Meine vierte Reise in die Ukraine im August 2007

Nina Roschtschina 1
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Meine 4. Reise in die Ukraine im August 2007 (Teil 1)

1. Roschtschina Nina, geb. Moskalenko, geb. am 19.12.1926; Arbeitseinsatz in Bobingen in der Textilfabrik

Nach einer 10-stündigen Nachtfahrt mit dem Zug – in der Ukraine wahrlich kein Vergnügen - kommen meine ukrainische Begleiterin Lubov Sochka und ich um 7.05 in Dnjepropetrowsk an, wo uns die Töchter von Frau Roschtschina bereits am Bahnhof in Empfang nehmen. Ihr Nachbar hat sich bereit erklärt, uns mit seinem Auto nach Pawlowgrad zu expedieren. Am Tag zuvor war es noch schwül und heiß gewesen, die Temperaturen hatten bis zu 34 Grad betragen. Ich bin froh, dass es über Nacht geregnet und abgekühlt hat.
Es geht an kilometerlangen Sonnenblumenfelder vorbei, die früheren Kolchosen sind mittlerweile alle an Aktiengesellschaften oder Molkereibetriebe übergegangen, auch ausländische Firmen haben Grund und Boden erworben. Kein einziges Feld ist kleiner als 3-4 qkm.

In Pawlowgrad wurde nach den Abrüstungsverhandlungen mit den Amerikanern der sowjetische Raketentreibstoff deponiert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wollten die Russen ihn nicht mehr übernehmen, so sitzt die Stadt Pawlowgrad buchstäblich auf einem Pulverfass.

Frau Nina Roschtschina ist eine stattliche, sehr rüstige und agile Frau Anfang der 80-er Jahre und wohnt im 4.Stock eines Blocks Marke sozialistischer Plattenbauweise. Wie bei allen Wohnsilos, die ich bisher besucht habe, ist auch dieser im Hausaufgang völlig verwahrlost. Seit Anfang der 90-er Jahre konnten die Wohnungen von den Bewohnern erstanden werden, es gibt auch eine Hausverwaltung, aber die unternimmt nur das nötigste. Es gibt kein Licht im Hausgang, die Wände sind verschmiert, die Farbe blättert von den Wänden, es ist sehr feucht, die Briefkästen sind aufgebogen, Namensschilder sind keine vorhanden, einen Aufzug gibt es auch nicht.
Hinter der mehrfach verriegelbaren Wohnungtüre kommt eine liebevoll renovierte Wohnung zum Vorschein. Die Qualität der Fenster, Fliesen und sanitären Anlagen sind schlichtweg inakzeptabel und so sehen die Häuserblocks aus den 90-er Jahren aus als seien sie aus der Vorkriegszeit.

Nina wurde im August 1942 von der einheimischen Polizei ein Gestellungsbefehl überbracht mit der Maßgabe, dass sie sich mit Proviant am Bahnhof einzufinden habe. So wird sie am 9. August 19423 gemeinsam mit Maria Lawrenko, Alexandra Bespjata und Iwan Sirenko deportiert und kommt nach Bobingen. Die Fahrt nach Deutschland dauert etwa 14 Tage, Partisanen hatten Brücken gesprengt, immer wieder kommt es zu Gefechten. Nach ihrer medizinischen Untersuchung und Quarantäne an der deutsch-polnischen Grenze werden sie als beliebige „Verfügungsmasse“ bei der Hopfen- und Kartoffelernte eingesetzt.
Woran kann sich Nina noch erinnern? In Bobingen arbeitete sie in einer zweistöckigen Textilfabrik, wie die andern ukrainischen Mädchen hatte sie das Garn aufzuspulen und in die Säure zu legen, dann wieder herauszuholen und trocknen zu lassen.
Mit ihren Landsleuten war sie in einem ca. zwei Kilometer entfernten Lager untergebracht, gemeinsam mit Franzosen und Russen, aber in jeweils getrennten Baracken. Auch ganze Familien wohnten dort. Jeden Morgen marschierten sie dann unter Bewachung in die Fabrik. Nina schätzt, dass etwa 300 Zwangsarbeiter in der Textilfabrik arbeiten mussten. In den Schlafräumen gab es 2-stöckige Pritschen, die Bettwäsche war aber sauber, es gab Decken und Kissen, um die 50 Mädchen schliefen in einem Raum. Nach Feierabend sangen die Mädchen oder lasen, aber es wurde auch viel geweint, das Heimweh war sehr groß. Briefe an die Familien durften sie nicht schicken.
Für ihre Arbeit gab es Lagergeld, mit dem sie zusätzliche Lebensmittel kaufen konnten. Gemeinsam mit den anderen Mädchen besuchte sie am Sonntag die Kirche, aber alle Deutschen blickten sich nach ihnen um und sie schämten sich mit ihrem Ostarbeiter-Abzeichen, das sie zu tragen hatten.
Sie erinnert sich noch an den Aufseher Johann, der recht nachsichtig mit den jungen Mädchen gewesen sei. Gegen Ende des Krieges seien sie über den Zaun gestiegen und von der Polizei ertappt worden, aber sie wurden dafür nicht bestraft.

