Gedicht nicht von Tucholsky - und doch treffend?

Kurt Tucholsky: Vor 75 Jahren wurden auch seine Bücher verbrannt.
  • Kurt Tucholsky: Vor 75 Jahren wurden auch seine Bücher verbrannt.
  • hochgeladen von Michael Gumtau

Als "Urbane Legende" kursiert ein Gedicht über die aktuelle Lage der Weltwirtschaft im Netz. Es soll von 1930 sein, aber damals gab es nach Recherchen den Begriff "Derivate" noch nicht in der Finanzwelt und auch der "Stil" wird von den Experten nicht dem großen Dichter zugeschrieben. Der Begriff "echt famos" gehört auch zu heutigen Sprache. Trotzdem erregt das Gedicht wegen seiner treffenden Beschreibung die Aufmerksamkeit. Aber trifft es mit seiner Charakerisierung auch die Wirklichkeit?

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.
Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.
Trifft’s hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!
Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.
Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und - das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!
Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.

Wirklich aus der Weltbühne ist die Glosse "Kurzer Abriß der NATIONALÖKONOMIE" (1931) und diese Satire hat es auch heute noch "in sich".

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.

"Wenn die Ware den Unternehmer durch Verkauf verlassen hat, so ist sie nichts mehr wert, sondern ein Pofel, dafür hat aber der Unternehmer das Geld, welches Mehrwert genannt wird, obgleich es immer weniger wert ist. Wenn ein Unternehmer sich langweilt, dann ruft er die andern und dann bilden sie einen Trust, das heißt, sie verpflichten sich, keinesfalls mehr zu produzieren, als sie produzieren können sowie ihre Waren nicht unter Selbstkostenverdienst abzugeben. Daß der Arbeiter für seine Arbeit auch einen Lohn haben muß, ist eine Theorie, die heute allgemein fallen gelassen worden ist.

Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export, Export ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muß das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind. Wenn der Export andersrum geht, heißt er Import, welches im Plural eine Zigarre ist. Weil billiger Weizen ungesund und lange nicht so bekömmlich ist wie teurer Roggen, haben wir den Schutzzoll, der den Zoll schützt sowie auch die deutsche Landwirtschaft. Die deutsche Landwirtschaft wohnt seit fünfundzwanzig Jahren am Rande des Abgrunds und fühlt sich dort ziemlich wohl. Sie ist verschuldet, weil die Schwerindustrie ihr nichts übrig läßt, und die Schwerindustrie ist nicht auf der Höhe, weil die Landwirtschaft ihr zu viel fortnimmt. Dieses nennt man den Ausgleich der Interessen. Von beiden Institutionen werden hohe Steuern gefordert, und muß der Konsument sie auch bezahlen.

Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. ›Stützungsaktion‹, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr."
http://www.textlog.de/tucholsky-nationaloekonomie....

In diesem Zusammenhang wird auch auf einen 1916 schreibenden Autor verwiesen, der eine umfangreiche Analys der Finanzwirtschaft vorgenommen hat. Er lebte als junger Student in Schwabing und schrieb 1916: "|223| Mit anderen Worten: Der alte Kapitalismus, der Kapitalismus der freien Konkurrenz mit der Börse als unerläßlichem Regulator, schwindet dahin. Er wird von einem neuen Kapitalismus abgelöst, dem deutliche Züge einer Übergangserscheinung, einer Mischform von freier Konkurrenz und Monopol anhaften. Natürlich drängt sich die Frage auf, in was dieser neueste Kapitalismus "übergeht", aber die bürgerlichen Gelehrten schrecken vor dieser Fragestellung zurück."
Mehr der historischen Anlayse hier: http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_189.htm

Doch zurück zu dem Gedicht, das den "Ausgangspunkt" bildete: Christiane Wild hat für die Stuttgarter Zeitung herausgefunden, wer hinter dem Internetgedicht steckt - ein gewisser Kerschenhofer der rechten "Zeitbühne". "Die nun irrtümlicherweise Tucholsky zugeschriebenen Verse findet man einige Mausklicks vom "Sudelblog" entfernt auf der Seite der österreichischen "Gesellschaft für freiheitliches Denken". Dort wird "Pannonicus" als Autor genannt - und weil wir es nun genau wissen wollen, bemühen wir eine Suchmaschine: Hinter Pannonicus verbirgt sich Richard G. Kerschhofer, der unter anderem für die als rechtskonservativ geltende österreichische Zeitschrift "Zeitbühne" schreibt." Ihr lesenswerter Artikel ist hier: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/1859685...

"Gute Frage: "Merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?"

Ein Schmähgedicht auf die "Spekulantenbrut" macht im Netz Karriere - und Tucholsky rotiert vermutlich im Grabe"
In Flensburg und in Krefeld ist eine große Schule nach K. Tucholsky benannt. Ihre Schülerinnen und Schüler werden sich jetzt mit der Textkritik und dem Wirklickeitsbezug befassen müssen.

Bürgerreporter:in:

Michael Gumtau aus Eichenau

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

13 folgen diesem Profil

4 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.