Von Halloween und Klopapier (Teil 9 - Irre Irin ganz Irländisch)

Ein Tag wie heute, lässt mich einmal mehr zurückblicken. Er versetzt mich zurück ins Jahr 2011, zurück ins Geisterkabinett, zurück ins Land der Kobolde und Feen, hin zu den Wurzeln des womöglich schrägsten Tages, den ich in Irland miterleben durfte: Halloween. Der Tag, an dem mir die bisher ungewöhnlichste Frage meines Lebens gestellt wurde: Würdest du bitte das Klopapier aus dem Fenster werfen?

Bevor ich allerdings die „Geschehnisse des 31. Oktobers“ genauer beleuchte, möchte ich euch von den Tagen vor dem Gruselfest erzählen. Wie an den meisten freien Abenden spazierte ich durch das hübsche Küstenstädtchen Greystones. Ich ging in den nächstgelegenen Supermarkt und reihte mich kurze Zeit später in die Schlange an der Kasse ein. Wieder einmal hatte nur eine von fünf Kassen geöffnet. Genau wie daheim, dachte ich und legte den ausgesuchten Apfel auf das Band. Beim Anblick des Kassenbandes schreckte ich ruckartig zurück und hätte dabei den Apfel beinahe in Obstsalat verwandelt, wenn ein hinter mir stehender Vampir ihn nicht aufgefangen hätte. Moment mal, ein Vampir? Ich schreckte ein zweites Mal zusammen. Grinsend verkündete mir Graf Dracula, dass er wohl die richtige Kostümwahl getroffen habe. Ich drehte mich wieder um und begutachtete erstaunt die Einkäufe auf dem Kassenband. Neben zahlreichen Fläschchen Kunstblut und Gesichtsfarben, rollten kleine, blutunterlaufene Augen gefährlich nah auf meinen Apfel zu. Die kleinen und haarigen Plastikspinnen, ein künstliches Herz und die Packung durchaus echt aussehende Maden befanden sich ebenfalls in unmittelbarer Entfernung meines kostbaren Apfels. Ich entschied mich, ihn solange festzuhalten bis ich an der Reihe war und wurde mit verwunderter und ratloser Miene von der Verkäuferin angeschaut, als ich ihr das Geld für meinen Einkauf überreichte. Ich war wohl an diesem Tag die einzige Kundin, die kein „Made in Taiwan“, „Made in China“ oder „Made in Bangladesch“-Produkt gekauft hatte.

Am Tag vor Halloween unternahm ich mit dem kleinen Prinzen (ihr erinnert euch bestimmt an ihn aus meinen älteren Berichten!?) einen Spaziergang. Während der kleine Herr fröhlich in seinem Kinderwagen brabbelte und kicherte, fielen mir die Menschen auf die in ihren Vorgärten beschäftigt waren. Sobald sich ein Fußgänger, Nachbar oder eine andere Lebensform näherte, fingen die beschäftigten Hausbewohner plötzlich an zu tuscheln und versuchten ihre Machenschaften zu verbergen. Es war natürlich nicht zu übersehen, dass sie ihre Dekorationen für Halloween an ihren Häusern anbrachten. Obwohl ich mir zu diesem Zeitpunkt darüber bewusst war, dass der 31. Oktober ein ganz besonderer Tag in Irland war und dass Kinder ihn mit Weihnachten nahezu gleichsetzten, war ich mir dennoch nicht klar darüber, was mich am nächsten Tag erwartete. Zugegeben, einen Hauch der Ahnung ereilte mich schon, nachdem ich den Kinderwagen auf dem Rückweg viel zu nah an einem charmant lächelnden Kürbis mit integriertem Bewegungssensor vorbeischob.