Nach ihrer Rückkehr in die Heimat kann Nina nicht mehr Fuß fassen. Ihr fehlen einige Klassen für den Schulabschluss, so wird sie Verkäuferin. Alle UkrainerInnen, ganz gleich ob sie nun deportiert wurden oder sich freiwillig für einen Arbeitseinsatz in Deutschland gemeldet hatten (dies traf nur auf sehr wenige Personen während er ersten vierzehn Tage der deutschen Besatzung in der Ukraine zu), galten als Verräter, die häufig nochmals in der Heimat schwerste Arbeit zu verrichten hatten. Der Weg in führende Positionen blieb ihnen weitestgehend versagt. 1948 heiratet Nina. Sie hat 3 Töchter, die älteste lebt in Argentinien, die beiden anderen kümmern sich rührend um ihre Mutter.

Frau Roschtschina begleitet uns zu drei weiteren Personen, die mit ihr gemeinsam nach Deutschland deportiert wurden.

Iwan Sirenko, geb. am 4.04.1926; Arbeitseinsatz bei Bauer Zott in Adelsried

Seit zwei Jahren ist Iwan Sirenko verwitwet und lebt nun alleine in seinem kleinen Häuschen, in dem es keinen Wasseranschluss gibt.

Welch ein Zufall, welch ein Wink des Schicksals. Iwan wurde am 9. August 1942 nach Deutschland deportiert, er ist gerade einmal 16 Jahre. Am 9. August 1945 kehrt Iwan auch wieder in die Heimat zurück, auf den Tage genau. Und heute, am 9. August 2007 erhält er als späte Geste der Versöhnung Besuch von mir, 65 Jahre nach seiner Deportation!

Seine drei älteren Brüder befinden sich bereits an der Front, als die örtliche Polizei ihm seinen Gestellungsbefehl überbringt und mit der Ermordung seiner Eltern und mit dem Anzünden des elterlichen Grundstückes droht.

Nach medizinischen Untersuchung und Quarantäne in Dachau kommt er in ein Verteilungslager in Augsburg. Es geht zu wie auf dem Sklavenmarkt, die Jugendlichen werden „verteilt“. Niemand wählt ihn aus, so wird er einer Frau zugeteilt, die sich aber empört darüber zeigt, dass sie den schmächtigen 16-jährigen nehmen soll.
Schließlich nimmt ihn ein 55-jähriger Bauer, Matthias Zott. Sein Freund Ivan Osoka aus dem gleichen Ort kommt zu einem anderen Bauern und gibt ihm seine Adresse, aber die kann er nicht lesen, sie treffen sich erst nach dem Krieg wieder in Pawlowgrad wieder. Im Mai dieses Jahres ist Ivan verstorben.

Bauer Zott aus Adelsried (gleich in Autobahnnähe) hat bereits einen Polen und eine 18-jährige Westukrainerin als Helfer auf dem Bauernhof. Beide haben später ein Kind miteinander. Der Bauer behandelt Ivan recht gut , er findet sich schnell zurecht, die Westukrainerin übersetzt ihm, was er zu tun hat. Arbeit gibt es von früh morgens bis spät abends, es müssen täglich 17 Kühe gemolken werden und die zwanzig Ochsen und zwei Pferde sind auch zu versorgen. Die Nahrung ist einfach und wenig abwechslungsreich: Suppen, Kartoffeln, viel Kraut und Rüben.

Herr Zott und seine Frau haben 4 Kinder : Zotts 25-jähriger Sohn Michael ist an der Front, Sohn Hans fällt in Wassilkowskja ganz in der Nähe von Pawlowgrad. Sohn Georg ist 23, sodann ist da noch eine Tochter Marie. Der jüngste Sohn Jakob ist erst 12 Jahre. Iwan bittet mich zu eruieren, ob er noch lebt, ich möge Grüße an ihn ausrichten.

