Ehemalige Zwangsarbeiter in der Ukraine - Teil 1

Galina Wassiliewskaja, geb. 4.11.1930, deportiert im Alter von nicht ganz 12 Jahren
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Bei den Besuchen ehemaliger Zwangsarbeiter in der Ukraine fiel mir auf, dass zum Zeitpunkt der Deportation keiner der 24 Betroffenen älter als 20 Jahre war. 3 Personen waren in Deutschland geboren worden, weitere 7 Personen befanden sich zwischen dem 3 bis 13 Lebensjahr. Würden sie eingeladen werden, kämen sie alle gerne nach Augsburg zu einem Besuch.

Lubov Sochka von der ukrainischen Stiftung „Erinnerung und Verantwortung“ erzählte mir, dass die Kinder von Zwangsarbeitern lediglich durch die Öffnungsklausel der ukrainischen Stiftung in den Genuss von 498 Euro „Entschädigung“ gekommen waren, sofern sie einen Antrag gestellt hatten. Dies wiederum geschah auf Kosten der anderen drei Entschädigungsgruppen (KZ-Häftlinge, Industriearbeiter, Landwirtschaftliche Arbeiter). Auch die letzte Gruppe war auf Kosten der anderen beiden „entschädigt“ worden. Man stelle sich vor: 498 Euro für drei Jahre Zwangsaufenthalt im Lager, verlorene Geborgenheit und versäumte Kindheit und Ausbildung!

Es bedurfte bei mir keiner langen Überlegungen, diesem Personenkreis zu helfen, sofern sie in Augsburg und Umgebung gearbeitet bzw. gelebt hatten.

Am Donnerstag vor meiner Abreise traf ich mich mit 5 Personen in der Stiftung in Kiew: Herrn Genadi Tütajew, Frau Galina Wassilewska, Herrn Iwan Welitschko, Herrn Victor Orlow und Frau Katerina Beznikina

Herr Gennadj Tütajew ist am 5. August 1940 in Witewsk in Weißrussland geboren, er wurde im Alter von 3 Jahren zusammen mit der ganzen Familie nach Augsburg verschleppt, mit der Mutter, zwei Tanten sowie den Großeltern seiner Mutter. Die gesamte Familie arbeitet bei Messerschmitt, dort gibt es im Lager mehrere Kinder, seine Oma passt auf Gennadi auf. Das Lager ist mit Stacheldraht und Türmen umgeben, der junge Knabe kriecht einmal unter dem Zaun heraus. Die Wachen wittern eine Falle und sperren den 4-jährigen in den Keller, ein Wächter schlägt ihn auf den Kopf.
Erst auf Intervention der Insassen, die sich über die Behandlung des unschuldigen Jungen empören, wird Gennadi vom Lagerleiter wieder freigelassen. Aber seine Oma bleibt wegen unterlassener Aufsichtspflicht im Karzer.
Im April 1945 nach der Befreiung wird die gesamte Familie in ein Filtrierungslager in Ungarn gebracht, wo die Familie nach ihren Tätigkeiten in Deutschland befragt wird. Danach wird die Familie nach Weißrussland zurückgebracht. In den weißrussischen Archiven finden sich die Nachweise für die Familie. Ein Glück, denn wer für die Arbeit in Deutschland eine „Entschädigung“ erhalten will, muss den Nachweis selbst erbringen.

Victor Orlow, ist am 13. Januar 1944 in Augsburg geboren. Seine Mutter Papaskowia Orlowa , geb. am 23.Oktober 1923 und sein Vater (den Namen kennen wir nicht) wurden am 27.06.1942 nach Augsburg deportiert.
Victor ist seit Geburt geistig und körperlich behindert. Nach seiner Aussage mussten die Eltern in der Landwirtschaft in der Nähe von Augsburg arbeiten. Sein Vater ist 1983 verstorben. Die Mutter lebt noch, ist aber sehr schwer krank, so dass sie nicht mit Victor zur Stiftung gekommen ist. Ärztliche Hilfe wäre dringend vonnöten, aber die Familie schein sehr verarmt zu sein. Die Arzneien sind lediglich im Krankenhaus frei erhältlich, ambulant muss er dafür bezahlen. Arbeiten kann Victor nicht. Mutter Papaskowia und Victor sind auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen, sowohl finanziell wie ideell.

