HARTZ-4-LAND

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Bei den meisten unerträglich traurigen Sachen ist die Ursache komplex und schwer zu fassen, obwohl die Wirkung unmittelbar und sofort zu spüren ist. Dieses Gefühl überkommt mich immer wieder, wenn ich, wie meistens am Freitag oder Samstag, in Ritas Pommesbude sitze. Im Dauerflohmarkt in München, Freimann.

Am Eingang, genau gegenüber der Zenithhalle, wo sich jede Woche mindestens einmal eine Schlange von Hunderten von 12- bis 25-jährigen bis hin zur U-Bahnstation bildet, um der Aufführung der jeweiligen Popstars beizuwohnen. Wie gesagt, 12- bis 25-jährige, je nachdem ob Avril Lavigne, die Killers oder Silbermond gastieren. Manchmal kommen auch ältere, dann ist Fetisch-, Lust-, Sex- oder Vibratorenmesse. Oder, wie aktuell: ZZ-Top ist angekündigt. Oft gehen sie aber einfach durch, bis zur Ingolstädter Straße. Aber dazu später. Die Schlangen sind eher unauffälliger dann, also, im Prinzip gibt es keine.

Ansonsten ist dort wenig los. Nur mittags strömen Hunderte von beflissenen Schlipsträgern aus der Forschungs- und Entwicklungszentrale von BMW, der heimlichen Hauptquartier des Konzerns, in die nahegelegen 18 Kantinen. 18, wegen 18 verschiedenen internationalen Ausrichtungen.

„Das ist ja wohl unser gutes Recht“, meinte Gerit auf meine Frage hin, wie man auf die Idee kommt, 18 Kochmannschaften samt individueller Küchenausstattung für die Belegschaft zu „Wie soll man denn sonst optimale Leistung bringen, wenn man sich nicht wohlfühlt? Ich meine: haben die meinen Arsch oder meinen Kopf gemietet?“

Erstaunlicherweise München voll ist mit Gerit, Heiko, Jens und Carsten als typische Namensvertreter und beweist: der wahre Pott liegt in Bayern. Alle sind zugereist und untergekommen im sattsam beliebten Bayern, mit 4 Stunden Anfahrt nach Italien, 2 in die Berge und 2 zu den Puffs an die tschechische Grenze.

Die Ursache meiner Traurigkeit liegt im absoluten Wahrnehmungsverlust dieser selbsternannten Elite. Wenn sie einmal nur über die Straße gingen, einmal an der Zenithhalle vorbei auf den Flohmarkt, dann wüssten sie um ihre Zukunft Bescheid: es ist Hartz-4-Land. Unser aller Zukunft.

Dort gibt es kein Recht auf irgendwas. Jeder Schritt ist überlegt, jede Beziehung wird in Frage gestellt und alles nur geliehen: jede Zuneigung, jede Aufmerksamkeit und alle uns vertrauten Selbstverständlichkeiten existieren dort nur unter den Vorzeichen der Ironie.

Bei Rita selbst gibt täglich Schnitzel paniert mit Kartoffelsalat für 3,80 und Gulaschsuppe. Letzteres ist das Einzige, das ich mir zumute, nicht nur, weil ersteres grundsätzlich um 5 nach 12 schon ausverkauft ist. Aufgebessert mit frischer Peperoni, Rucola, Radicchio und manchmal auch Catalonia ist es genießbar. Vom italienischen Markt nebenan. Zurzeit wird dort aber nur mit Zitronen gehandelt.

Und es ist absolut narrensicher: ein mehrfach durchgegartes, vorgefertigtes Industrieprodukt, absolut keim- und nährstoffrei. Nicht so jedoch die Pommes: in zwei Schalen von dunkelbraunem Frittierfett werden dort von den drei Kindern (einer spricht italienisch, ein andere türkisch und die Schwester hochdeutsch: Patchwork-Family-Land), die allesamt nur der Mutter und nicht dem Vater gleichen, regelmäßig die zweitgrößte Herausforderung an einen Vertretermagen gebrutzelt, die ich kenne. Ich war früher viel unterwegs in Dtld. und meinen High Noon hatte ich in der Pommesbude am alten Hafen in Würzburg: die trieften dort sosehr vor Fett, das man mindestens 4 Doornkaat vorher und 10 nachher gebraucht, um das wegzustecken.

Bei Rita ist es ähnlich, aber nicht ganz so schlimm. Die Bude in Würzburg wurde vom Gesundheitsamt geschlossen, weil sie 20 Jahre das Fett nicht gewechselt hatten. Seitdem hat sie ne Art Underground-Kultstatus in Dtld. Unter den Überlebenden. Wenn Rita das Fett in den nächsten 2 Jahren auch nicht wechselt, wird sie wohl auch dahin kommen. Hier, auf einem der Bilder, hinter der Staffelei sitzt übrigens Wesna...