Frau Zott scheint eine glühende Anhängerin des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Als die Schwiegertochter mit ihrer Tochter Rosemarie wegen der Bombardierung aus der Stadt evakuiert wird und auf dem Bauernhof wohnt, verweigert ihr die Schwiegermutter Milch für das Mädchen. Die Milch sei für die deutschen Soldaten, nicht für das Kind. Sie ist auch der Ansicht, dass Russen sich von Kleinkindern ernähren. Sie glaubt auch nicht, dass Ukrainer ein technisches Verständnis haben und ist ganz erstaunt, dass er Rad fahren kann. Als ihr Sohn Hans in der Nähe der Heimat von Ivan fällt, glaubt Frau Zott allen Ernstes, er solle mit ihr dorthin reisen, das Grab besuchen und dann wieder mit ihr nach Deutschland zurückkehren. Aber mittlerweile hatte die sowjetische Armee bereits die Gebiete westlich des Dnjepr zurückerobert.

Bauer Zott hat mittlerweile großes Vertrauen in Iwan. Er darf Kartoffeln in Augsburg ausliefern. Er arbeitet fast immer im Freien, das gefällt ihm. Gegen Ende des Krieges soll er im 3 km entfernten Ort Bier holen. Der Bauer dort ist bester Laune, lädt ihn auf ein Bier ein. Es ist der 28. April 1945. Der Mann feiert bereits die Befreiung durch die Amerikaner.

Ivan begegnet auf dem Rückweg einer kanadischen Einheit, die trinken sein Bier, das er dem Bauern bringen soll, einfach weg, fahren mit ihm nach Adelsried und errichten ausgerechnet bei Bauer Zott ihr Hauptquartier. Frau Zott ist erstaunt über Iwan. Kann er jetzt auch schon Englisch?

Nach einigen Tagen werden die Zwangsarbeiter auf Traktoren verladen und nach Augsburg gebracht. Er ist der einzige Junge aus der Ostukraine, alle anderen kommen aus der Westukraine. Für einige Wochen bleibt Iwan in Augsburg in einem leerstehenden Haus, welches die Amerikaner bewachen. Ein Vertreter der sowjetischen Kommandantur erscheint schließlich mit einer Auflistung der Namen derjenigen, die in die Heimat zurückgeführt werden sollen. Amerikanische Soldaten fahren die Ukrainer und Russen bis Riesa an der Elbe. Dort werden sie der sowjetischen Armee überstellt. 40 000 Ukrainer und Russen befinden sich bereits in diesem sogenannten Filtrationslager, in dem sie wochenlang über ihren Aufenthalt in Deutschland verhört werden.
Auch in der Heimat wird er später nochmals verhört, auch die Nachbarschaft wird über ihn befragt. Nach einem halben Jahr erhält er schließlich einen provisorischen Ausweis.

In Brest-Litowsk wartet der Zug in Richtung Sowjetunion. Aber die Hoffnung auf Rückkehr nach Hause ist sehr gering. Sie alle sollen in die TRUD-Armee, zum Arbeitseinsatz im Bergwerk und am Wiederaufbau des Landes oder aber im Krieg gegen Japan zum Einsatz kommen. In Dnjepropetrowsk bleibt der Zug am 8. August stehen. Die Sowjetunion erklärt zwischen den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima am 6.8 und auf Nagasaki am 9. August 1945 Japan den Krieg, aber eine Woche später kapituliert Japan. Ivan gelingt es, eine Erlaubnis zu erhalten, damit er die Eltern zu Hause besuchen kann. Am 9. August sieht er seine Eltern nach genau drei Jahren wieder.

Der Zufall will es, dass die Deutschen in Pawlowgrad einen Safe hinterlassen haben, den er öffnen kann. Der verantwortliche Direktor sorgt dafür, dass der ihm drohende Einsatz in der Trud-Armee verhindert wird. Sein Freund, der mit dem gleichen Zug aus Brest-Litowsk eingetroffen ist, muss wie alle zurückgeführten Personen zur TRUD-Armee und dort weitere 4 Jahre arbeiten. Dieses Schicksal ist Ivan erspart geblieben.

Nach dem Krieg macht er eine Ausbildung zum Schlosser. Er heiratet und hat zwei Söhne, die nach dem Tod der Ehefrau regelmäßig nach ihm schauen.