Galina Wassiliewskaja, geb. am 4.11.1930
Galinas Mutter wird am 15.05.1942 in Kiew bei einer Razzia festgenommen. Sie sagt aus, dass sie zuhause ein kleines Kind habe, deshalb wird sie nicht gleich deportiert , sondern darf ihre Tochter zuhause abholen. Am nächsten Tag wird sie aufgefordert, zur Sammelstelle zu kommen. Galina ist erst 12 Jahre alt, als sie mit der Mutter nach Augsburg kommt. In Dachau ist das Verteilungslager, von dort werden die Gefangenen auf die einzelnen Ortschaften verteilt.
In Augsburg arbeitet Galina in der Streichholzfabrik, ihre Mutter auch, aber in einer anderen Abteilung. Anfangs steht Galina am Fließband, am Nachmittag muss sie einfache Dinge erledigen und aufräumen.
Erna Bier ist die Frau des Direktors. Ihr gefällt das Mädchen so gut, dass sie Galina mit nach Hause nimmt. Künftig darf sie am Nachmittag bei Frau Bier arbeiten. Dort muss sie gänzlich unkomplizierte Arbeiten verrichten, schließlich ist sie ja noch ein Kind. Frau Bier zeigt ihr aber in der Freizeit auch Augsburg. Anfangs musste Galina das Ostarbeiterabzeichen tragen, aber als sie dann bei der Frau des Direktors arbeitet, darf sie das Zeichen abtrennen.
Nach Kriegsende wird Galina mit der Mutter wieder in die Heimat transportiert. Frau Bier kommt zum Abschied an den Bahnhof. Sie verspricht Frau Bier, ihr von der Ukraine aus zu schreiben. Sie hat heute noch ein schlechtes Gewissen, dass sie das nicht getan hat.
Nach ihrer Rückkehr verschweigt sie, dass sie in Deutschland gearbeitet hat, anderenfalls hätte sie keine Möglichkeiten erhalten, eine solide Ausbildung zu erhalten.

Katerina Beznikina, geb. am 1.09.1940
Katerina war zusammen mit ihrer Mutter in Augsburg, zuvor in Dachau, dann arbeitete die Mutter in München in der Rüstungsindustrie. Beide waren am 9.07.1943 nach Deutschland deportiert worden.

Iwan Welitschko wurde am 15. September 1943 nach Deutschland deportiert, zusammen mit der gesamten Familie. Seine Oma, seine Mutter, seine Schwester und er selbst. Die Schwester war gerade einmal 4 Jahre alt. Mit der Familie waren sie im Eisenbahndepot in der Bahnhofstraße 53 in Augsburg untergebracht, die Belege für sich und seine Familie erhielt er aus dem Stadtarchiv Augsburg. Iwan war gerade mal 11 Jahre alt, als er nach Augsburg kommt. Er wird von den Experten der Stiftung befragt, ob er habe arbeiten müssen. Nur hin und wieder habe er das Depot aufräumen müssen, erwidert er.
Für die ukrainschen Experten ist das die falsche Antwort. Er hat ohnehin keinen Antrag auf Entschädigung gestellt, und als die Dokumente aus Augsburg kommen, ist es zu spät. Seine Berufung wird abgelehnt, und jetzt war er zu ehrlich, daher bekommt er dafür, dass er in Deutschland zwangsweise im Lager leben musste und keine Ausbildung erhielt, keinen Cent Entschädigung. Ist das gerecht?
Nach Deutschland kehrt er 1945 nur mit seiner Oma zurück. Die Mutter hat es vorgezogen, nicht in die Ukraine zurückzukehren und nimmt seine Schwester mit nach Australien. Er aber lehnt es ab, will in seine Heimat zurück. Hätte er geahnt, dass er verschweigen muss, dass er in Deutschland war, um eine Ausbildung zu machen , hätte er gewusst, welchen Pressionen seine Oma nach der Rückkehr ausgesetzt war, dann wäre er wirklich lieber mit der Mama nach Australien ausgewandert. Die Oma bekam keine Rente, so musste er schließlich bei einer entfernten Verwandten aufgezogen werden.
Ich übergebe Iwan das Geld, das meine Geschichtsklasse 7c für ihn gesammelt hat, gemeinsam mit einem Bild der Klasse. Iwan ist hocherfreut, die Tränen stehen im in den Augen. Sagen Sie viele liebe Grüße an Ihre Klasse, es ist wichtig, dass die jungen Menschen unser Schicksal nie vergessen! Spassiba! Die anderen anwesenden Opfer sind von der Initiative der Klasse 7c des Paul-Klee-Gymnasiums so gerührt, dass sie alle ein Photo von der Klasse haben wollen.

Bürgerreporter:in:

Dr. Bernhard Lehmann aus Gersthofen

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