Sie wollte nicht fotografiert werden, sie ist so schüchtern. Kennengelernt habe ich sie über ihren Hund. Da ist der hier, der die Tische nach Essbarem absucht. Mir hat er irgendwann mal das Würstchen vom Teller geklaut. Einmal nur habe ich dort versucht, was anderes zu essen. So schnell konnte ich gar nicht hinsehen, wie das Teil weg war. Wesna, sie ist übrigens 22 und bildhübsch, hat gemeint, ich dürfe sie dafür als Entschädigung zum Kaffee einladen. Hab’s dann auch einmal versucht, aber sie war an diesem Tag nicht für Kaffee zu haben. Später dann habe ich bemerkt, wieso: ihr Vater hat den Stand neben ihr. Sein wachsames Auge hat ihr wohl ein „Nein“ befohlen. Vielleicht hatte ich mich im Vorfeld für das falsche interessiert. Deren Stände nämlich hatten das gesamte letzte Jahr dieselbe Ware ausliegen. Alle bewunderten jeweils die Einzelteile, vor allem sie selbst. Jeder wollte mit Wesna reden und gekauft hat keiner. Sie hatte interessante bunte Haschpfeifen ausliegen und ich habe mal nach der Füllung gefragt. ....

„Ich und Drogen? Nie.“ Meinte sie gespielt erbost. Im Winter waren sie dann nicht da. Das letzte, was ich mitbekommen habe, war eine Unterhaltung: sie überlegte sich, ob sie nach Neuseeland, Thailand oder auf die Azoren fliegen sollte. Wegen der günstigen Preise.

Ich war erleichtert: endlich ein Mädchen, das vernünftig rechnen konnte. Ich selbst konnte mir ähnliches nie leisten, aber ich habe es auch nie geschafft, an einem Stand in einem halben Jahr KEIN einziges Stück von irgendwas zu verkaufen.

Bei Wesna steht auch immer der Franzose rum. Ich nenne ihn so, weil mit mir keiner redet. Er sieht einfach so lässig aus und gehört einfach dazu. Ich gehöre noch nicht zum inneren Kreis. Den gibt’s wirklich in Form von verschiedenen Gruppen: er besteht aus der Wesna-Crew, dem Franzosen und seinem Gefolge, Pancho Villa und die Opas und zuletzt der Hardware-Gang. Letztere sind geschäftstüchtige Rumänen: laufend haben sie neue PC-Ausstattungen zu Spottpreisen. Hardware, die irgendwo vom Container gefallen ist. Pancho Villa ist ein fettleibiger Deutscher, der mit einem riesigen Sombrero und Bierflasche herumrennt und mit dem Bass eines Hauptfeldwebels „Caramba“ schreit. Einfach so. Ich weiß noch nicht, warum, aber er ist so konsequent, dass es wohl unter „Weltanschauung“ fällt. Hinterher sitzen alle mittags zusammen bei Rita und diskutieren die Geschäfte oder die Weltlage (hier unten ist übrigens auch der Hund zu sehen).

Das hört sich so an:

Pancho: „Was ist das Ding da?“

Franzose: „Ein I-Phone.“

Pancho: „Plastik is das, wozu brauchst Du?“

Franzose: „Geschäfte. Sonst geht nix. Hier muss man fix sein bei e-bay.“

„Wesna: „Hast Du den Schrank für 25.000 gekauft?“

Franzose: „Nie. Bin ich blöd? 20 ist das wert, kein Cent mehr. Ich warte. Und hier mit I-Phone sehe ich Gebote immer sofort.“

Pancho: „Gibt’s Du mir 2 Euro. Ich brauch Fischsemmel.“

Franzose: „2 Euro? Spinnst Du? Ich habe grad mal 10 in der Tasche. Nachher hol ich beim Rumänen noch den Dell-PC.“

„Pancho: „Der will 80.“

Franzose: „Der kriegt 10. Das mach ich schon. Ich muss an den Restwert denken: wenn nix geht mit dem Ding, dann muss ich den Schrottwert rauskriegen.“

Hier gibt es keine Gnade, keine großzügigen Auslegungen und keine falschen Gefälligkeiten nur wegen der Eitelkeit des „Gut-Dastehens“ oder des Luxus einer 18-fachen Kantine, wenn man eh nur einmal am Tag essen kann. Hier ist alles ehrlich, im Großen wie im Kleinen.

Und ich denke auch, dass das mit Wesna demnächst klappt. Ich habe bei ihrem Vater eine Kiste Havannas gekauft. Aus den 60er Jahren. Okay, die Zigarren: scheiß drauf. Die Kiste ist genial. Der Preis pro Zigarre war ein Euro, für alle 20 hätte er 15 verlangt, für die Kiste alleine auch 15. Ich habe alles zusammen für 12 bekommen. Ein gutes Vorzeichen. Und Rechnen hat sie wohl vom Papa gelernt.

