Nagelprobe in Jerusalem

7. November 2009
16:30 Uhr
Grabeskirche, Jerusalem
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An der Mauer kauert ein kleines Geschöpf, vielleicht ein halbes Jahr alt. Nicht unbedingt unterernährt aber auch nicht in gutem Zustand – ein Anblick, der eigentlich Mitgefühl und Hilfsbereitschaft in uns auslösen sollte. Es wartet augenscheinlich auf eine Hand die sich seiner erbarmt, das kleine Wesen berührt, streichelt und wenigstens einige wenige Augenblicke bei ihm verweilt, ihm etwas Aufmerksamkeit schenkt – Dinge die nichts kosten außer ein wenig Zeit – Zeit die wir oft im Alltag so reichlich verschwenden. Lange Zeit wartet das Wesen vergebens, die Menschen eilen vorbei oder stehen in Gruppen herum, beachten es nicht, es gilt ihnen anscheinend nichts. Sie haben Wichtigeres zu tun, sie sind hier für ihr Seelenheil oder nur aus Neugier wie ich auch. Sie strömen in die Jerusalemer Grabeskirche, stehen lange an um sich in die Nische zu knien unter der der Felsen liegt auf dem das Kreuz Jesu gestanden haben soll; die Nische wurde wohl notwendig um eben diesen Felsen vor der Gier derer zu schützen denen Anschauen und Anfassen nicht genug war.
Ich bin schließlich froh aus der Kirche, dem Trubel, dem Geschubse wieder herauszusein und setze mich auf die Stufen rechts vom Eingangsportal um das Ganze erstmal wirken zu lassen – und dabei entdecke ich es.
Nur gut einen halben Meter neben dem Bein eines israelischen Polizisten kauert es, schaut die Menschen an – einige schauen zurück und gehen ohne sichtbare Rührung weiter - und wartet. Aus einer kleinen Gruppe, die wenige Meter neben der Mauer steht wird ein junges Mädchen aufmerksam, schließlich löst es sich aus der Gruppe und nähert sich dem Wesen, unschlüssig was es nun tun sollte – aber das Wesen fühlt sich zumindest beachtet und blickt das Mädchen auffordernd an, richtet sich etwas auf und hebt dem Kopf.
Ich stehe auf und gehe langsam dorthin, es drängt mich geradezu etwas zu tun – nicht nur weil ich Katzen nun einmal sehr mag. das Mädchen scheint immer noch unschlüssig – ich gehe in die Hocke, strecke dem Kätzchen meine Hand hin, es steht auf, wendet den Kopf und schnuppert – und sofort reibt sich ihr Kopf an meiner Hand, anders als die meisten Katzen hier die immer Fluchtdistanz wahren, ihre Erfahrungen mit Menschen werden nicht die besten sein.
Das Mädchen schaut zu wie sich dies kleine, schnurrende Knäuel in immer neue Posen wirft, sich ihr antrazitfarbenes Fell und den Bauch kraulen läßt, ihr Schnäuzchen reibt. Schließlich hat sich das Mädchen auch überwunden, streckt ihrerseits die Hand aus, wir lächeln uns an, ich ziehe mich zurück und setze mich an meinen alten Platz. Die kleine Gruppe geht schließlich, das Mädchen schließt sich an. Augenblicke später hat einer der Polizisten das Kätzchen im Nacken gepackt und trägt es weg....
Warum rührt mich, den Ungläubigen, dieses Wesen so viel mehr an als diejenigen die doch die Geschöpfe ihres Gottes so lieben sollen, die, die nach Meinung ihrer Anführer doch die „besseren Menschen“ sind – und denen ihr persönliches Seelenheil, das sie beim Eintritt in ein Gebäude und dem Berühren eines Steins zu erlangen und sich damit einen besseren Platz im Paradies zu verschaffen hoffen wichtiger ist als sich auch nur für Sekunden um ein Lebewesen zu sorgen das ihrer Zuneigung bedarf? Vielleicht war das Mädchen ja eine Gläubige und hat dabei mehr Mitgefühl aufgebracht als die vielen „Religionsprofis“ die in ihren Gewändern in dieser Zeit dort vorbeigelaufen waren.
Als unsere Gruppe aufbricht schaue ich nochmal hin – die Polizisten sind fort, das kleine Kätzchen ist wieder da – und wartet auf den nächsten Menschen der sich ihrer erbarmt.

Bürgerreporter:in:

Edgard Fuß aus Tessin

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