Wortloser Beifall und eine Umarmung tun einfach gut

Aufbruch zum Spaziergang beim Rollentausch
  • Aufbruch zum Spaziergang beim Rollentausch
  • hochgeladen von Ruth Niemetz

Der Tag begann um halb acht mit der Begrüßung in der Wohnung. Ein größerer Teil der Frauen brach anschließend zur Arbeit in die Werkstätten auf, der kleinere Teil machte es sich erst mal auf den Sofas gemütlich, denn der ungewohnte Tagesablauf mit einem Gast in der Wohnung musste ja zunächst geplant werden. Ich lernte die einzelnen Bewohnerinnen erst mal näher kennen, sie zeigten mir ihre Zimmer, ihre Bilder und ihre persönlichen Dinge, die in den ansonsten fertig möblierten Räumen eine persönliche Aura schaffen, und ich erfuhr von ihrem normalen Tagesablauf und ihrer gewohnten Hausarbeit, die sie mit viel Hingabe und peinlichster Genauigkeit verrichten, soweit es ihnen eben selbst möglich ist. Das reicht vom Saubermachen (es gibt kein Putzpersonal mehr in den Wohngruppen in Ursberg) bis zum Bügeln.
Wer nicht in die Werkstatt gehen kann und nicht zur Hilfe im Haushalt fähig ist, wartete geduldig auf den Spaziergang. Vorher mussten aber noch die richtigen Schuhe auf die richtigen Füße gebracht werden, die Anoraks mussten verschlossen werden, und die Schals um den Hals gewickelt werden. Für all diese uns geläufigen Dinge sind einige der Frauen auf Hilfe angewiesen. Auf dem Weg durch den herbstlichen Park trafen wir auf andere Gruppen, man grüßte sich als alte Bekannte und erkundigte sich nach dem Befinden.
Nach der Rückkehr erwartete man bereits die Werkstattgängerinnen zur Mittagspause. Es gab wiederum erneutes „Hallo“ und Beschnuppern des Gastes. Das Mittagessen musste nun auf die Teller verteilt, die Schnitzel klein geschnitten, die Gläser befüllt werden. Dann ein Tischgebet. Einige wenige Frauen mussten aufgrund ihrer Spastik gefüttert werden. All das verbunden mit gelegentlich umgestoßenen Getränken, Speisen auch mal neben den Tellern, aber in fröhlicher Stimmung.
Ein normaler Tagesablauf? Ich denke nicht, denn ich war durchaus ein Fremdkörper in der Gruppe. Eine Erfahrung für mich? Auf jeden Fall. Dort erst erlebte ich, wie es ist, wenn man stundenlang zu nichts anderem mehr kommt, als die Toilette nach zu putzen, die immer gleichen Fragen zu beantworten, den Speichelfluß regelmäßig abzuwischen, und das mit bewundernswerter Gelassenheit der Betreuer; wie es ist, einer erwachsenen Frau das Essen in den Mund zu löffeln, ohne zu wissen, ob ihr das Essen nun schmeckt oder nicht.
Es hat ihr geschmeckt, aber das habe ich erst am Schluss erleben dürfen, als sie mir auf ihre Art ohne Worte durch Händeklatschen ihr Wohlbefinden signalisiert hat. Der Abschied war ebenso bewegend, als mich die Frau, mit der ich Hand in Hand eine Stunde lang durch den Park gegangen war, fest umarmt hat.

Bürgerreporter:in:

Ruth Niemetz aus Günzburg

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