Die Hexe, die keine war oder Märchen in Rosa

Prinz Arlund war gerade erwacht, rieb sich den noch vorhandenen Schlaf aus den Augen und atmete auf. Das war ja ein merkwürdiger Traum gewesen.
Er schaute auf die gegenüberliegende Wand, auf seinen Prinzenschreibtisch, auf seinen Prinzenwandspiegel und … er schaute sich sein Prinzenzimmer rundumherum an. Alles war rosafarbig. Seine Ahnentafel, sein Prinzenschwert, sein Prinzenfederhut … Einfach alles!
Er stürzte aus seinem Zimmer auf den Flur. Auch alles Rosa! Er lief, ohne anzuklopfen ins Königinnen- und Königsschlafzimmer. Hier lagen die Königin und der König, seine königlichen Eltern, im königlichen Ehebett. Das Bett, die Nachttische, die königliche Frisierkommode … alles war Rosa. Selbst die Nachtgewänder, die seine königlichen Eltern trugen, waren Rosa. Auch die Krone, die sein königlicher Vater selbst des Nachts trug, schimmerte in einer metallischen rosa Farbe.
„Vater! Mutter! So wacht doch auf! Es ist etwas Schreckliches passiert!“
König Balthasar richtete sich mit einem Ruck auf. Seine wasserblauen Augen sahen entsetzt auf seinen königlichen Sohn. „Was ist denn nur? Was soll denn das?“
Ja, schaut doch. Alles ist … alles ist Rosa!“
Mittlerweile hatte sich auch Königin Sieglinde im Bett aufgesetzt und sah auf ihren Sohn.
König und Königin schauten sich in ihrem Schlafgemach um. Tatsächlich: alles Rosa.
Wie schön dachte der König.
Wie schön dachte die Königin.
„Das ist doch wunderschön“, sagte der König.
„Das ist doch wunder-wunderschön“, sagte die Königin.
„Ist es nicht!“ Das war der Prinz, in seinen rosa Schlafschuhen, in seinem rosa Nachthemd und der rosa Schlafmütze auf dem Kopf.
„Aber, aber“, der König schüttelte missbilligend den Kopf. „Es ist doch ganz nett, das alles einmal anders ist … und dieses Rosa ist doch wirklich allerliebst anzusehen.“
„Ja, aber wie lange ist das allerliebst? Einen Tag? Zwei? Lieber königlicher Vater, ich hatte letzte Nacht einen Traum. Einen rosa Traum … und jetzt ist er wahr geworden.“
„Einen rosa Traum. Erzähle, mein königlicher Sohn.“
Und der königliche Sohn erzählte. In seinem Traum war ihm eines Morgens, als er gerade am königlichen Teich spazieren ging, eine Fee erschienen. Die Fee war wunderschön. Sie hatte seidiges, rosafarbenes Haar, eine feine zartrosa schimmernde Haut. Sie trug ein, wie es schien, federleichtes rosa schimmerndes Kleid und hatte ganz entzückende rosafarbene Schuhe an.
Er habe einen Wunsch frei, hatte die Fee zum königlichen Prinzen gesagt. Der Prinz war sehr erfreut, dass er einen Wunsch äußern durfte, und wünschte sich, im Überschwang seiner Freude und da ihm die rosa Fee so gut gefiel, dass die königliche Welt ihm nur in rosaroter Farbe erscheinen möge.
Sofort war nach Äußerung dieses Wunsches alles, aber auch wirklich alles, rosa. Der Prinz freute sich und klatschte in die Hände. Er wusste: Ab jetzt war alles wunder- wunderschön.
Am nächsten Tag schaute der Prinz in eine rosa Welt und die rosa Welt schaute in einen rosa Prinzen. Da war das schon nicht mehr so schön. Und nach einer Woche, als immer noch alles rosa war, wurde es dem Prinzen sogar etwas langweilig. Nachdem im Traum ein Jahr vergangen war und die rosa Welt auch nicht nur ein kleines bisschen verblasst war, dachte der Prinz, er müsse schier verrückt werden. Doch bevor dies geschah, war er von seinem Traum erwacht … und der war Wirklichkeit geworden.
Nachdem der Prinz seinen Traum zu Ende erzählt hatte, überlegte der König bedächtig. Die Königin ebenfalls … doch nicht ganz so bedächtig wie ihr königlicher Gemahl.
Beide kamen zu demselben Schluss: Das geht so nicht!
