort besah, stellte man fest, viele Menschen waren tagsüber nicht gerade unterwegs. Der anfängliche Eindruck verfestigte sich also: Füchse und Hasen sagen sich hier Gute Nacht. So jedenfalls im März 2022.

Eine schlimme Geschichte....

Auch einen Buchladen, um sich entsprechende Literatur über die Geschichte des Ortes zu besorgen, gab es nicht. Aber der Hotelbesitzer mit seinen vorzüglichen Deutschkenntnissen half hierbei bereitwillig und lieh sogar sein bebildertes ortsgeschichtliches Buch „Il mito dello Chaberton“ (Der Mythos Chaberton) aus. Viele Bilder davon hingen als Großaufnahmen im Eingangsbereich unseres Hotels Chaberton. Ins Auge stach ein großes Gemälde, das den nahen Monte Chaberton im tiefen Winter zeigt. Die Landschaft ist in Weiß gehüllt. Dem Betrachter fallen unwillkürlich die oben auf dem Berg befindlichen geometrischen Körper auf. Ein jeder von diesen weist die Form eines Zylinders auf. Sie sind so mächtig, dass man diese vom Ort aus mit bloßem Auge erkennen kann. Es handelt sich um einst acht gewaltige Türme. Ihre Geschichte ist eine schlimme Geschichte und sie hängt auch mit dem Ort Cesana zusammen.

Festungsanlage auf dem Monte Chaberton

Im Jahr 1898 begann die königliche italienische Armee mit der Trassierung einer Straße zum Gipfel des Monte Chaberton, um dort eine Festungsanlage zu bauen, die die höchste Festungsanlage Europas seiner Zeit werden sollte. Selbst der italienische König Umberto war im Sommer 1902 bei seiner Besichtigungstour auch nach Cesana gekommen. Der Gipfel des Monte Chaberton wurde vollständig abgeflacht. Es entstand eine Gipfelplattform, etwa 100 m lang und 40 m breit. Nun begannen die Ausgrabungen für die Fundamente zunächst der ersten Türme: kreisförmige Schächte mit einer Tiefe von zwei Metern und einen Durchmesser von etwa zehn Metern. Zeitgleich entstand auch die Anlage einer Seilbahn, die für den Transport der notwendigen Materialien zum Gipfel unerlässlich war. Bis zu 500 Männer waren auf dem Gipfel mit dem Bau des neuen italienischen Forts beschäftigt. So jedenfalls beobachteten dies die argwöhnischen Franzosen. Aufgrund der Höhenlage beschränkten sich die Arbeiten auf die Sommersaison: Die Arbeiter stiegen Ende Mai oder Anfang Juni auf den Gipfel und machten sich nach der Beseitigung der beträchtlichen Schneeansammlungen an die Arbeit. Man legte Kasematten an. Lange Gänge ermöglichten den Zugang zu Schlafräumen, Krankenlager, Kommandantur und Küchen. Auf jeden der acht Türme wurde eine drehbare sieben Meter hohe Kanone montiert, die über eine Wendeltreppe aus Metall erreicht werden konnte. Fertiggestellt wurde das Fort Chaberton im Jahr 1913, von dem man glaubte, es sei so gut wie unangreifbar. Denn es gab bis dahin keine Waffe, die in der Lage war, Geschosse auf über 3000 Meter Höhe abzufeuern. Das aber sollte sich bei den zukünftigen von Raketen dominierten Zeiten ändern.
Während des Ersten Weltkrieges kam das Fort nicht zum Einsatz. Als Italien nämlich 1915 den Dreibund, dieses Defensivbündnis zwischen dem Deutschen Kaiserreich, Österreich-Ungarn und Italien aufkündigte, waren Italien und Frankreich auf einmal Verbündete, und die Geschütze wurden nach Westen an die italienisch-österreichische Front transportiert. Nachdem im Zweiten Weltkrieg aber Italien Frankreich am 10. Juni 1940 den Krieg erklärt hatte, wurden vom Berg Chaberton aus am 20. Juni 1940 und damit 42 Jahre nach Baubeginn die ersten Salven auf französische Ziele abgefeuert.

Der verhängnisvolle 21. Juni 1940

Am 21. Juni 1940 gelang den Franzosen das tödliche Vernichtungsfeuer. Eine Granate traf zunächst den ersten Turm und schleuderte die Splitter in die Kasematte. Dann schlug ein weiteres Projektil in den fünften Turm ein und riss ihn vom Sockel. Das Munitionslager fing Feuer. Trotz der schwierigen Bedingungen feuerte man weiter. Nach dem Einsturz des dritten Turmes aber hörten die Geschütztürme auf zu feuern. Jetzt herrschte hier das totale Chaos: In den Gängen und Tunneln, inmitten der Flammen der Brände und der schrecklichen Explosionen der feindlichen Granaten, gingen die Schreie der Verwundeten und die Notrufe derer, die unter den Trümmern geblieben waren, in der totalen Verwirrung unter. Verzweifelt versuchte man die Brandbomben zu löschen, die den Sockel der Türme verwüsteten.

Heute herausragender Aussichtsgipfel

Am Gipfel sind noch die Ruinen eines ehemaligen italienischen Forts erhalten. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte der Berggipfel mit dem Fort zu Italien, wurde aber im Friedensvertrag von Paris 1947 an Frankreich abgetreten. Heute ist von dem Konflikt zwischen den beiden Ländern nichts mehr zu merken. Es heißt, sowohl von Frankreich als auch Italien pilgern bei schönem Wetter zahlreiche Wanderer zu diesem hervorragendem Aussichtsgipfel hinauf.
Auf dem kleineren militärischen Bereich des Friedhofs von Cesana bei der Pfarrkirche, die das Dorf überragt, zeugen viele weiße Kreuze von den Gefallenen der Alpenschlacht und auch von denen des Chaberton, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben. Ihre Leichen waren Ende des Sommers 1941 aus den provisorischen Gräbern, die auf den Wällen oben errichtet worden waren, exhumiert, um flussabwärts zur Beisetzung nach Cesana transportiert zu werden. Über solche Gräber hat der Arzt und große Menschenfreund Albert Schweitzer einmal gesagt: „Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens“.

Bürgerreporter:in:

Regine Nägele

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