Weinlese in Österreich - Teil 1

Weintraube. Zeichnung von Maxi Herta Altrogge.
58Bilder

Wieder eine Jugenderinnerung aus den Neunzigern - das direkte Anschlusskapitel an die Weinfest-Geschichten.

Kapitel 39.: Bei der Weinlese

26. September 1994

Kapitel 39. 1.: Der Morgen nach dem Weinlesefest

Nachdem ich das Haus verlassen hatte, war ich ausnahmsweise nicht in Richtung Lehengasse gegangen. Ich hatte als Schulweg stattdessen die Route Wienerstraße, Hauptplatz, Znaimerstraße und Kirchenstraße gewählt. Ich wollte sehen, wie der Hauptplatz am Montagmorgen nach dem großen Fest aussah.
Nach ein paar Minuten hatte ich die Wienerstraße hinter mir gelassen. Ich blieb zunächst auf der Höhe des Schuhgeschäftes Mühltaler stehen.
Der Platz zeigte sich so, wie es nach einem gigantischen Spektakel von den Ausmaßen der letzten drei Tage zu erwarten war. Fast die gesamte Fläche des Platzes war übersät mit Papptellern, zusammengeknüllten Servietten und Plastikbechern, als hätte es sie geregnet.
Die Hütten auf dem Platzinnenteil standen völlig leer da. Die einzigen Anwesenden dort waren die Arbeiter des städtischen Bauhofes. An etliche Stellen zwischen den Hütten waren diese unterwegs, um mit breiten Besen den Unrat zusammenzufegen.
Am Beginn der Herrengasse sammelten gleichzeitig die Angestellten der örtlichen Straßenmeisterei die dort befindlichen Sperrschilder ein. Direkt bei ihnen stand einer ihrer charakteristisch orangen Klein-Lkw. Auf seiner Ladefläche befanden sich schon ein paar Sperrschilder von anderen Stellen.
Der gesamte Platz wirkte wie ausgestorben. Mit Ausnahme der Arbeiter und mir war kein einziges Lebenszeichen registrierbar. Keine Passanten, keine Fahrzeuge, nichts. Der Zustand wirkte fast gespenstisch im Vergleich zum vorherigen Abend.
Die Männer von beiden Betrieben sprachen in normaler Lautstärke miteinander. Trotzdem hallte jeder ihrer Sätze aufgrund der Leere unglaublich laut wieder.
Ich sah auf die Armbanduhr. Fünf Minuten vor Um Sieben. Auch wenn der Unterricht erst in einer Viertelstunde anfing, beschloss ich, weiterzugehen, damit ich nicht rennen musste.

Kapitel 39. 2.: Ein täglicher Schulschluss an der Handelsakademie

Kapitel 39. 2. 1.: Im Klassenzimmer

Die gesamte Schularbeit bestand nur aus einer einzigen Frage: "Wie werden die Rechtsformen der Unternehmen unterteilt? Denke dabei an die Grafik im Buch! Beschreibe auch die Unterschiede etwas näher."
Ich nahm die Kappe vom Füller und begann zu schreiben:
"1. Unterscheidung nach der rechtlichen Grundlage
Es gibt öffentliche und private Unternehmen …"

"… 1. 2. 2. 4. 2. 2. Ges. m. b. H's."
Kaum hatte ich das Wort geschrieben, klingelte es. Ich legte den Füller auf den Tisch und lehnte mich erschöpft zurück. Ich war zufrieden, auch wenn ich die Ges. m. b. H's nicht mehr geschafft hatte. Ich hatte soviel auf dem Blatt stehen, dass es schlechter als eine Drei nicht werden konnte.
Gegenüber an der anderen Spitze des Tische-U's begann Brodesser bereits die Arbeiten einzusammeln. Ich legte meine an den Rand des Tischs, damit er sie nehmen konnte. Danach begann ich mit dem Einpacken. Ich hatte nur noch die Federmappe, den Füller und ein Lineal auf dem Tisch liegen. Ich packte den Füller in die Mappe und dann die Mappe und das Lineal an ihre Plätze in der Tasche.
Währenddessen ging neben mir schon die Tür auf. Auf dem Gang draußen waren bereits etliche Schüler unterwegs. Dahinter fiel wie immer der Blick auf die riesigen, vom Boden bis zur Decke reichenden Glasfenster in der Außenwand. Hinter ihnen auf die Pfarrgartenmauer mit der Reihe Gebüsch davor. Der schmale Rasen vor den Büschen war erst vor kurzem frisch gemäht worden. Beim Anblick der Mauer erinnerte ich mich daran, wie wir erst am Donnerstag zuvor im Pfarrgarten gewesen waren. Ich stand auf, hängte mir die Tasche über die rechte Schulter und verließ das Zimmer.

Kapitel 39. 2. 2.: Im Flur

Aus allen drei weiteren Klassen in unserem Flur kamen massenhaft Schüler heraus. Rechterhand hatten ein ganzes Stück vor mir Isolde und Paula bereits das Flurende erreicht, wo der fahrbare Videoschrank stand. Eine Sekunde später verschwanden sie in dem kurzen Verbindungsgang zur unteren Aula.

Kapitel 39. 2. 3.: In der Aula

In der Aula herrschte der übliche Mittagstrubel. Aus allen Richtungen kamen Schüler. Manche, die noch Nachmittagsunterricht hatten, saßen an dem sechseckigen Tisch gleich hinter dem Verbindungsflur. Ein paar standen auch entlang der Fensterreihe zum Hof.
Etliche kamen die Treppe zum ersten Stock herunter. Die meisten davon verschwanden gleich im Eingang zur Garderobe unmittelbar daneben. Ein paar gingen zunächst zur Tafel mit den Vertretungsplänen und den Mitteilungen der Schülerunion zwischen Garderobentür und Buffetfenster.
Auf dem Konzertflügel gleich links neben dem kurzen Flur nach hinten waren ein paar Mädchen damit beschäftigt, Zeichnungen zu sortieren. Im Vorbeigehen erkannte ich, dass es die Bilder waren, die der Freigegenstand "Kreativ" in den letzten Tagen angefertigt hatte. Im nächsten Augenblick fiel mir auf, dass auf dem Treppenaufgang zwei andere Schülerinnen mit etwas beschäftigt waren. Beim Näherkommen sah ich, dass sie bereits in Rahmen gefasste Bilder an der Wand befestigen.
Die Ecke unter dem Treppenabsatz zog vorbei. Auf dem Tisch ganz hinten stellte gerade einer aus der Vierten Klasse einen Kasten mit Tischtrennwänden für Schularbeiten ab. Ganz offensichtlich hatte seine Klasse auch gerade etwas geschrieben. Weiter vorn um den Münzkopierer herum standen ein paar Leute aus der III. A und kopierten irgendetwas.

Kapitel 39. 2. 4.: In der Garderobe

Ich betrat die Garderobe. In dem schmalen Teil gleich hinter dem Beginn war bereits wieder wie jeden Mittag, wenn ich ankam, das Durchkommen schwierig. Unzählige Schüler saßen bereits auf den Bänken entlang der Wände und zogen sich ihre Straßenschuhe an.
Rechts, vor der Tür zum Schulbuffet, standen wie an jedem Ende eines Schultages die Kisten mit den leeren Cola-, Fanta- und Spriteflaschen. Gleich daneben stand ebenfalls wie gewöhnlich die Kiste mit den nichtverkauften Käsestangen aus der Bäckerei von Finanzstadtrat Gold.
Auch rechts um die Ecke herum, wo sich der schmale Gang fortsetzte, herrschte ziemliches Gedränge. Massenhaft knallten Schuhe auf dem Boden auf. Ein Stück hinter mir klapperte zwischendurch mit einem Male Glas. Offensichtlich waren einige der quergelegten Getränkeflaschen von einer übervollen Kiste heruntergerollt.
Ich kam an meinem Platz an. Rechts am Ausgang der Garderobe standen bereits Isolde und Paula und warteten auf die anderen. Silberbauer tauchte am Ausgang auf. Er verschwand gleich wieder in dem kleinen Durchgangsraum in der Wand links daneben, wo es zu dem Flur mit den Lehrerarbeitszimmern ging.
Wie immer schleuderte ich die Haussandalen nacheinander so auf das Ablagemetall unter der Bank, dass sie ordentlich nebeneinander standen. Danach holte ich mit den Zehenspitzen die Straßenschuhe hervor und zog sie mir an. Währenddessen fiel mir auf, dass sich unter den zahlreichen Plastikbeuteln an den Kleiderhaken auch etliche mit tschechischen Aufschriften befanden. Die dürften geschichtlich betrachtet auch ein ziemliches Novum sein, dachte ich. In der seinerzeitigen sozialistischen Tschechoslowakei lief ja vieles ähnlich wie bei uns. Daher werden dort vor 1989 Plastiktaschen im Allgemeinen sowie mit Werbeaufdrucken im Speziellen wohl ebenfalls fast nicht produziert worden sein. Und erst recht nicht in diesem westlichen Design.
Mitten in den allgemeinen Gesprächstumult hinein mischte sich plötzlich eine Durchsage der Sekretärin über die Schulsprechanlage. Ich bekam nur soviel mit, dass die Mitteilung von einer Probe des Schulchores handelte.
Nachdem ich die Lederjacke angezogen und den Rucksack aufgesetzt hatte, sah ich nach den anderen. Die Fekter verließ in diesem Moment das Ausweichklassenzimmer schräg gegenüber. Sie steuerte unmittelbar auf das Sprachlehrer-Arbeitszimmer am Ende der Garderobe zu.
Schließlich waren auch alle anderen von der österreichischen Klassenhälfte mit Anziehen fertig und gingen in Richtung Garderobenausgang los.
An der Schultür entstand wieder einmal der übliche Stau, da gleich unzählige von Schülern das Gebäude verließen.

