Die letzte Bewohnerin der Frühlingsstraße 19

In der Küche der Frühlingsstraße 19 lässt die Friedbergerin Erna Rauch ihr Leben Revue passieren - und zu erzählen gibt es einiges.
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Die Häuser der Baugenossenschaft in Friedberg werden abgerissen. Alle sind ausgezogen. Bis auf die 85-jährige Erna Rauch. Sie erzählt aus ihrem Leben. Eine berührende Geschichte.

„Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr. Es tut einfach weh.“ Erna Rauch, die seit 40 Jahren in der Parterre-Wohnung Frühlingstraße 19 lebt, fällt der Gedanke schwer, demnächst umziehen zu müssen. Und sie erzählt, wie es so war, in den 40 Jahren in der Wohnung der Baugenossenschaft. Dabei lässt sie ihr Leben Revue passieren. Das bringt ein interessantes Stückchen Stadtgeschichte zutage und zeigt, wie hart das Leben der „kleinen Leute“ einst war.
Vor 85 Jahren erblickte sie das Licht der Welt im sogenannten Kaierle-Haus am Marienplatz, das sich einst zwischen den Hausnummern Marienplatz 5 und 7 befand. Völlig offen erzählte sie von den sehr „verwickelten“ Familienverhältnissen, die dazu führten, dass erst bei ihrer Hochzeit ihr richtiger Nachname aufkam. „Die Stadt Friedberg hat den Hund neibracht.“ Ihr älterer Bruder hätte Süßmair heißen sollen und Erna mit Nachnamen König. Das sei in der Stadt nicht umgeschrieben worden, „und so hab i Süßmair g‘heißen und mei Bruder König und umgekehrt wäre es richtig gewesen.“

Als Kind musste sie auf einem Hof mitarbeiten



Als Erna ein Kind war, verlagerte sich das Familienleben nach Kissing. Doch dann trat eine neue Frau in das Leben des Vaters und so zog er mit Erna und ihrem jüngeren Bruder nach Königsbrunn zur „Stiefmutter“. Neben dem Besuch der dortigen Volksschule musste Erna bei einem Bauern arbeiten: 4 Uhr früh aufstehen, Futter vom Feld holen, dann in den Stall gehen, Melken und dann erst gings in die Schule. Erna hatte das große Glück an der katholischen Volksschule in Königsbrunn, in ihrer Lehrerin Frau Sagasser – den Namen wird sie nie vergessen - eine liebenswerte und einfühlsame Lehrerin gehabt zu haben. Nie wurde Erna gerügt, wenn sie die Hausaufgabe nicht hatte. „Sie war so nett und gut, sonst wäre das Leben noch härter gewesen.“

Erna kehrte nach Friedberg zurück und arbeitete in der Wirtschaft Dreher in der Ludwigstraße

So kehrte sie nach dem Schulabschluss mit 14/15 Jahren eigenmächtig zurück in ihre Geburtsstadt Friedberg und fand Anstellung bei der Wirtschaft Dreher in der Ludwigstraße. Der „Xare“, bekannt als Zauberer Irax, hatte die Wirtschaft an „Glatte“ verpachtet. Erna konnte im Gasthaus wohnen. Sie erledigte Arbeiten im Haushalt und in der Wirtschaft: „Was halt einfach zum doa war“. Wenn die Köchin frei hatte, dann kochte Erna für die Gäste. Sie war vielleicht schon 16, als ein junger Mann sich immer wieder in die Wirtschaft „rettete“, denn daheim gab es bei ihm nichts gescheites zum Essen. Er lebte in der Stadtmauer bei seinem Opa. Dessen zweite Frau konnte wahrlich nicht gut kochen. So ging der damals 18-jährige Rudolf Rauch, der beim Friedberger Maler Walter sein Handwerk gelernt hatte und darüber hinaus noch eine Ausbildung als Dekorationsmaler aufweisen konnte, hinüber zum „Dreher“, dann nicht nur alleine des guten Essens wegen, sondern auch wegen Erna! Nach einer Zeit bekam er in Donauwörth eine Anstellung als Maler. Seine Freundin Erna fand eine Stellung als Dienstmädchen, ebenfalls in Donauwörth. Sie war neben Waschen, Putzen, Kochen auch verantwortlich für die beiden im Haushalt lebenden minderjährigen Kinder. Keine Spur mehr von Bitterkeit war zu verspüren, als Erna erzählte, wie ihre leibliche Mutter jeweils extra von Kissing aus angereist kam und stets einen Großteil ihres nicht gerade üppigen Lohns einkassierte. „Ja, es waren schwierige familiäre Verhältnisse“, betonte sie immer wieder.

Das jungvermählte Paar wohnte zunächst in der Stadtmauer


1958 wurde geheiratet und das junge Paar zog in die Stadtmauer Nr. 18. Opa hatte die Wohnung extra freigemacht und war ausgezogen. „Opa war super!“, erinnerte sich Erna Rauch. Aber nach dem Tod mussten sie wieder raus, weil die leibliche Mutter von Rudolf Rauch, entgegen den Aussagen von Opa, vehement das Wohnrecht für sich beanspruchte. Rudolf und Erna Rauch zogen in eine Arbeiterwohnung der Schlemmer Extra-Werke um 1968/69. Rudolf Rauch hatte bei der Firma Huber & Co gearbeitet. Sie hatten inzwischen drei Kinder. 1981 wurde die Firma verkauft und die Rauchs mussten sich um eine neue Bleibe umsehen.