Und sagten das auch, im Chor: „Das geht so nicht! Da muss etwas geschehen.“ „Wo ist der königliche Zauberer?“ Der König sagte es laut, damit es jedermann hören konnte.
Es klopfte an der offenen königlichen Schlafzimmertür und der königliche Kammerdiener Johann schaute um die Ecke. Er lupfte seinen rosafarbenen Kammerdiener-Hut und sagte: „Der Zauberer ist, wie immer, in der königlichen Küche, um etwas von der königlichen Morgensuppe abzubekommen.“
„So hole ihn! Husch, husch!“ Der König wedelte ungeduldig mit den Händen.
Der königliche Kammerdiener Johann verschwand und an seiner statt tauchte wenige Augenblicke später der königliche Zauberer auf. Auch er lupfte, wie vorhin der königliche Kammerdiener, seinen rosafarbenen Hut und bat um Begehr. König Balthasar klärte den Zauberer über die Geschehnisse auf und sagte dann: „Tu etwas!“
Der königliche Zauberer runzelte bedenklich seine Stirn. Dann sagte er: „Ich kann nichts tun. Nur unser königlicher Prinz kann etwas tun. Die Fee aus dem Traum ist keine Fee, sondern die Hexe Eldora. Sie ist bekannt für solche Späße. Sie ist schon anderen königlichen Prinzen aus anderen Königreichen als Fee im Traum erschienen, um angebliche Wünsche zu erfüllen und betrügt sie. Man kann sich aber von seinen Wünschen freikaufen.
Der königliche Prinz Arlund muss die Hexe Eldora aufsuchen und sich erkundigen, wie er sich freikaufen kann. Es wird bestimmt etwas Besonderes und Außergewöhnliches sein. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“
„Wo kann ich die Hexe Eldora finden?“ Die Hände in die Hüften gestemmt stand der königliche Prinz vor dem königlichen Zauberer.
„Du findest sie im Dunkelwald, gleich links hinter der Grenze des königlichen Königreichs. Es geht nur ein Weg in den Wald hinein. Er führt direkt zum Hexenhaus. Du kannst den Weg nicht verfehlen. Eine Stunde Weges und du bist da.“
„Dann will ich mich gleich nach dem Frühstück auf den Weg machen.“ Der königliche Prinz nahm die Hände von den Hüften und verschwand im königlichen Frühstückszimmer.
Nachdem er sich ausgiebig mit Pfannkuchen und Zuckersirup satt gegessen hatte, machte sich der königliche Prinz auf den Weg. Nach kurzer Zeit hatte er die Grenze des königlichen Königreiches erreicht und siehe da, … links davon war auch schon der Dunkelwald. Wie der königliche Zauberer gesagt hatte, führte nur ein Weg in den Wald hinein. Zusätzlich war aber noch ein Wegweiser angebracht. Mit der Aufschrift: Zum Hexenhaus.
Wohlgemut betrat der königliche Prinz den Weg. Nach einigen Schritten wurde ihm jedoch etwas angst und bang. So düster war es im Dunkelwald … und still. „Ich bin der königliche Prinz“, sprach der königliche Prinz in Gedanken zu sich. „Ich brauche keine Angst vor Nichts und niemanden zu haben. Auch nicht vor diesem düsteren und stillen Wald!“
Und siehe da: so war es. Angst und Bange verschwanden.
Nach einer Stunde Weges kam der königliche Prinz an eine Lichtung und inmitten der Lichtung stand ein düsteres Haus. Die Wände waren aus dunkelgrünem Holz, sie hatten kleine dunkelgrüne Glasfenster, das Dach war mit giftgrünem Moos bewachsen. Ringsum standen dunkelgrüne Tannen.
Der königliche Prinz trat vor die, aus dicken Bohlen bestehende Tür und klopfte an. Er musste seine Prinzenfäuste benutzen, sonst hätte man in dem Haus das Klopfen nicht vernommen.
„Wer ist da!“, tönte es mit einer hässlichen Stimme aus dem Innern des Hexenhauses.
„Ich bin es. Der königliche Prinz Arlund. Ich bin sicher, Ihr erwartet mich schon. Ihr seid mir im Traum als Fee erschienen. Ich muss mit Euch reden.“
„Ah, ich weiß, ich weiß.“ Die Tür öffnete sich und die Hexe Eldora, sich grinsend die Hände reibend, stand vor dem königlichen Prinzen.