Kapitel 39. 2. 5.: Zwischen den zwei Schulgebäuden

Auf dem kleinen Platz zwischen den beiden Schulgebäuden blieb ich zunächst stehen, um zu sehen, wo die anderen aus der Gruppe blieben.
Gleich links neben dem Eingang, wo die Grünanlagen der Schule begannen, wehten nebeneinander wieder die drei üblichen Flaggen. Die blaue Europas, die rot-weiß-rote der Republik, die blau-gelbe Niederösterreichs. Im Hintergrund davon war gerade knallblauer Himmel.
Eher zufällig sah ich zur Südwand des Schulgebäudes gegenüber. Die Metallbuchstaben des Schriftzuges "Rupert-Rockenbauer-Schule" warfen dort durch die schon tiefer stehende Frühherbstsonne bereits längere Schatten. Gleichzeitig registrierte ich, dass sich um die Ecke herum, an der Ostseite des Hauses, etwas bewegte. Brodesser, Buchbinder und Prem-Jonny waren gerade auf die Terrasse über dem Vorbau in der Mitte des HAK/Hauptschulgebäudes getreten.

Kapitel 39. 2. 6.: Auf dem Steilweg

Johannes, Georg und Cornelius kamen heraus. Ich bewegte mich wieder in Richtung des Fußweges an der linken Seite.
Auch gegenüber aus dem kleinen Schulgebäude kamen massenhaft Schüler heraus und gingen die Treppe hinunter. Fast alle mischten sich unter den Strom, der sich die Zufahrtsstraße Richtung Pfarrgasse hinaufschob. Unzählige Schüler verschiedener Altersstufen waren bereits unterwegs. Allein, zu zweit oder in kleineren Gruppen. Viele hatten Rucksäcke auf, manche trugen Diplomatenkoffer an den Händen.
Rechts begannen die Grünanlagen der Schule vorüberzuziehen. Die Birken an ihren Rändern verfärbten sich der Jahreszeit entsprechend langsam gelblich.
Links direkt neben mir tauchte unterdessen inmitten der Hecke vor der Musikschule die Trafostation der Landeselektrizitätswerke auf. Gleich darauf kam nach dem Ende der Hecke die Musikschule selbst in Sicht. In dem Gebäude wurde gerade geprobt, als wir vorübergingen. "So, mia miassn jetz zum Gitoanuntarricht", verabschiedeten sich Isolde und Paula.
"Joa, Servas", rief ihnen Johannes zu.
Die Mädchen setzten sich dann auf die Bank unter dem Steinfries mit den stilisierten Musikinstrumenten an der Südseite des Gebäudes.
Auf der Straße rechts vom Fußweg überholte uns unterdessen Schönbacher. Er ging zu seinem Auto auf dem Lehrerparkplatz inmitten der Grünanlagen.
Links wiederum schloss sich gleich nach dem Ende der Musikschule der mit Maschendraht eingezäunte kleine Acker an. Längst war das Getreide darauf abgeerntet und der Boden umgepflügt worden. Ganz am Ende des kleinen Feldes waren auf der Höfleinerstraße ein paar Autos in Richtung Ortsausgang unterwegs. Noch ein Stück weiter hinten erschienen über den Dächern der östlichen Seite der Höfleinerstraße die Zementsilos der Firma Walther am Bahnhof. Bei ihrem Anblick entstand bei mir für einen Sekundenbruchteil wieder der Wunsch, mit dem Zug irgendwo hin zu fahren.
Schönbacher bog mit seinem Auto auf die Straße ein und konnte sich zunächst nur handbreitweise vorwärts bewegen. Unzählige Schüler waren auf der Straße unterwegs. Nur nach und nach wichen sie ihm auf den Fußweg aus. Hinter mir bekam ich mit, wie sich Johannes und Georg über irgendein Computerproblem unterhielten. Johannes hatte etwas gefragt und Computerexperte Georg ihm geantwortet. Alles, was er über Computer nicht wusste, war noch nicht erfunden.
Das Fahrradblechdach am Ende der Schulgrünanlagen kurz vor der Mauer zur höher gelegenen Pfarrgasse kam in Sicht. Etliche Schüler holten sich von dort ihre angeschlossenen Räder.
Nachdem wir ein paar Schritte weitergegangen waren, fuhr Antonia auf ihrem Rad an uns vorbei. Sie stand dabei halb auf den Pedalen, um die Steigung zu nehmen. Während des Fahrens klapperte der auf ihrem Gepäckträger montierte Drahtkorb.

Kapitel 39. 2. 7.: Bei der Kirche

Wir kamen am Ende der steilen Abwärtsstraße zu den Schulen an. Rechts zog am Beginn der Schulgeländemauer in Augenhöhe die kleine, überdachte Holzhinweisschildersammlung mit den Pfeilen in Richtung Handelsakademie, Handelsschule, Polytechnische Schule und Musikschule vorbei.
Geradeaus, auf dem Parkplatz vor der Kirche, teilten sich wie immer die Schülermassen in alle Richtungen auf.
Ein Teil betrat linkerhand den Staubweg entlang der niedrigen Mauer an der Ackersüdseite. Vor allem die Tschechen und die Waldviertler schlugen ihn Richtung Bahnhof ein.
Ein paar Tschechen aus der Dritten Klasse, die schon 18 waren, gingen zu einem alten Škoda 120 L, welcher nur wenige Schritte entfernt ganz am Rande des Parkplatzes stand. Auch österreichische Schüler älterer Jahrgänge gingen zu ihren Autos. Mädchen wurden von ihren Freunden mit dem Auto abgeholt, welche sie küssend empfingen. Erstklässler schossen auf Inlineskatern und Skateboards quer über den Platz.
Maria ging geradeaus weiter. "Pfiat eich!" verabschiedete sie sich von uns.
Nach ein paar Augenblicken blieben die anderen aus der Gruppe plötzlich stehen. Ich sah hinter mich. Georg war mit seinem Koffer zu der Stelle der Schulgeländemauer neben der Holzhinweisschildersammlung gegangen. Nachdem er den Koffer auf der Mauer geöffnet hatte, entnahm er ein paar Computerprospekte und übergab sie Johannes. Johannes bedankte sich, nahm seinen Rucksack herunter und verstaute die Sachen darin. Georg verabschiedete sich unterdessen und verschwand in Richtung Bushaltestelle in der Kirchenstraße. Von der neun Mann umfassenden deutschsprachigen Klassenhälfte waren nun nur noch Johannes, Wilhelm, Cornelius und ich übriggeblieben. Wie bereits am Vormittag ausgemacht, schlugen wir erst die Richtung vom "Poseidon" ein, ehe auch wir nach Hause gingen.

Kapitel 39. 2. 8.: In der Pfarrgasse

Gegenüber am Ende des Fußweges vor der Kirchenapsis tauchte eine Ankündigungstafel vom Stadtkino auf. Eine Neuverfilmung von "Citizen Kane" wurde auf ihr beworben.
Direkt vor uns kam das barocke Schüttkastengebäude des ehemaligen Vereinshauskinos in Sicht. Wie immer wirkte es ziemlich trutzburgartig.
Etwa zwei Kilometer hinter dem Gebäude erschien gleichzeitig der bewaldete Höhenzug des Manhartsberges. Aufgrund der intensiven Sonneneinstrahlung kam er gerade besonders deutlich zur Geltung. Ein paar vereinzelte scharfkantige Quellwolken trieben über den Berg. Aufgrund all dieser Umstände wurde der Mittelalter-Eindruck des Gebäudes in dem Moment noch verstärkt. Die passende Filmmusik zu dieser Szene wären wahrscheinlich mittelalterliche Fanfarenklänge, ging es mir durch den Sinn.
Links zog die Nordfront der Stadtpfarrkirche vorbei. Bei ihrem Anblick erinnerte ich mich daran, wie wir am Donnerstag auf dem Traktor daran vorbeigefahren waren.
Kurz darauf erreichten wir die auf der rechten Seite neben dem Pfarrgarteneingang stehende Holzwerbetafel. Im selben Augenblick fuhr Čeněk auf seinem Motorrad an uns in Richtung Znaimerstraße vorbei.
Links tauchten unterdessen die beiden Heiligenfiguren am Eingang zum Kirchenpark auf. Links, Richtung Kirche hin, der Heilige Augustinus, der Kirchenlehrer. Rechts, neben dem Pfarramt, der Heilige Ambrosius, Schutzheiliger der Imker. Unschwer erkennbar durch den Bienenkorb als Attribut. Ebenfalls links zog gleich darauf das Pfarrhaus und rechts auf gleicher Höhe das Vereinshauskino vorüber.
Wir erreichten den engverbauten Teil der Pfarrgasse. Die Schritte begannen auf dem Pflaster zu schallen.
Kurz darauf folgte auf der linken Seite der Torbogen zum Pfarrhof mit der Aufschrift "Winzergenossenschaft Retz". Ich erinnerte mich, wie ich ihn am Tag zuvor durchquert hatte, um zum Treffpunkt für den Festumzug zu gehen. Im nächsten Augenblick dachte ich daran, wie ich in der Klassenarbeit vorhin als eine Rechtsform auch die Genossenschaften beschrieben hatte.
Gegenüber tauchte das Lattenzaun-Holztor vom Rugiagrundstück auf. Für einen Augenblick war danach der schmale, schattige, Gras bewachsene Weg entlang der Westseite des Vereinshauskinos zur Rugenbude zu sehen. Beim Anblick des Gebäudes dachte ich wieder daran, wie ich im Sommer einen Artikel über die Geschichte der Studentenverbindung geschrieben hatte. Ich erinnerte mich, wie ich unter anderem erwähnt hatte, dass das Gebäude von dem bekannten niederösterreichischen Barockarchitekten Johann Jakob Prandtauer errichtet wurde. Dass es deshalb auch Prandtauerstöckl genannt wurde. Und dass es in der Vergangenheit lange Zeit als Zehentschreiberstübchen gedient hatte.
Kurz darauf zweigte ebenfalls rechts die Wieden mit ihren niedrigen Bauernhäusern ab.
Die Taberngasse auf der rechten Seite tauchte auf. Ein Stück weiter auf der gleichen Seite erschien zur selben Zeit bereits die Rückfront der Volksbank.