Als ich ihm das Kuvert mit dem Geldbetrag überreiche, ist er wie vom Blitz getroffen. Er kann es nicht glauben und schüttelt den Kopf. Er ist tief bewegt und die Tränen stehen ihm in den Augen. Keine Frage, er kann das Geld sehr dringend brauchen. Er begleitet uns aus dem Haus und schüttelt immer noch den Kopf.

Der heutige Tag, auf den Tag genau 65 Jahre nach seiner Deportation, wird ihm hoffentlich in besser Erinnerung bleiben als der 9.8.1942. So schließt sich für ihn der Kreis.

3 Lawrenko Maria, geb. Pljuschtschewa, geb. am 16.05.1926 ; Arbeitseinsatz in Bobingen in der Textilfabrik

Als uns Frau Roschtschina zu ihrer Freundin Maria Lawrenko führt, donnert und blitzt es, der Strom in Pawlowgrad fällt aus, es ist dunkel in dem kleinen Häuschen, die rührige Frau Roschtschina sucht nach Kerzen.

Marias Ehemann ist vor ganz kurzer Zeit verstorben, jetzt lebt sie ganz allein, sie trägt keine Schuhe, hat ganz wunde Beine und ihren psychischen und physischen Zustand kann man nur als erbarmungswürdig bezeichnen. Während unseres Besuches hört sie nicht auf zu weinen und schluchzen, ihr ganzes Leben war sie unglücklich, sie musste einen Schicksalsschlag nach dem anderen verkraften.

Als jüngstes Kind erhält sie 1942 den Gestellungsbefehl, um in Deutschland Zwangsarbeit zu leisten. Der Bruder ist zur Armee einberufen worden und fällt in Charkow gegen die deutschen Truppen. Die ältere Schwester bleibt bei den Eltern.

„Wir waren vor dem Krieg arm, wir blieben nach dem Krieg arm und sind es heute noch“, klagt Maria. Als ihr Bruder an der Front fällt, erleidet der Vater einen Herzinfarkt und stirbt gleichfalls, aus Kummer ist die Mutter stark abgemagert, bei Marias Rückkehr erkennt sie ihre Mutter kaum noch.
Hunger zieht sich wie ein roter Faden durch Marias Vita. Auch in Deutschland musste ich Hunger leiden: „Wir äßen madige Bohnen, und fast immer gab es diese Rüben, die scheußlich schmeckten“.
In Bobingen leben sie im Lager, das war mit Stacheldraht umzäumt, aber wohin hätten sie schon laufen sollen, sie wussten ja gar nicht richtig wo sie sich befanden. Den Weg zur Arbeit legten sie unter Bewachung zurück und überlebten nur, weil sie jung und kräftig gewesen seien, schildert Maria unter Tränen. In der Fabrik legten sie die Spulen mit Zangen in die Säure, die Haut war verätzt, da half auch die Arbeitskleidung nicht viel.
Die Erinnerung an Deutschland ist keinesfalls angenehm, sie hatte ständiges Heimweh, Briefe an die Eltern durfte sie nicht schreiben und von zuhause hörte sie auch nichts. Erst nach der Befreiung durch die Amerikaner schreibt sie nach Hause.
An den Namen des Lagerführers kann sie sich erinnern, an Herrn Kugelmann. Und daran, dass sie in drei Schichten arbeiteten.

Nach ihrer Rückkehr in die Heimat arbeitet sie als Bohrerin in der Fabrik, sie verletzt sich mehrmals am Fuß. Als Arbeiterin in der Fabrik erhält sie 1947 eine Brotration von 500 Gramm, ihre Mutter erhält 250 Gramm, ihre arbeitslose Schwester erhält keine Brotkarten. Die Schwester stirbt in den 70-er Jahren.
Wenn sie ihr Schicksal beschreibt, schluchzt sie unaufhörlich. Ihr ganzes Leben war von Not und Elend und Schicksalsschlägen gekennzeichnet. Ihr jüngster Sohn ist bettlägerig und leidet unter den Folgen eines Gehirnschlags, auch der ältere Sohn ist unglücklich, aber immerhin besucht er sie regelmäßig nach dem Tod ihres Mannes im März dieses Jahres.

Sie hat keinen Appetit mehr, es fehlt ihr das Geld, um Arzneien zu kaufen, woher soll sie es denn nehmen, sie hat eine Rente von 200 Griwna, das sind gerade mal knappe 70 Euro, und die Arzneien kosten monatlich zwischen 70 und 80 Griwna.