Nach einem Jahr unverdrossenem, einsamen und klaglosem Kampf gegen die Gulaschsuppe gehöre ich wohl auch zur Crew. Irgendwie.

Ich hatte in der vorigen Woche übrigens bei einem Händler, der nur selten kommt, Ware von Versace und ne gefälschte Movado-Uhr erstanden. Ne Gesamtausstattung für weniger als 10 Euro. Er kommt aus Starnberg, dort wohnen die Leute mit Haus am See. Manchmal stehen sie in der Zeitung unter „Manager mit Riesen-Abfindung entlassen“. Er sammelt dort die meist nur ein- oder zweimal getragenen Maßanzüge und –hemden und verscherbelt sie hier. Es war ein guter Tag, sehr unterhaltsam bis dahin und mit der Erkenntnis: ich brauche wohl kein I-Phone. Die Idylle hat auch hier einen schäbigen Geschmack, aber man versucht es:

Während ich noch so über den Schrottwert nachdenke, insbesondere über den Schrottwert von Menschen, sehe ich doch glatt beim Rausgehen, wie Gerit aus dem Puff kommt. Gegenüber, am anderen Ausgang, befindet sich nämlich die Ingolstädter Straße, dort reiht sich ein Etablissement neben das andere. Preise von 30 bis 60 Euro maximal, das nenne ich einen funktionieren Markt. Ohne monopolistische Extravaganzen und bezahlbar. Ich weiß das nur vom Hörensagen, ich war ja nie dort. Die haben nämlich keine behindertengerechten Eingänge, obwohl man immer in den ersten Stock muss. Und die Bauten sind alles ehemalige Büro-Gebäude mit Vollklimatisierung. Also aus ethischen und ökologischen Gründen nicht korrekt, da hinzugehen, trotz fairer Marktpreise.

Gerit war sichtlich angepisst, und es entsprach auch sonst nicht seinem familiärem Naturell, tagsüber in den Puff zugehen.

„Die haben mich gefeuert. Stell‘ Dir vor: einfach so. Keine Forschung mehr in Dtld. Aber ich denke, das ist gut so, ich war eh unterbezahlt.“

Dann erst schien er mich in der neuen Aufmachung bemerkt zu haben:

„Wie siehst Du denn aus? Hey, alles von Versace, goldene Manschettenknöpfe, Movado? Endlich nen Aufstieg gemacht? Hast Du endlich begriffen, worum es geht?“

„Ja, sieht so aus, was? Und, wie geht’s denn dann bei Dir weiter?“

„Ja, ich habe jetzt mal eine Bewerbung rausgeschickt. Das sollte reichen. Aber ich mach erstmal den wohlverdienten Urlaub.“.

Eine sehr gute Bekannte von mir arbeitet übrigens bei der ArGe. Sie hat neuerdings täglich Anträge von hochqualifizierten Ex-Ingenieuren und sonstigen Studierten auf dem Tisch. Anträge auf Hartz 4, weil diese nach einem Jahr Arbeitslosigkeit und 200 Bewerbungen im Schnitt nicht mal ne Einladung bekommen haben. Dann sitzt die selbsternannte Elite Deutschlands mit angebrochenen 40 plus X Jahren weinend in ihrem Zimmer und versteht die Welt nicht mehr. Das ist der Moment der unmittelbaren Traurigkeit, der sofort zu spüren ist. Später meist, wenn sie die Komplexität begreifen und einsehen, dass sie nicht die einzigen Genies in Dtld sind, dass die Welt nicht auf sie gewartet hat, dass es kein Recht auf gar nichts gibt, wenn sie es zugeben müssen, dass nur ihr Arsch gemietet wurde, dann schaffen sie es vielleicht ohne Heulen in die Kantine in der ArGe. Dort gibt’s frittierte Schnitzel mit Pommes für 6,80. Nur eine einzige Auswahl. Aber die macht satt für 2 Tage.

„Recht hast Du“, meinte ich. „In 2 bis 3 Monaten sehen wir uns dann wieder. Hier, bei Rita“

„Hier? Spinnst du, was soll ich denn hier?“

„Du hast doch selbst gesagt: ich hätte es endlich begriffen... (und ich konnte es ihm nicht sagen: und Du noch nicht) ... wir sehen uns hier, glaub’s mir.“

Und wenn es nur wegen des Schnitzels für 3,80 ist. Oder wegen eines Dachs bei Regen.

Hier, bei Rita. Zwischen Puff und Power-Zentrum der sterbenden Automobilindustrie im Autoland Deutschland. Im Hartz IV Land.

PS: ich freu mich auf Wesna. Sie hat einen Hund und Wesna bedeutet: Mörgenröte.

Bürgerreporter:in:

Dario Chissono aus Augsburg

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