Kapitel 39. 2. 9.: In der Znaimerstraße

Nur wenige Augenblicke später waren wir am vorläufigen Ende der Pfarrgasse angekommen. Direkt vor uns erstreckte sich horizontal verlaufend die Znaimerstraße. Mit ihr entlang ihres Randes die alte Wasserabflussrinne aus den Schattauer Ziegeln.
Wir bewegten uns in rechter Richtung auf den Eingang des "Poseidons" zu. Die Znaimerstraße war in dem Moment bis zum Ortsende hinunter fast völlig verkehrsfrei.
Unbewusst sah ich zu dem vertikal über der Tür stehenden Ladenschild des Cafés empor. Am Himmel weit dahinter zogen in dem Moment gerade ein paar Wolken vorbei. Der Form nach waren es dieselben, die kurz zuvor über dem Manhartsberg erschienen waren.

Kapitel 39. 3.: Im Café "Poseidon"

Wilhelm öffnete die Tür. Zuerst trat er ein, nach ihm Johannes, danach Cornelius, zum Schluss ich.
Der kleine, längliche Vorraum tat sich auf. Am hinteren Ende befanden sich gerade ein paar Männer an der Theke und tranken etwas. Auf gleicher Höhe hinter der Theke stand die Wirtin und sortierte Gläser ins Regal. "Griaß Eich", rief sie uns zu, als sie uns bemerkte.
Wir gingen in Richtung Wintergarten. Direkt an der Tür zog das kurze Eisbuffet an uns vorbei, gefolgt von dem sehr viel längeren Kuchenbuffet. Alle möglichen Sorten standen wieder darauf ausgebreitet: Punschkrapfen, Spritzgebäck, Rolle, Linzer, Cremeschnitten, Erdbeertorte, ...
Nacheinander betraten wir den Wintergarten. An der Wand gleich rechts neben dem Eingang tauchte wieder der Plattgoldrahmen mit der Reproduktion des Gustav-Klimt-Gemäldes "Der Kuss" auf.
Wie üblich um diese Tageszeit war der Wintergarten nicht besonders voll. Ein paar Arbeiter aus der Reparaturwerkstatt des Fiathandels ein paar Häuser weiter die Straße hinab aßen Mittag. In der hinteren Ecke der linken Wand saß, hinter der Zeitung versteckt, ein Mann, der den "Standard" las. Ansonsten war der Raum leer.
Wir nahmen unsere Rucksäcke ab und stellten sie an den Rand der Säule, damit niemand darüber fiel. Danach setzten wir uns wie gewohnt an die zwei Tische in der Mitte. Ebenfalls wie gewohnt knarrten die Korbsessel beim Hinsetzen.
Auch draußen im Hof saßen Gäste, wie ich in diesem Augenblick feststellte. Überall an den Tischen im Freien waren die Sonnenschirme aufgespannt worden. Wie schon beim letzten Mal waren es wieder die mit dem Werbeaufdruck der Alt-Wiener Traditions-Kaffeerösterei Santora. Es war das gleiche Logo wie auf den Kaffeetassen und der Leuchtschrift an der Vorderfront des Gebäudes zur Znaimerstraße hin.
An dem Gebäudeteil an der Ostseite des Hofes begann sich der Wilde Wein, der dort fast alles zugewachsen hatte, allmählich rötlich zu verfärben.
Die Wirtin erschien neben uns. "Woas deafs zum Trinkn sein?" fragte sie.
"An valengatn Braunen", kam es von Wilhelm.
"A Tonic", antwortete Cornelius.
"I nimm a Sprite", schloss sich Johannes an.
"Das Übliche", bestellte ich wie immer eine Tasse Melange.
Nachdem die Wirtin wieder verschwunden war, fragte Willhelm: "Wie isses 'n eich eigentli goanga bei da Schuioabeit?"
"I glaab, 's meiste hoab i gschriabn, vuan dem, woas im Buach gstoandn ist", antwortete Johannes.
"Bei mir war's ähnlich", berichtete ich als Nächster. "Bis auf die Ges. m. b. H's habe ich auch alles abgehandelt. Schlechter als eine Drei kann's nicht werden. Müsste mit dem Teufel zugehen."
Im Vorraum setzten in diesem Augenblick die prustenden und schnaubenden Geräusche der Kaffeemaschine ein. Ganz offensichtlich wurde mein Melange zubereitet. Die Geräusche mischten sich mit den Gesprächen, die im Vorraum zugange waren, und dem Klappern von Tellern. Aus dem Radio waren gleichzeitig, so wie meistens, Oldies aus den Fünfziger und Sechziger Jahren zu hören.
Mir gerieten die Aschenbecher auf dem Tisch ins Blickfeld. Auf einer Seite des Randes befand sich ein Werbeaufdruck für die "Wettpunkt"-Sportwetten-Annahmestellen in Wien. Die andere Seite dominierte eine Werbung für die Airport-Taxis am Wiener Flughafen. Für den Bruchteil einer Sekunde lösten die beiden Reklamen in mir wieder diesen diffusen Wunsch aus, nach Wien zu fahren, um mich irgendwo dort oder noch weiter weg herumzutreiben.
Neben dem Aschenbecher lag auf jedem Tisch auch eine Karte mit den hausgebackenen Pizzen. Ich nahm mir die von unserem Tisch zur Hand. Eine Sekunde später stellte mir die Wirtin die bestellte Tasse Melange auf den Tisch. Im nächsten Augenblick war sie schon wieder verschwunden, um die anderen Bestellungen zu holen.
Schnell schöpfte ich den Berg Sahne von der Oberfläche ab, bevor er von der heißen Flüssigkeit aufgelöst wurde. Als ich ihn schließlich entfernt hatte, befand sich auf dem Kaffee noch die unterste Schicht Sahne. Sie hatte sich bereits halb mit der Flüssigkeit verbunden und mit ihr zusammen eine cremige Schicht gebildet. Ich nahm den Zuckerstreuer von der Mitte des Tischs und schüttete eine gewisse Prise hinein. Danach begann ich mit dem Löffel umzurühren. Unterdessen bekamen auch die anderen ihre Bestellungen geliefert. Irgendwann konnte ich dann mit dem Löffel keine Zuckerkörner mehr auf dem Boden der Tasse ausmachen. Hernach nahm ich schließlich den ersten Schluck, welcher wie immer zu einem einmaligen Erlebnis wurde.

Eine unbestimmte Zeit war vergangen. Die anderen resümierten inzwischen über das abgelaufene Weinlesefest. "Wie schaut's eigentli aus mit de Zoahlungsmodoalitetn, woasses Honoroa vuan unsam Auftritt betrifft?" fragte Johannes Wilhelm.
"Ois i mit'm Piglmayr vuam Stodtoamt 'n Vatroag oagschlossn hoab, haum ma vaeinboat, doass ma 's Göd auf unsa Band-Konto bei da Volksbank iwawiesn kriagn." Er nahm einen Schluck und fuhr dann fort: "Un i darat a soagn, doass ma 's doa a easchtamoi loassn bei unsare oandan finaunziön Reservn. Fia den Foi, doass bei de Instrumente amoi iagnd a greeßere Soach zum Zoin is. I hoff, es seids doamit eivastoandn?"
Die anderen nickten. "Miass ma an AKM-Beitroag a zoin?" fragte ihn darauf Cornelius.
"Na, um Gebiahn un Oabgoabn kiammat si de Gmoa."
"Da ma groad iwa finaunziölle Dinge redn", ergriff Johannes wieder das Wort: "Hoast scho ungefeah a Oahnung, woas ma im Stoandl eignumman haum?"
Wilhelm schüttelte den Kopf. "Um dös hoab i mi nau iwahaupt net kiammat. I bin heit in da Fruh mitm Papa einegfoahn, wäü ea in Retz zum Tuan g'hoabt hoat. Doa samma doann ois Easchtes zum Cornelius goanga, haum uns 's Göd un de Listn mit de Toageseinnoahmn gebn loassn und da Papa hoats hamgfiaht. Iagndwoann in 'n nechstn Toagn tu i doann 'n Ist-Bestoand mitm Soll-Bestoand vagleichn un waun ois stimmt, zoahl i 's Göd auf de Kloassnkoassa ei. Un doann dazöh i a in da Kloass, woas außakumm'n is."