Ich händige Maria den symbolischen Geldbetrag aus, aber fühle mich hilflos, die Frau würde dringend permanente psychische Betreuung benötigen, jemand müsste sich um sie kümmern, sie ist verzweifelt und depressiv. Daran kann auch eine vorübergehende Linderung ihrer finanziellen Probleme nichts ändern. Maria bedankt sich überschwänglich bei mir, aber ich bin skeptisch, ob ich ihr habe helfen können.

4-5: Die Geschwister Warwara und Alexandra

4 Alexandra Bespatjia, geb. Timtschenko, geb. Am 14.01.1926; Arbeitseinsatz in Bobingen, Textilfabrik

Alexandra Bespatjia, geb. Timtschenko wird am 9.August 1942, also genau vor 65 Jahren gemeinsam mit Irina Roschtschina, Maria Lawrenko und Iwan Sirenko nach Bobingen deportiert, und das im Alter von 16 Jahren. Wegen der Drohungen der hiesigen Polizei verschwendet Alexandra keinen Gedanken an Flucht, sie will die Geschwister und die Eltern nicht gefährden. Ihre Schwester Warwara war bereits drei Monate vor ihr nach Essen deportiert worden (siehe Bericht unten).

Die Behörden fordern sie auf, für den Transport nach Deutschland die Lebensmittel selbst mitzubringen. Der Transport nach Deutschland dauert zwei Wochen, die Mädchen werden unterwegs zur Hopfenernte eingesetzt. In Bobingen muss sie mit Maria und Irina in einer Textilfabrik arbeiten. Sie erhält die Häftlingsnummer 293 und schläft mit 14-16 weiteren Mädchen aus Pawlowgrad in einem Raum. Alexandra erinnert sich an die Namen weiterer 7-8 Frauen aus Pawlowgrad, die ebenfalls nach Bobingen verbracht worden sind. Lubov Sochka von der ukrainischen Stiftung wird per Computer die Namen überprüfen und nach möglichen Überlebenden suchen. Das Lager war in Nationen unterteilt, Russen, Holländer, Franzosen usw. waren alle getrennt untergebracht.
Als Aufsicht waren kriegsversehrte deutsche Soldaten eingeteilt, die Mädchen hatten stetige Angst vor Schlägen, aber die männlichen Zwangsarbeiter wurden weitaus schlimmer bestraft. Nach der Befreiung verprügelten diese den Lageraufseher Kugelmann mit der Peitsche, aber Alexandra verspürte Mitleid mit ihm.

Wegen ihrer Deportation nach Deutschland wird Alexandra in der Ukraine noch lange diskriminiert. Sie gilt als Prostituierte, weil sie in Deutschland war, sie wird bei jeder Arbeitssuche abgewiesen und muss sich rechtfertigen. Lange Jahre bleibt ihr keine andere Arbeit als die auf der Kolchose, sie hat keine Ausbildung und zudem die schönsten Jahre ihrer Jugend verloren und ist sozial diskriminiert.
Als ihr Mann sie nach ihrer Heirat 1954 von der Kolchose loseisen will und ihr die Arbeit als Putzfrau in einer Schule besorgt, bekommt sie die Stelle nur, weil sie verschweigt, dass sie während des Krieges in Deutschland arbeiten musste.

Ihre Tochter darf 1986 wegen ihrer Mutter nicht nach Afghanistan, und das 41 Jahre nach der Rückkehr von Alexandra in die Heimat! Alexandra Bespatjia hat deswegen heute noch Schuldgefühle gegenüber ihrer Tochter weil sie glaubt, sie habe das Leben ihrer Tochter negativ beeinflusst. Eine Rehabilitierung dieser Diskriminierung erfolgt erst unter Gorbatschow

Warwara Altanez, geb. Timtschenko, geb. am 2.08.1924

Ganz in der Nähe von Maria Lawrenko wohnen die Geschwister Alexandra und Warwara. Sie kommen aus einer Familie mit 5 Kindern. Der älteste Sohn war an der Front, die beiden Schwestern werden im Zeitraum von 3 Monaten nach Deutschland deportiert, die beiden jüngeren Brüder bleiben zuhause, sie waren noch zu jung um nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert zu werden.