Die Hexe Eldora trug einen schwarzen Rock, hatte schwarze Schuhe an, und einen spitzen schwarzen Hut auf dem Kopf. Sie hatte ein altes, hässliches Gesicht, eine lange Nase mit einer dicken Warze darauf. Sie sah ganz so aus, wie man sich eine Hexe vorzustellen hat. Nur die schwarze Katze oder der schwarze Rabe auf der Schulter fehlten.
„Ich habe schon auf dich gewartet. Ich dachte mir, dass dir das einfarbige rosa Leben nicht gefallen wird. Das würde jedem nach einiger Zeit so gehen. Das Leben muss bunt sein, um zu gefallen, um Freude daran zu haben. Eintönigkeit ist der Tod.
Sieh dich um! Die Tannen dunkelgrün. Das Haus dunkelgrün. Das Dach und die Fenster dunkelgrün. Was glaubst du, wie ich mich fühle? Ein Jahrzehnt verbringe ich schon in diesem Wald, ich fühle mich dem Tod so nahe wie noch nie.“
„So geht an einen anderen Ort.“ Der königliche Prinz war verwundert.
„An einen anderen Ort gehen? Ja, wenn das so einfach wäre. Ich bin verwunschen. Ich muss so lange an diesem Ort bleiben, bis ich sterbe oder erlöst werde.“ Traurig sah sie plötzlich aus, die Hexe Eldora.
„Doch hör mir zu. Ich stamme von einem königlichen Geschlecht ab. Ein, meinem Vater feindlich gesinnter großer Zauberer, hat mich vor einem Jahrzehnt verwunschen. Ich bin die Königstochter. Eine Prinzessin, keine Hexe. Du staunst? Es ist so. Ich muss entweder hier sterben oder ich werde erlöst werden. Nur ein Prinz, wie du einer bist, kann den Fluch von mir nehmen.
Wenn du mir ein Heiratsversprechen gibst, das aus deinem ehrlichen und reinen Herzen kommt, so verschwindet der Fluch von mir und ich werde in meiner wahren Gestalt vor dir stehen. Auch deine königliche rosa Welt wird nicht mehr rosa sein, sondern in den normalen Farben leuchten.
Doch auch wenn du mir kein Eheversprechen gibst, sollst du, wenn du wieder in deinem Königreich zurück bist, deine Welt in den alten Farben wieder finden. Der rosa Traum und die Verzauberung des Königreiches dienten nur dazu, dass du dich auf den Weg zu mir begabst.“
Die Hexe Eldora weinte bitterlich.
Da wurde dem königlichen Königssohn ganz anders im Herzen. Die Hexe Eldora schien ihm nicht mehr abstoßend und hässlich, er spürte ihr reines, edles Herz und fand sich ihr ganz nah.
„Höre, Eldora“, hörte er sich selbst sagen. „Ich will dich erlösen. Ich erkenne dich, erkenne, dass du die Wahrheit sagst. Ich fühle mich dir nah und meine, ich würde dich schon lange kennen. Ich gebe dir hiermit mein königliches Eheversprechen.“
Kaum hatte der königliche Prinz diese Worte gesagt, wurde es um ihn herum so überirdisch hell, dass er die Augen schließen musste.
Als er die Augen wieder öffnete, stand vor ihm eine wunderschöne Prinzessin mit langen, goldenen Haaren, mit blauen Augen, die so hell wie ein See im Sonnenlicht leuchteten.
Dort wo das Hexenhaus gestanden hatte, stand ein prunkvolles Schloss, die düstere Waldeslichtung hatte sich in einen wunderschönen Park verwandelt.
„Dies ist das Schloss meiner königlichen Eltern und ich bin die Prinzessin Elinor.“ Prinzessin Elinor trat auf den königlichen Prinzen zu und küsste ihm sanft die Stirn.
Die Schlosstreppe herunter kamen König Edelmut und Königin Lieselohn, die Eltern der Prinzessin, um ihren zukünftigen Prinzenschwiegersohn zu begrüßen.
Alle freuten sich sehr. Boten wurden zu den Eltern des königlichen Prinzen ausgesandt, sie sollten mit Gefolge zum Schloss im Dunkelwald kommen, der nun aber Freudenwald heißen würde. Es sollte nämlich noch am selbigen Tag Hochzeit sein.
Und so geschah es. Es war die größte und schönste Hochzeit, von der man je gehört hatte.
Ein Jahr später wurde dem königlichen Prinzen Arlund und der königlichen Prinzessin Elinor ein kleines Mädchen geboren. Sie war schön wie der junge Frühlingstag, mit einem, eigentlich nicht erwähnenswerten, kleinen Makel: eine winzige Warze wuchs auf ihrer Nasenspitze.

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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