Kapitel 39. 4.: Heimweg durch das herbstliche Retz

"..."
"Na, un bei uns laaft jetz a scho de Weinlese auf vulln Tourn", wechselte Wilhelm das Gesprächsthema. "Hauptsoach, 's kummt heia net wieda a Gowada wie im letztn Joah. Doa samma knietiaf im Gaatsch gstoandn."
"Und vor allem heute sollte keines kommen", fügte ich an.
"A joa, ihr seids joa heit bei uns", erinnerte sich Wilhelm. Danach warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. "Zoi ma?"
Die anderen nickten. Wir standen auf, schoben die Sessel an die Tische zurück und warfen unsere Rucksäcke über die Schultern. In der Küche war gerade jemand mit Abwaschen beschäftigt, wie ich beim Aufstehen durch das Sprossenfenster sah.

Wir hatten draußen an der Theke gezahlt. Johannes blieb dann beim Herausgehen noch an der Eistheke stehen und rief den anderen zu: "Woats, i nimm ma no a Eis."

Wie immer hatte sich Cornelius bei der Fleischerei Hackl verabschiedet. Danach war er alleine durch die Taberngasse weitergegangen. Übriggeblieben von den neun Mann der deutschsprachigen Hälfte waren nun nur noch Wilhelm, Johannes und ich.

Gleich darauf kamen auch wir an der Taberngasse vorbei. Links in der Gasse tauchten die alten Mauern des Volksschulareals auf. Unmittelbar davor der Landheurige, der die gesamte linke Seite der kurzen Gasse einnahm. Cornelius befand sich schon auf der Höhe des Heurigeneingangs in der Mitte der Gasse. Vor ihm lag das unterirdische Gewölbe des Heurigen, das zu einem kleinen Teil aus der Erde herausragte. Ich erinnerte mich flüchtig, wie mich dieser Gebäudeteil irritiert hatte, als ich im Frühjahr 1993 zum ersten Mal in dem Heurigen war. Auf den ersten Blick wirkte er als ein etwa eineinhalb Meter hohes und ein Meter breites Hochbeet. Vor allem die gartenbeetartige Oberfläche mit Gras, Efeu und Sträuchern sowie die Bruchsteinmauer zur Taberngasse hin erzeugten diesen Eindruck. Das Fenster inmitten der Mauer wirkte da schon irgendwie deplatziert. Und umso erstaunter war ich dann, welch verhältnismäßig großes Gewölbe sich darunter auftat, als ich es betrat, um mich an einen der Tische in ihm zu setzen.
Links vom Eingang des Gewölbes saßen in dem schmalen Gartenlokalbereich zahlreiche Gäste. Die Vorgänge auf dem Gelände ließen sich von der Gasse aus jedoch nur schwer erkennen. Die engangelegten Latten im Zaun und die Bäume dahinter versperrten den Großteil der Sicht.
"Un denk auf des Notenbiachl, waunst heit auf Wien außefoahst", rief Wilhelm Cornelius nach. "Wo dös Gscheft is, hoab i dia eh bschriabn."
Cornelius nickte. Kurz darauf hatte er das Ende der Gasse erreicht, wo sie auf die Nordseite des "Goldenen Hirschen" stieß. Danach verschwand er nach rechts.
Geradeaus erschien die kleine ÖVP-Plakatfläche an der Ecke des jahrhundertealten Wirtschaftsgebäudes Ecke Pfarrgasse/Taberngasse. Vor dem Hintergrund einer Weingartenfotografie wünschte die Partei darauf Niederösterreich eine gute Ernte.
Dröhnende Maschinengeräusche drangen aus den darauffolgenden Mauern der Winzergenossenschaft, als wir auf der schmalen Pfarrgasse daran vorbeigingen. Ganz offensichtlich wurde dahinter wieder eine Ladung Weintrauben verarbeitet.
Gleich darauf sahen wir vom anderen Ende der engen Gasse her einen Traktor kommen. Wenige Augenblicke später fuhr er durch das Pfarrhoftor in Richtung der Arbeitsräume der Winzergenossenschaft. Dabei zeigte sich, dass sein Hänger voll mit Trauben beladen war. Über dem Tor erschienen wieder die verwinkelten und verschachtelten Dächer des Pfarrhofes und der Stadtpfarrkirchen-Turmspitze dahinter.

Auf der Höhe des Seitenausgangs der Stadtpfarrkirche sagte Wilhelm zu Johannes und mir: "So, oiso pfiat Eich". Damit ging er zu seinem weißen VW-Käfer. Während er die Tür öffnete, rief er mir noch zu: "Un mia sehn si doann heit Noachmittoag."
Danach stieg er ein und startete den Motor. Knatternd rollte das altmodische Fahrzeug davon.
"Liebst du mich?" fragte mich Johannes wieder einmal.
Ich antwortete ihm wie gewohnt: "Ich liebe und begehre dich und werde niemals einen anderen Mann lieben können als dich."

Auf dem Platz zwischen Kirche und Schulgelände war es inzwischen wieder still geworden. Sämtliche der noch eine Dreiviertelstunde zuvor anwesenden Schüler waren verschwunden.
Rechts zog das Stirnende des Kirchenparks mit der Stadtpfarrkirchenapsis vorbei. Links gegenüber das Haus von Englisch-Lehrerin Klammer.

Am Zebrastreifen angekommen, ließen wir zunächst ein paar Autos vorbei. Danach überquerten wir die Kirchenstraße und betraten die südlich abbiegende Wallstraße. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erschien das Wohnhaus der Sektkellerei-Unternehmer-Familie Richter. Mit ihm das überdimensionale Urbanus-Relief an der Fassade.

Wenige Augenblicke später überquerten wir die Schmiedgasse. In ihrem Inneren standen am linken Rand noch die ziehharmonikaförmige Straßenabsperrung sowie zwei Stoppschilder vom vergangenen Wochenende.
Im nächsten Augenblick fiel mir die lange Reihe von Traktoren auf der anderen Straßenseite auf. Vorbei an sämtlichen der Zweifamilienhäuser auf der linken Seite zog sie sich. Fast bis zum "Weinschlößl" hinunter am südlichen Ende der Wallstraße ging sie. Auf den Anhängern befand sich jeweils bis zum Rand eine Ladung gelesener Trauben. An der Spitze des Zuges startete gerade wieder einer der Traktoren den Motor. Er fuhr zum Eingang der Sektkellerei gleich neben dem Haus der Familie, um seine Trauben abzuladen.
Auf unserer Seite der Straße begann rechts von uns unterdessen der Steilteil des Stadtparks. Das kleine Granitwürfeltreppchen an seinem Anfang zog vorbei. Auf der linken Seite des Fußweges erschien gleichzeitig ein Pappkameradkoch. Aus Gründen der Standfestigkeit war er an einem der zahlreichen alten Bäume zwischen Fußweg und Straße befestigt worden. Wie sich beim Näherkommen herausstellte, machte er Werbung für das Schloßgasthaus. "Frischer Sturm. 50 Meter, dann links", stand mit Kreide auf der in die Figur integrierten Tafel, auf die er sich stützte.