Warwara kennt ihr Deportationsdatum wie fast alle Zwangsarbeiter sehr genau. Es war der 14. Mai 1942. Die örtliche Polizeibehörde sprach fürchterliche Drohungen aus, wenn sie nicht nach Deutschland fahre.
Die Fahrt nach Deutschland dauerte drei Tage, eine ärztliche Untersuchung erfolgte bereits an der deutsch-polnischen Grenze. Gemeinsam mit 20 weiteren ukrainischen Mädchen kommt sie nach Essen, wo sie von einem großen gutaussehenden Mann abgeholt und ins Lager der Gebrüder Holzmann kommen. Als sie ankommen, sind die Baracken noch ganz leer, nach und nach kommen weitere 60 Mädchen dazu. Das Lager ist umzäunt. Wenn ein Mädchen am Abend zu weinen beginnt, führt das gleich zu einer Kettenreaktion und die anderen Mädchen weinen mit, oft aus Heimweh, manchmal aus Hunger.

In der Fabrik werden Fallschirme hergestellt und die Mädchen benötigen eine einmonatige Anlernzeit. Es gibt eine Dolmetscherin, die ihnen alles übersetzt. Aus dem Stoff für die Fallschirme werden auch Schürzen und Kleidung für die Zwangsarbeiter genäht.
Weil sie sich nicht recht geschickt bei den Näharbeiten anstellt, wird sie in die Küche versetzt, wo sie für die Essenszubereitung der Ukrainerinnen zuständig ist. Sie wiegt die Rationen ab, welche die Mädchen für drei Tage bekommen: 27 gr Wurst , 7 gr Butter, 222 gr Brot. Zum Mittagessen gibt es meist Bohnen und Suppen. Um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, erhält sie die Anweisung, dass künftig die Kartoffeln in die Suppe gerieben werden sollen.
An Feiertagen gibt es sogar hin und wieder Kartoffeln und ein wenig Schmorfleisch.
Sie weiß, dass die ebenfalls inhaftierten Niederländer größere Portionen und eine bessere Verpflegung erhielten.

Gegen Ende des Krieges wird die Fabrik Tag und Nacht bombardiert, die Zwangsarbeiter suchen im Keller Zuflucht, keinesfalls dürfen sie die Bunker der Deutschen benutzen.
Kurz vor Kriegsende legen die Bombardierungen die Fabrik in Schutt und Asche. Männer bringen die Mädchen in den Bus, aber der Bombenhagel hört nicht auf, und so suchen sechs Mädchen in einem Schweinestall Zuflucht, später finden sie ein leeres Haus mit leeren Fässern im Keller, in welchen sie sich verstecken. Im Chaos kommen auch deutsche Soldaten, die sich ebenfalls in den Fässern verstecken wollen.
Dann endlich werden sie durch Amerikaner aufgespürt, noch einen Monat verbleiben sie in Deutschland und erhalten von den Befreiern gute Verpflegung. Niemand wird zur Arbeit gezwungen.

Sie erinnert sich, dass die Amerikaner sie mit dem Flugzeug an die Elbe bringen und mit Konserven, Zigaretten und Süßigkeiten ausstatten ehe sie an die sowjetische Armee überstellt werden. Die Sowjetische Armee befragt sie zu ihrem Arbeitseinsatz in Deutschland und die Mädchen müssen leichtere Arbeiten vollbringe, es wird erwogen, sie im russisch-japanischen Krieg einzusetzen, aber glücklicherweise kapituliert die japanische Armee eine Woche nach dem Atombombenabwurf auf Nagasaki und Hiroshima.

In der Heimat werden die Ukrainerinnen – Warwara ist jetzt gerade mal 21 Jahre alt als „deutsche Huren“ beschimpft. Sie dürfen keine Ausbildung machen, es bleibt ihr keine andere Arbeit als die auf der Kolchose. So wird sie für ihren Zwangseinsatz in Deutschland doppelt bestraft.

Auch privat hat Warwara es nicht leicht. Sie heiratet einen Mann, der bereits 7 Mal verheiratet war. Ihre gemeinsame Tochter stirbt nach 2 Tagen und der Mann verlässt sie und heiratet ein 9. Mal. In den 80er Jahren heiratet sie ein zweites Mal, aber aus der Ehe gehen keine Kinder hervor. Der Mann verstarb vor 10 Jahren.

Trotz dieser Schicksalsschläge ist Warwara eine sehr starke, lebensbejahende, warmherzige und humorvolle Frau. Dank ihres Temperamentes kann sie überleben und findet auch das heutige Leben lebenswert.

Bürgerreporter:in:

Dr. Bernhard Lehmann aus Gersthofen

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