1981 zog Erna Rauch mit Mann und Tochter in die Frühlingsstraße 19 ein

Mit der jüngsten Tochter zogen sie im Februar 1981 in die Parterre-Wohnung Frühlingstraße 19, mit Ausblick auf die Frühlingstraße. Zu verdanken hatte Rudolf Rauch die Wohnung dem Vorstand der Baugenossenschaft Rappolder. Von den Götze-Werken her kannten sie sich, da auch Rauch dort Malerarbeiten erledigte. Eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Baugenossenschaft in der Frühlingstraße war glücklicherweise gerade frei geworden. Dort gab es kein Bad, nur ein Handwaschbecken im Klo. „Zum Baden hat man in den Gemeinschaftskeller hinuntergmiaßt“. Es gab für die fünf Parteien im Haus einen Badplan. Alle Wohnungen, im Parterre und im 1. Stock jeweils zwei Wohnungen, im 2. Stock eine Wohnung, waren belegt. Jeder Wohnung war ein Speicherabteil unter der Dachschräge zugeordnet und ebenso einen Gartenanteil.
Ihr Mann, ein wahrer Künstler und handwerklich äußerst geschickt, machte sich daran, so nach und nach die Dreizimmer-Wohnung herzurichten. Aus dem dürftigen Klo-Raum entstand ein gefliestes Comfort-Badezimmer mit eigener Badewanne und Dusche und Waschmaschine. Die gemütliche Einbauküche will Erna Rauch unbedingt mitnehmen. Viele Malerarbeiten und Verzierungen an Wänden und Türen zeugen von der künstlerischen Schaffenskraft des Dekorationsmalers Rudolf Rauch.
Und dann erzählte Erna Rauch von den Bewohnern, von denen die gestorben oder weggezogen sind, von denen die wieder neu hereinkamen. Es gab auch Kummer. So saß schon einmal jemand in ihrer Küche, um ihr gegenüber das Herz auszuschütten. Und doch war es ein friedvolles Miteinander. Hin und wieder ist man in den Gärten mit der einen oder anderen Familie zusammengesessen. Die Enkelkinder sind in die Gärten umeinandergelaufen, ohne dass jemand etwas gesagt hätte. Es wäre alles so schön gewesen, wenn nicht eines Tage eine Familie mit einem gewalttätigen Vater eingezogen wäre. „Mein Mann und ich mussten in die Arbeit und er ist mit dem Stecken vor der Haustür gestanden. Er hat zugeschlagen.“ Jedes Mal musste die Polizei gerufen werden. Man hatte einfach Angst. „Einmal“, so erinnerte sich Frau Rauch, „habe ich Dresche von ihm gekriegt, die Nase war gebrochen“.

Ein Nachbar setzte die Wohnung in Brand

Ein Ereignis jedoch war so schrecklich, dass sie vieles ausgeblendet hat, sich nicht mehr erinnern will. Dieser schlimme Mann ging in den Kindergarten, um von dort seine Kinder abzuholen. Zuvor hatte er Feuer in der Wohnung gelegt! Glücklicherweise kam es nicht zum offenen Brand. Es hatte nur „gegloscht“, es gab also nur Glut. Aber verraucht war alles. Rauchs Wohnung hatte durch den Rauch, der sich durch alles Ritzen zog, schrecklich gestunken. Der Mann erhielt Hausverbot. Er wurde schließlich eingesperrt. Frieden zog wieder ein.
Natürlich gab es auch Befindlichkeiten unter den Bewohnern. Nach Jahren lächelt man über manche Vorkommnisse, die einst für Ärger sorgten.
Der Kampf ums Wäscheseil, zum Beispiel. Erna hatte das Wäscheseil von Anfang an gehabt und dann nahm eines Tages nach Jahren eine Frau es ab und machte ihr eigenes Wäscheseil hin. Das konnte sich Frau Rauch nicht gefallen lassen! Dann ging es einmal ums Zuschneider der Büsche im Garten. Erna Rauch konterte: „Sie können ihre Sachen kastrieren, meine bleiben wie sie sind.“
Es gab die schweren Schicksalsschläge. Schrecklich war der Tod ihres Sohnes, der an einer schweren Krankheit verstarb. Ihr Mann litt unsagbar darunter, wurde selber krank und verstarb im Januar 2012.
Alle Bewohner von einst sind schon ausgezogen. Jetzt kann man sich nicht mehr unterhalten, denn die Sprache der neuen Bewohner versteht sie nicht. Es sind Ukrainer, die hier wenigsten für einige Monate eine Bleibe gefunden haben. Die Menschen tun ihr leid. „Der zweite Weltkrieg war schrecklich, aber wir mussten nicht fliehen, wir konnten hier bleiben“, resümierte Erna Rauch.
Es ist gerade der Tod ihres Mannes, der sie so wehmütig stimmt, wenn sie die Wohnung, die er so liebevoll hergerichtet hat, für immer verlassen muss. „Wenn mein Mann noch leben würde, ja dann wäre alles anders.“

Inzwischen ist Erna Rauch in eine neue, wunderschöne Wohnung der Baugenossenschaft eingezogen. Von einigen Möbeln musste sie sich trennen, weil es aufgrund des Zuschnitts der Wohnung nicht den nötigen Platz gibt, um wieder alle aufzustellen. Angekommen ist sie dort aber noch nicht so richtig, denn es ist noch nicht alles verstaut. Aber zuversichtlich ist sie dennoch: wenn dann alles endlich an seinem Platz ist und seine Ordnung hat.

Bürgerreporter:in:

Regine Nägele aus Friedberg

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