Wir erreichten die ausgetretene Stelle vor dem Franzosenkreuz, an der wir jeden Tag erst noch eine halbe Stunden stehen blieben, ehe wir getrennt weiter nach Hause gingen. Als wir die Wölbung im Boden betraten, dachte ich wieder daran, wie wir die Stelle im April dieses Jahres "die Grube" getauft hatten. Denn mittags unterhielten wir uns an dieser Stelle meistens über Sex, Frauen und das ganze Drumherum. Das ging vom Mitteilen geheimer Exhibitionismus-Wünsche bis hin zu Spekulationen über die Beschaffenheit des Schamhaares von uns begehrter Frauen. In der Pubertät gehört Letzteres durchaus zu den essentiellen Fragen des Lebens. Und unserer Meinung nach hatte sich die Stelle im Boden durch das tiefe Niveau dieser Gespräche so weit abgesenkt. Ich dachte daran, wie Johannes beim Verabschieden schon öfters Sprüche getan hatte wie: Na, heit hoat si de Gruabn wieda um an hoalben Meta gsenkt, oder: Heit kenn ma oba groad nau so aus da Grubn auseschaun, waun ma si auf de Zechn stölln.
Johannes hatte inzwischen sein Eis zu Ende geleckt und aß die Reste des Waffelbechers auf.
Von unserem Standort aus konnte man über die Hecke des Schwimmbades auf der anderen Straßenseite hinweg sehen. Der Jahreszeit entsprechend lag es mittlerweile völlig verlassen da. Ich erinnerte mich, wie den ganzen Sommer über stets Hochbetrieb geherrscht hatte.
Auch der lang gezogene Parkplatz vor der Hecke des Schwimmbades lag größtenteils verwaist da. Gerade mal aus einem Auto stiegen ein paar Leute aus und gingen in Richtung "Weinschlößl". Die hohen, alten Linden und Kastanien auf dem Parkplatz verfärbten sich allmählich herbstlich.
Das Franzosenkreuz direkt hinter uns geriet mir wieder ins Blickfeld. Dabei erinnerte ich mich, wie ich vor einiger Zeit einen Artikel über seine Geschichte geschrieben hatte. Unter anderem hatte ich dabei erwähnt, dass das Denkmal 1811 über den Massengräbern der Napoleonischen Kriege aufgestellt wurde. Auch 80 Retzer waren in den Auseinandersetzungen damals gefallen. Verantwortlich für die Errichtung war der Retzer Bürgermeister Johann Köller, welcher sagenhafte 30 Jahre im Amt war. Ihm wiederum war die Köller-Gasse im Siedlungsviertel gewidmet.
Danach überlegte ich automatisch, ob ich daheim noch irgendwelche unaufgearbeiteten Pressesachen liegen hatte. Wie mir jedoch gleich darauf einfiel, hatte in der letzten Woche kein einziger Termin stattgefunden, der nicht in irgendeinem Zusammenhang mit dem Weinlesefest stand. Die nächste Ausgabe der Zeitung dürfte eine einzige Weinlesefest-Nachlese werden, nach dem, was Thomas so angekündigt hat, dachte ich.
Das einzige Material, das ich noch nicht verarbeitet hatte, waren ein paar der gemeindepolitischen Sachen, die ich von Dir. Piglmayr bekommen hatte. Das werde ich dann irgendwann in Ruhe in den nächsten Tagen erledigen, nahm ich mir vor.

An diesem Tag hatten wir in der "Grube" darüber gesprochen, wie das ist, in Gedanken an eine Bekannte zu wichsen.
Ich hatte damit begonnen, dass das mitunter ein etwas Eigenartiges Gefühl ist. Man denkt beim Wichsen an irgendein Mädchen oder eine Frau, die man kennt. Und zehn Minuten später trifft man diejenige dann live! Während im Hinterkopf noch der entsprechende Film abläuft …
Johannes meinte, dass es ihm auch schon so gegangen wäre. Und dass er dann jedes Mal das irrationale Gefühl habe: Die wissen das! Die wissen das!
Nach etwa einer Halben, Dreiviertel Stunde hatten wir uns verabschiedet. Johannes überquerte die Wallstraße in Richtung Siedlungsviertel, in dem er zu Hause war. Ich stieg wie jeden Tag den linken der beiden Wege empor, die mit dem Denkmal als Spitze v-förmig zum Stadtpark hinaufführten. Stück für Stück kam die Promenade mit der Kastanienallee, den Sträuchern, Rasenflächen und Holzbänken zum Vorschein. Am Rand der rechten Parkhälfte tauchten die Gärten der Lehengasse auf. Wie immer wuchs hinter ihnen mit jedem Schritt die Rathausturmspitze höher empor.
Ungefähr auf der Hälfte des Weges hörte ich Johannes' Stimme hinter mir. "Un steck dei Hoand net in de Eantemoaschin, waunst heit bei da Weinlese mithüfst. Wäü, sunst is' weka!", rief er mir von der anderen Straßenseite im Scherz hinterher.
Die Wegkreuzung vom kurzen Weg zwischen Wallstraße und Lehengasse mit dem Weg durch die Längenausdehnung des Parks folgte.
Nach nur kurzer Zeit hatte ich auch schon das ehemalige städtische Armenhaus an der Ecke Lehengasse/Stadtpark erreicht. Links tauchte der Gastgarten des Schloßgasthauses auf. Er war ziemlich voll besetzt mit Mittagstischgästen. Gesprächswirrwar, Essengeruch und Geschirrklappern mischten sich in der Luft.
Ich öffnete die Tür von unserem Haus, trat ein, schloss hinter mir und ging gleich links zur Stube hinein. Das Erste, was ich danach bemerkte, war die runde Glasplatte auf dem Stubentisch. Berge weißer und roter Weintrauben befanden sich auf ihr.

Kapitel 39. 5.: Fahrt nach Pulkau

Kurz nach dem Essen waren wir vor die Tür gegangen, um auf Wilhelms Mutter zu warten, die uns abholen sollte. Nach etwa einer Viertelstunde fuhr ein brauner Kleinbus durch die Enge zwischen Computerhandlung und Wiklickyhaus. Er hielt direkt auf den Parkplatz vor unserem Haus zu. Eine Frau mit brauner Pagenfrisur so um die 40 verließ das Fahrzeug. Sie sah ein wenig aus wie die deutsche Schauspielerin Christine Neubauer. "Grüß Gott!" rief sie uns von weitem zu. Und als sie vor uns stand, stellte sie sich vor: "I bin de Mutta vuam Wilhelm. I nimm an, Sie woatn auf mi?"
"Altrogge mein Name", stellte sich Mutter vor. "Das ist mein Sohn Christoph."
Nachdem wir alle im Auto Platz genommen hatten, brachte Frau Burgstaller zunächst einmal das Fahrzeug aus der Parkposition wieder heraus. Danach ließ sie ein von links kommendes Auto vorbei und bog dann in die Brunngasse ein. Als wir gleich darauf an der Druckerei Hoffmann vorbeifuhren, sah ich Thomas vor dem Tor stehen. Ich winkte ihm zu. Gleich danach hielten wir wieder kurz an, da die quer laufende Kremserstraße erreicht war. Mehrere Autos fuhren vorbei. Gegenüber am Beginn der Klostergasse wartete ein Gendarmerieauto, das gerade vom Posten losfuhr, ebenfalls darauf, in die Kremserstraße einbiegen zu können.
Wir fuhren vorbei am Modehaus Gründler auf der rechten Seite und der Blutplasma-Spendestation schräg gegenüber. Gleich darauf ging es links um die Ecke herum. Links zog das Babywarengeschäft neben der Spendestation vorbei. Rechts gegenüber das Eckhaus der Katholischen Frauenbewegungs-Vorsitzenden Friederike Koran, gleich danach das Nalbertor. Die EDV-Handlung Himmelreich an der Ecke zum Schloßplatz kam in Sicht. Sekunden darauf folgte die Rechtsabbiegung der Kremserstraße. Rechterhand tauchte die Fußpflege auf, links gegenüber die "Schlecker"-Filiale neben der EDV-Handlung. Dem Drogeriemarkt folgte der Stadtpark, mit dem das historische Viertel seinen schnurgeraden Abschluss fand.
Die Höhe des Sportwarengeschäftes, wo links die Bahnhofstraße abzweigte, war erreicht. Wir hielten zunächst wieder kurz an, da einige Autos vorbeikamen.
Der Kreuzung schlossen sich links das SPÖ-Gebäude und rechts die Roseggergasse an.
Auf der linken Seite folgte nicht weit auf das SPÖ-Gebäude die Abzweigung zur Puntschertstraße. Die lange Kastanienallee längs der Straße, welche sich bis zum Seeweg entlang zog, begann mit ihr. Hinter den Bäumen tauchte zunächst gleich nach der Puntschertstraße der Garten des Eich- und Vermessungsamtes auf. Neben ihm kam der Sparkassengarten. Ich erinnerte mich, wie ich in ihm im Juni anlässlich der Eröffnung der Weinwoche gewesen war. Die Johann-Liebl-Straße folgte, gleich darauf die Zahnarztpraxis von Dr. Widhalm.
Die Straßengabelung nach Obernalb und Unternalb lag vor uns. Wir fuhren in Richtung Obernalb weiter. Das Autohaus Lindenwein zog an uns vorbei. Gegenüber an der Straße nach Unternalb erschienen gleichzeitig die modernen Wohnblocks.
"Uns gheert a goanzes Netz vuan Weigertn, dös ungefeah a Kilometa vua Pulkau liagt", begann Frau Burgstaller ihren Betrieb vorzustellen. "Un doann haum ma no an Kölla in Haugsdorf. Der hoat da Famü vuan mein'm Moa gheert. Des G'lände hia in Pulkau a. I hoab a poa Grundstiacke in Zellerndorf, von wo i heastoamm, in de Ehe mit eibroacht. Etliches haum ma a no wehrend unsarer Ehe doazuakaaft.
Bissl woas vuan unsare Gruandsticke haum ma inzwischn a scho wieda vapoacht, wäu ma dös lengst nimma meah ois söba beoabeitn kennan.
Unsare Famü gheert zu de goanz wenigen Vulleaweabsbauan, de 's nau giabt in da Gegend hia. Dea Strukturwoandel is eigentli eascht in de letztn poa Joahzehnt so kumman. Nau vua ungefeah 30 Joahn hoats eigentli nua Vulleaweabsbaun gebn. I waaß nau, ois i nau klaa woa, haum de Kinda fia de Weilese sogoa 14 Toag schuifrei kriagt. Wäü ohne de Mithilfe vuan da goanzn Famü in oalle Betriebe warat doamois sunst de Eante vuan da hoalbatn Gegnd ausgfoin.
Unsa Betrieb is 1654 's easchte Moi dawähnt wuadn. Unsare Vuafoahn haum ziemli vü Schriftliches hintaloassn, drum wiass ma iwa unsare Famüliengschichte ziemli guat Bscheid. Ana is sogoa amoi Mozart gegniwagstoandn. Auf seina Reise noach Prag isser, oiso Mozart, a duarch Pulkau kumman."
"Es ist wirklich schön, dass wir mal bei so einer Lese dabei sein können", sagte Mutter darauf zu Frau Burgstaller. "Ich habe mir das schon immer mal gewünscht, auch schon zu DDR-Zeiten, wenn immer mal in alten österreichischen Filmen solche Szenen gezeigt wurden. Ja, und da Christoph mit Wilhelm so gut dran ist, habe ich ihn gebeten, in der Hinsicht mal was zu arrangieren."
"Un nechstes Joah kennans doann an Wei trinkan, am dem S' söba mitgeoabeit' haum."
Draußen zog unterdessen am rechten Straßenrand die lange Bruchsteinmauer der gleich hinter dem Ort beginnenden Weingärten entlang. Kurz darauf tauchte der direkt an der Mauer stehende, kapellenartige Bildstock auf halbem Weg vor Obernalb auf. Links sah man unterdessen von weitem Unternalb.
"Wauns jetz amoi retourschaun", begann uns Frau Burgstaller auf etwas aufmerksam zu machen, "hoat ma doa ane guate Sicht auf oalle zwa vuan de Retza Windmihl'n."
Wir drehten uns um. Es verhielt sich tatsächlich so. Obwohl einige Kilometer Luftlinie entfernt, konnte man beide der Mühlen sehr gut erkennen. Sowohl die mit Flügeln als auch die ohne.
Vor dem Auto erschien gleich darauf am linken Rand das kleine Holzwindmühlenmodell.
Der Ortsbeginn von Obernalb kam in Sicht. Rechts zog der auf dem Beginn eines Hügels gelegene Friedhof vorbei. Eine Vielzahl grauer und schwarzer Grabsteinmonolithen ragte knapp über die Mauer des Friedhofsgeländes empor.
Wir erreichten die Ortschaft. Nur kurz nach unserem Eintreffen tauchte auf der rechten Seite der Hauptstraße die Pfarrkirche Mariahilf auf. Ich erinnerte mich, wie ich im Verlauf des Jahres schon ein, zwei Mal zu einem Pressetermin im angrenzenden Pfarrhaus gewesen war.
Der Anger schloss sich an. An seinem Ende bogen wir nach links ab, vorbei am Dorfkaufmannsladen.
Kurz vor Ortsende verlangsamte Frau Burgstaller die Fahrt und kündigte uns an: "I muass nau schnö beim Kellner woas eikafn."
Nachdem sie den Satz beendet hatte, brachte sie den Wagen vor dem Privatbauernladen von Ortsvorsteher Kellner zum Stehen.

Nach etwa einer knappen Viertelstunde hatten wir die Fahrt wieder fortgesetzt. Weingärten zogen wieder zu beiden Seiten des Autos vorbei. Gelegentlich von Feldwegen durchschnitten, ab und zu auch von Bauminseln. Rechts tauchte etwas weiter hinten Obermarkersdorf auf. Knapp dahinter, schon auf der Anhöhe des Manhartsberges gelegen, Rosenau. Kurz darauf kam auf der gleichen Linie Waitzendorf in Sicht.
Auf der linken Seite des Autos erschien unterdessen der Pillersdorfer Hügelzug mit seiner ähnlichen Heidelandschaft wie der Retzer Gollitsch.
"Des doa is da Pillersdorfer Hiaglzuag", machte uns gleich darauf auch Frau Burgstaller darauf aufmerksam. "Auf eahm steht a so a ehnliche Koalvoarienbergploastikngruppe wie bei da Retza Windmihl. De is 1730 vuan dea hia in da Gegnd recht bedeitsoam'n Steinmetzschule Seer aus Eggenburg darichtet wurden.
In de friharen Joahhundate hoats hia in da Gegnd amoi so an Brauch gebn, doass de Leit net nua zu de Prozessionen doa higoanga san, wie heit a no, sundan a, waun iagnd a Gebet vuan eahna net in Afillung goanga is. Doann sans zu da letztn Stoation vuan de Ploastikn higoanga, zu dera, de woas zagt, wie da Jesus mit de zwa Vabrecha kreizigt wuadn is, haum Stanert gnumman un doamit auf de Figua vuan dem an'n uneinsichtign Vabrecha gschmissn. Drum is de Ploastik heit a in am ziemli desoloatn Zuastoand."
Unter dem Abhang des Manhartsberges erschien unterdessen Leodagger. Ich erinnerte mich, wie ich vor einiger Zeit mal gehört hatte, dass es das "Grinzing von Pulkau" genannt wird. Analog zu dem Ortsteil von Wien, der als die "Weinstube" der Bundeshauptstadt gilt.
"So, jetz samma glei doa", kündigte Frau Burgstaller an.

Kapitel 39. 6.: Ankunft im Weingarten

Eine kurze Weile darauf bog sie auf einen Feldweg ein, der rechts von der Landstraße abzweigte. Etwas holprig bewegte sich das Fahrzeug in das Innere der Weingärten hinein.
Nach einer gewissen Weile zogen am Fenster Reihen vorbei, in denen geerntet wurde. "Dös isses Grundstiackl vuan unsam Föhdnoachboan. Unsas kummt glei ois nechstes."
Gleich darauf brachte sie das Auto am Rande einer kleinen Waldinsel zum Stehen.
Ich öffnete die Tür, schob sie zur Seite und stieg aus. Etwa 20 Minuten hatte die Fahrt gedauert.
Ich sah mich um. Unzählige Reihen von Rebstöcken zogen sich aneinandergefügt am Weg entlang. Ihr Ende verschwamm irgendwo am Horizont. In vier von ihnen direkt vor uns wurde momentan gearbeitet. Immer je zwei Leser pflückten auf unterschiedlichen Seiten von je einer Reihe. Gleich darauf entdeckte ich an der von der Straße aus gesehen zweiten Reihe Wilhelm und seinen Vater. Beide trugen eine traditionelle blaue Weinbauernschürze.
"De oandan Leser san scho seit 'm frih'n Moagn doa, mit Ausnahme vuam Wilhelm halt", erzählte Frau Burgstaller.
Frau Burgstaller wies uns ein. "Nehmts eich doa jeda zwa Kiabl. Hoandschuach un a Schahr san scho herinnen in an'm vuan de zwa. Doann foangts bei dera Reih oa."
Am Kopfende der Reihe erschien eine lange Stange, auf deren Spitze horizontal ein kurzer Stab genagelt worden war als Sitzplatz für Greifvögel. Erste Anzeichen von Herbstfärbung zeigten sich auf den Blättern, erst dann bemerkbar, wenn man ganz nah an sie heranging.
Gleich darauf fiel mir auf, dass der Wein zwischen Drähten emporwuchs, die horizontal in zwei unterschiedlichen Höhen übereinander gespannt waren. In regelmäßigen Abständen waren sie verankert an einem dünnen, mannshohen, nicht entrindeten Rundholz. Wie ich gleichzeitig bemerkte, hatten die anderen Leser ihre Eimer alle an die Drähte gehängt, während sie schnitten. Ich hängte meine ebenfalls dran mittels der aus starkem Draht gebogenen Haken am Henkel, wofür die offensichtlich bestimmt waren. Danach zog ich mir die Handschuhe an und begann zu schneiden.

Kapitel 39. 7.: Bei der Lese

Mit der Zeit war es späterer Nachmittag geworden. Am Himmel waren inzwischen ein paar Wolkenfelder aufgezogen, die die Sonne jedoch nicht trübten. Am Boden unterdessen kam allmählich das Ende der für meine Begriffe sehr langgezogenen Rebreihe in Sicht. Erst kurz zuvor hatte Wilhelm den kleinen Steyr-Traktor mit dem Anhänger zum Traubenausschütten in meiner Reihe wieder ein Stück nach vorn gefahren, damit es die Leser mit ihren Eimern nicht so weit hatten.
Bei den Rebstöcken kam wieder mal eine Stelle, an der die Trauben stark mit den Weinranken verwachsen waren. Ich musste erst etliche Schnitte machen und einiges an Laub entfernen, ehe ich an die Trauben kam. Wie schon bei den vorherigen Stellen dieser Art waren darunter auch die Beeren an den Trauben extrem dicht zusammengewachsen.
Immer wieder kam während des Schneidens zwischen den Rebzweigen die Aussicht auf den Manhartsberg zum Vorschein. Immer abwechselnd, je nach Standort von mir, erschienen der Höhenzug oder das direkte Sonnenlicht, das durch das Laub schimmerte. Das Licht ließ dahinter optisch stets alles verschwinden. Etwas Wind kam auf. Das Laub begann zu rascheln.
Ein bisschen ist das alles hier wie in "Der mit dem Wolf tanzt", ging es mir durch den Sinn.
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, war bei mir auch schon die Titelmelodie im Kopf präsent.
Wieder waren bei mir zwei Eimer voll geworden. Ich nahm sie von den Drähten ab und ging mit ihnen das Stück Weg zum Traktor hinab. Unterwegs zog vor dem Kamm des Manhartsberges der Schafsberg am Ortsrand von Waitzendorf mit der Europawarte vorbei. Ich erinnerte mich, wie ich schon ein paar Mal gehört hatte, dass man von der Spitze der Aussichtswarte aus nach der einen Seite ins Weinviertel und nach der anderen Seite ins Waldviertel blicken konnte.
Kurz vor dem Traktor stand Wilhelm vor der Reihe und hielt ein schmales, fingerlanges Gerät gegen das Licht. "Was machst du denn da gerade?" erkundigte ich mich.
"I tua 'n Zuckag'hoit vuan dera Reihn iwapriafn", erklärte er mir. Kurz darauf zeigte er mir das Gerät und sagte: "Dös is a Refraktrometer. Doamit stöllt ma 'n Ghoit an soagenoanntem Invertzucker im Traubnsoaft fest. Dös kloappt ma auf", er demonstrierte es mir, "träufelt a bisserl Soaft aus ana Beere eina, hoit's gegn 's Liacht und ma siacht 'n Zuckaghoit. De Moaßeinheit doafia san Klosterneuburger Mostgrade. Wie da Noame scho soagt, is de Moaßeinheit in Klosterneuburg bei Wien entwickelt wuadn. 's giabt oandre Systeme a no. In Westeestreich, in Deitschloand un da Schweiz wiad in Grad Öchsle gemessn; doa liagn goanz oandre Zoahlnweate zugrund. Im Osten vuan Eestreich un a in aanign oagrenzendn ehemoalign Ostblockstoatn san hoalt de Klosterneuburger Mostgrade ieblich, wäü Klosterneuburg in da Vagoangnheit fia den Täül vuan Europa amoi so ane Oat Zentroale fia Weinbau woa. Dös woas ma heit auf Neideitsch 'Think Tank' nennt, de Rolln hoat Klosterneuburg in da Vagoangenheit amoi fia den Loandstrich gspüht. Un drum haaßt dös so.
Un waun ma de Groade amoi festgestellt hoat, koa ma doaraus doann, un dös is da eigentliche Sinn vuan dea goanzn Gschiacht, duarch Multiplikation mit Nullkommasechs 'n Oalkoaholghoit in Volumensprozent ausarechna."
Ich ging die paar restlichen Schritte zum Hänger und stieg auf die Trittfläche an der Rückfront. Danach schüttete ich zunächst den einen Eimer aus, dann den anderen. Wie jedes Mal, wenn ich das tat, glänzte der Berg Weintrauben in der Nachmittagssonne.
Nachdem ich wieder zu meiner Stelle zurückgekehrt war, hängte ich die Eimer wieder an die Drähte und machte weiter.
Plötzlich war ein Mädchen inmitten der zwei Rebenreihen aufgetaucht und bewegte sich auf uns zu. Vielleicht 17 oder 18 Jahre mochte es alt gewesen sein. Es schien nicht zum Lesen gekommen zu sein. Die Jeans und die schwarze Lederjacke, die es trug, wirkten dafür zu gut angezogen. Auch die Art, wie sie ihr hüftlanges Haar nach hinten gekämmt unter einem weißen Haarreifen trug, deutete nicht darauf hin. "Doa kummt mei Tochter Magda", erklärte Frau Burgstaller Mutter und mir. "Sie is heia so im Matura-Stress, doass i ihr gsoagt hoab, doass sie amoi net mitoabeitn brauch bei da Lese. Mia schoaffn dös a scho alanich."
"In was für eine Schule geht sie denn?" erkundigte ich mich.
"Ins Gymnasium in Hollabrunn."
Nach dem anschließenden Miteinanderbekanntmachen durch ihre Mutter reichte sie schließlich auch mir die Hand. Dabei sah sie mich auf eine nicht erklärbare Weise irritiert und verunsichert an. Etwas merkwürdig, dachte ich, beschäftigte mich aber nicht weiter damit.
Dafür ging mir ihr äußeres Erscheinungsbild nicht mehr aus dem Kopf. Ihre tiefblauen Augen, die auf den ersten Blick so gar nicht zu ihrem schwarzbraunen Haar passten und die ihr dennoch oder gerade deshalb ein überwältigendes Aussehen verliehen. Ihre spartanische, schulmädchenhafte Aufmachung, die sie dadurch erst recht sehr weiblich wirken ließ.
Nur wenige Augenblicke später war sie schon wieder verschwunden, genauso geheimnisvoll, wie sie auftauchte.

Auf einem kleinen, leicht hügeligen Wiesenstück inmitten der Weingärten hatte Frau Burgstaller zur Arbeitspause gerufen. Zwei Flaschenkisten standen dort bereits auf dem Boden. Ich zog die Handschuhe aus und legte sie zusammen mit der Schere ebenfalls auf dem Boden ab.
"'s giabt an Most un an Stuam", rief Frau Burgstaller. "I geh zerscht mitm Most rum."
Ich schüttelte den Kopf, als sie mit der Flasche vor mir auftauchte. Ich hatte beschlossen, auf den Sturm zu warten.
Schließlich bekam auch ich etwas ins Glas. Als dann alle versorgt waren, erhob Frau Burgstaller ihr Glas und brachte einen Trinkspruch aus. "Oiso, auf die heirige Eante!"
Ich trank mein Glas darauf in einem Zug leer, da ich vom Schneiden ziemlich durstig geworden war.
Rasch begann das Getränk die mir schon bekannte euphorisierende Wirkung zu entfalten.

Frau Burgstaller hatte von der Wiese aus die nächsten Reihen zugeteilt. Als die anderen Leser die Arbeit wieder aufgenommen hatten, sagte Wilhelm zu mir: "Waunst wüst, zaag i dia jetz amoi de Ausdehnungen vuan unsare Lendareien."
"Gerne, würde mich sehr interessieren."
Er ging daraufhin in eine bestimmte Richtung, ich folgte ihm.

Eine Weile später blieb er auf einem etwas höher gelegenen Feldweg stehen. Er streckte den Arm aus, machte eine Drehbewegung und erklärte: "Ois, woas d' hia sigst, gheert uns. Mia sans 's greeßte Weingut in da Gemeinde un driwa hinaus aans vuan de Greeßten im goanzn Pulkautoi. Vua oallm in de letztn fuffzg Joah haum ma ziemli vü oan Land doazuagwunnan. Imma, waun klaanare Famülienbetriebe aufgebn haum, wäü ses si nimma meah glohnt hoat, haums foast imma oan uns vakaft. Un mia woan mit aane vuan de easchtn, de biologisch produziert haum.
Ois, woas ma hia siecht, san de Weißweinlagen. Doa wachst da Neuburger, doa da Grüne Veltliner, doa da Gelbe Muskateller.
's meiste vuan oim hia is Weißwein. Eestreich gheert a gsoamteiropäisch betroacht zua de Weißweinlenda, oalladings scho ziemli oan da Grenz zua de Rotweinregionen. Da Untaschied liagt, wie du da sicha denkn wiast, in de klimoatischn Vahöltnisse. Weine aus Gebietn mit ana geringaren jeahlichen Sunn'nscheindaua un doahea kiazara Vegetoationszeit zeichnen si duarch a bsundas feines Bukett aus, san owa a bisserl seialicha un oalkohoieama. Dös Klima is fia Weißweine g'eignet. De meistn Weine hiazuloand san döshoib a Weißweine, ungefeah 83 Prozent.
In sunn'nreichen Gebietn un bei lengara Vegetoationszeit nimmt da G'hoit da Weine oan Oalkohoi und Foabstoffn zua, un da Seiregehoit in da Regel oab. Dös san de kloassischn Rotweinoanbaugebiete. A poa Rotweine haum mia hia a oangebaut, wo 's vuan da Loage hea ginstig is." Er zeigte in eine Vielzahl von Richtungen. "De woachsn doa weita hint", fügte er an.

Nachdem wir ein Stück weitergegangen waren, zeigte Wilhelm auf den Beginn der Rebenreihen und meinte: "So a Soach, de i mia seit aniger Zeit vustöll, warat, doass ma vua a jede Rebnreihe an Rosenstock pfloanzn. A Rosn möldet nämli 'n Mehltau. Fria hoat dös a jeda gmoacht. Dös is nua in Vagessnheit g'roatn."
"Das kenne ich auch. Wir hatten an unserem Haus in Deutschland auch ein paar Weinstöcke, allerdings nur zur Verzierung. Die Ausbeute war so gering, dass es im Herbst für ein paar Küchenschüsseln voll zum Essen reichte. Jedenfalls kann ich mich noch erinnern, wie meine Großmutter immer gesagt hat: Die Rosen sehen so komisch aus. Wir müssen den Wein schwefeln. Als Kind habe ich mich immer darüber gewundert, weil ich nicht kapiert habe, wo da ein Zusammenhang bestehen soll."
Wilhelm sah mich ganz überrascht an und meinte spontan: "Guat, doass i dös waß. I hoab nämlich scho amoi mit a poa Leit hia doariwa g'redt, oab ma dös net in am greeßeren Rahmn wieda eifiahn kenntat. Wäü, i denk ma, fian Tourismus warat dös afoch gigantisch. Dös is a g'ringa Aufwand un jedes Joah vuam Frihsumma bis zum Heabst schee zum Oaschaun. – De haum mi oagschaut, ois oab i a bisserl deppat warat. 's nechste Moi wea i eahna soagn, dös kennans sogoa in ana Gegnd in Deitschloand, in dea 's goa ka richtign Weinbau giabt."
Im Gehen zeigte Wilhelm auf einen gelbgrauen, sehr krümeligen Boden und erklärte: "Dös san Beeden, wie man se si ois Baua winscht. De ideoaln Bedingungen fia Weinbau san Löss-Lehm-Beeden, a jeahliche Sunnscheindaua vuan 1900 Stunden und a duarchschnittliche Summatemperatua vuan 20 Groad Celsius.
Un de Stöll hia is a a guates Beispüh doafia, woarum Weine bvuazuagt oan Hangloagn gpfloanzt wean. De koide Luft koa doa nemli noach unten hi oastremn un de Sunnstroahlung wiakt bsundas intensiv."
"Mal ein ganz anderes Thema. Ich habe dich noch nie gefragt, was du eigentlich nach der Schule machen willst, fällt mir gerade ein."
"Zerscht moach i 's Bundesheer, un doann steig i in 'n Betrieb mit ei. Un meine Äütan haum mia a scho a poa Moi gsoagt, doass s' mia n' Hof recht boid iwaschreim woin, waun i mi in de nechstn Joah net groad deppat oastöll. Se haum gmaant, dös is eahna de Soach weat, wauns so dofia soagn kennan, doass da Betrieb in meina Generation weitagfiat wiad.
Oiso, mei Schwesta deafat genauso mitmoachn, waun sie Intaresse hett, oba sie hoat scho relativ fruh durchblickn loassn, doass sie späta amoi in Wien oabeitn mechat un iba ihre beruflichen Kontakte 's Weingut untastitzn wü. Drum wead i amoi 'n Hof iwanehman.
I hoab ma a scho aaniges vuagnumman fia de Zeit, wauns amoi soweit is. Zum Beispüh mechat i vasuachn, doass ma unsare Wiatschoaftsweis nau a bisserl weita auf ekologisch umstöhn, obwoi ma doa a jetz scho goanz guat untawegs san. Un iagndwoas in Richtung Tourismus darat i a gean moachn, wäü, de Zukunft in unsam Geschäft wiad genarell a Mischung aus Loandwiatschoaft und Tourismus sei. Den kloassischen Ackerbauern wiads boid nimma meah gebn."
"Willst du den Betrieb eigentlich nur aus Tradition weiterführen, oder interessiert dich das auch selber?"
"Waun an'n dös net wiakli intressiert, deaf ma si dös net oatun. Dös warat fia an'n söba net guat un oam oallawenigstn fia 'n Betrieb. Fia den meadarischn Beruf muass ma geboan sei, ansunsten poackt ma dös auf de Daua net. Wäü, dös is net so romantisch, wie 's vuan da Weitn ausschaut.
Da Papa zum Beispüh is jemand, dea iagndwie dofia gschoaffn is. Waun ea zum an'n amoi vuan Haus aus net so ruhig und ausgeglichn warat und doann dös net wiakli aus Iwazeigung moachn darat, gangat si dös energiereservenmäßig nie aus, woas ea so im Stilln Toag fia Toag fian Betrieb ois leist. Waun ma si nua oaschaut, woas ea fias Moaketing ois tuat. Allanich heia zum Beispüh is ea scho mit da Boahn auf Hamburg, auf Dänemark un auf Norwegen gfoahn, um neiche Gscheftsvabindungen herzumstölln. Un noach Budapest wü er a nau. Jeda oandare warat doabei scho lengst zsammbrochn."
Kurz darauf folgte ein leerer und umgeackerter Feldstreifen. "Den haum ma heia rodn loassn. De Rebn hoattn a Oida erreicht, in dems proaktisch kane Traubn meah troagn haum."
"Wie lange hält denn eigentlich so ein Rebstock?"
"Rebsteck an sich kennan 30 bis 40 Joah oid werdn, un eantn koa ma ungefeah 25 bis 30 Joah vuan eahna."
Ein Weißweinstock zog vorbei, bei dem durch Hageleinschlag sehr viele Blätter vernichtet worden waren. "Doa is vull vü Bloatweak hinnich wuadn. Dös is net guat fia de Quoalität", kommentierte Wilhelm den Anblick.
"Ich dachte immer, zu viele Blätter saugen die Energie aus der Pflanze."
"Beim Rotwei stimmt dös, oba beim Weißwei is dös onnasch. Je meah Blätta ea hoat, umso meah geht in de Traubn oan Nährstoffn eina."
Gleich darauf kamen wir an einem völlig zerfetzten Rebstock vorbei. "Den hoat da Blitz gestraft, dea is hinnich."
"Gestraft?"
"Gestreift, getroffen."

Irgendwann später hatte Wilhelm wieder den Rückweg angetreten zu der Stelle, an der sich die anderen befanden.
"Woas i di scho lenga froagn woitat", begann er offensichtlich das Thema zu wechseln: "Mia woin demnechst amoi an klan'n Betriebsprospekt druckn loassn, wo ma 's Weigut a bisserl näher vuastölln. Dös soi a vuan da Quoalitet hea a bisserl woas hechaweatiges sei, oiso hoit Foabdruck un doass ma vüle Aufnoahmn vuam Betrieb siecht. Un doa woitat i di froagn, oabst uns de Aufnoahmn doafia moachn kenntatst. Mia zoin dia a a Honorar dofia."
"Jederzeit gern. Und was das Finanzielle betrifft, so würde ich mich auch mit einer 'Zahlung in Naturalien' zufriedengeben, falls du verstehst, was ich meine ..."
Wilhelm lachte. "Joa, joa, i vasteh scho."
Der Altrogge-Stil ist scheinbar gefragt, was Medientätigkeit jeglicher Art betrifft, dachte ich.

Kapitel 39. 8.: Ende der Arbeit auf dem Feld

Unmerklich war es Abend geworden. An einem unbestimmten Zeitpunkt hatte Frau Burgstaller die Tagesarbeit schließlich für beendet erklärt und die Arbeiter von überall zusammengerufen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, da ich keine Uhr bei mir trug. Kurz darauf hatte ich meinen letzten Eimer Trauben auf den Hänger geschüttet. Danach war ich mit ihm zurück zu dem Feldweg gegangen, auf dem der Kleinbus stand.
Am Horizont stand die mittlerweile glutrote Sonne als riesiger Feuerball über dem Manhartsberg. Der Himmel dahinter zeigte sich in Pastelltönen von Rot über Rosa bis Gelb. Der Manhartsberg hatte inzwischen eine dunstige graugrüne Farbe angenommen. Als kleiner schwarzer Strich auf dem Kamm des Berges erschien vor dem roten Himmel die Europawarte Waitzendorf.
Direkt hinter mir erstreckte sich entlang des Feldweges das kleine Waldstück, an dem wir auf der Hinfahrt gehalten hatten. Kastanien lagen davon auf dem Weg verstreut. Teils in der Schale, teils zur Hälfte in der Schale, teils ohne Schale; auch dementsprechend viele leere Schalen lagen da.
Frau Burgstaller wandte sich an Mutter und mich. "I foah jetz easchtamoi unsare Oabeita zu eahnan Autos. Sie zwei haum doann eh no a bisserl Zeit, doass S' nau mit z' uns kumman?"
Wir nickten.
Nach und nach kamen alle von den anderen Lesern zusammen, verstauten ihre Werkzeuge in einer Ecke des Wagens.
Als schließlich alle eingestiegen waren, ging es schaukelnd den Feldweg zurück.

Kapitel 39. 9.: Daheim auf dem Bauernhof

Die Fahrt endete vor einem Gehöft am Rande des Ortes, nicht weit vom Beginn des Waldes entfernt. Frau Burgstaller parkte das Auto längst der Vorderfront des Gebäudes neben einem ziemlich großen Holztor. "I loasses Auto glei hia stehn, fois mei Moa heit nau amoi mitm Troaktoa wegfoahn wü", erklärte sie uns. Danach schnallte sie sich los, öffnete die Tür, stieg aus und zog die Schiebetür neben uns zur Seite. Damit konnten schließlich auch wir als Letzte von den Lesern des Tages aussteigen.
Frau Burgstaller ging zu dem Tor, öffnete einen Flügel davon und schob ihn nach hinten.
Ein mittelgroßer Bauernhof tat sich auf. Einige Gebäude auf ihm waren ganz offenkundig früher einmal Ställe für Tiere gewesen. Dann folgten einige Gebäudeteile, deren Zweck auf den ersten Blick nicht erkennbar war. Als Letztes fiel mir ein langgezogener Wohntrakt auf der rechten Seite auf.
In der Mitte des Hofes standen Wilhelms weißer VW-Käfer und ein brauner Mercedes. An einer anderen Stelle des Geländes spielte Magda gerade mit dem Hund.
Wenige Augenblicke später tauchte Wilhelm auf. "Waunst wüst, zaag i dia jetz amoi 'n Kölla, doamit's d' sigst, woas mit de Traubn weita gschiacht."

Bürgerreporter:in:

Christoph Altrogge aus Kölleda

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

39 folgen diesem Profil

4 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.