Graf Dracula im Rosenbusch

Dann kam der Tag der Wahrheit oder besser des Grauens: Halloween. Am Morgen eilte ich durch die Stadt. In all der Aufregung hatte ich komplett vergessen, dass die Kinder von mir erwarteten, dass ich am Abend ebenfalls verkleidet auftreten würde und mit ihnen auf Süßigkeitenjagd in der Nachbarschaft ging. Als vorbildliche „große Au-Pair-Schwester“ eilte ich los - die Auswahl war natürlich sehr beschränkt: ich konnte mich entweder in Satan’s Ehefrau verwandeln oder in einen Axtmörder mit grauem Bart. Die Entscheidung fällte ich in Sekunden und als ich wieder daheim eintraf, hatte das Dekorieren der Küche, des Flurs und des restlichen Hauses schon begonnen. Kürbisse und Hexen klebten an den Fenstern und ungefähr dreidutzend Dekofiguren hatten auch schon ihren rechtmäßigen Platz gefunden. Meine Gastfamilie wollte aber in diesem Jahr etwas ganz besonderes und neues ausprobieren. Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich also auf Wunsch von Albert Einstein damit, acht Rollen Klopapier spinnennetzartig von Fenster zu Fenster zu spannen und zu werfen, zu befestigen und zu verknoten. Eine wahrliche Innovation, das Haus in eine Art überdimensionale Toilette zu verwandeln, dachte ich. Zugegeben, bei Anbruch der Dunkelheit sahen die Toilettenpapiergirlanden gar nicht mal so übel aus.

Mit der Dunkelheit kam noch etwas: eine Flutwelle an Geistern, Vampiren, verzauberten Meerjungfrauen und Frankenstein’s Monster klingelte auch an der Haustür. Sie alle wollten nur eins: Süßigkeiten. Gut, dass die fünf Kilogramm Zuckerstangen, Lollis und Schokolade gerade so genügt haben.
Anschließend bin ich selbst mit Mary Poppins, verkleidet als Prinzessin, Albert Einstein, verkleidet als Skelett, dem kleinen Prinzen, verkleidet als Baby-Krokodil und meiner Gastmutter, verkleidet als Hexe, aufgebrochen in die dunklen Straßen der Nachbarschaft und habe folgendes gelernt:

1. Vertraue keinen netten, kleinen, alten Damen

Wie der Titel schon verspricht, wurden wir beim ersten Haus von einer netten, kleinen, alten Dame begrüßt. Sie bat uns freundlich näher zu treten und kurz zu warten, bis sie ihre Schüssel mit Süßigkeiten aus der Küche geholt hatte. „Keine bösen Überraschungen beim ersten Haus“, freute sich Albert Einstein. Plötzlich allerdings heulte eine unheimliche Stimme hinter uns, dass wir uns nicht bewegen dürften. In den Büschen um uns leuchteten Augen auf, Figuren bewegten sich und spielten unheimliche Melodien. Hinter uns stand auf einmal ein alter Mann, verkleidet als Mumie und jagte und alles einen riesigen Schrecken ein. So schnell, wie die Mumie und die gesamte gespenstische Szenerie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Die Tür des Hauses ging wieder auf, die alte Dame übergab mit einem Lächeln Süßigkeiten an die Kinder und verabschiedete sich mit einem „Happy Halloween“. Als wir das Grundstück verließen, konnten wir sie aber hinter den Büschen mit der Mumie kichern hören. Es schien, als hätte das alte Ehepaar das ganze Jahr auf diesen einen Tag gewartet.

2. Der Weihnachtsmann lebt nicht am Nordpol

Einige Häuser weiter öffnete uns ein Herr im Weihnachtsmannkostüm. Meine Gastmutter und ich hätten uns einige komplizierte und aufklärende Gespräche über den tatsächlichen Wohnort des Weihnachtsmannes sparen können, wenn sich dieser nette Herr in Rot nicht im Tag vertan hätte oder ein wenig kreativer hätte sein können.

3. Ein Kürbis hat Grips

Es schien so, als ob die ganze Nachbarschaft darum wetteiferte, wer die beste Dekoration und die kreativsten Einfälle hatte. Ein Haus übertraf das nächste. Ich hatte noch nie solche Massen an Plastikdekorationen gesehen: Hexen, die aus dem Fenster hingen, Kürbisse die sprachen und sich bewegten, Plastikratten, die auf einen zu rennen, sobald man sich nähert, ferngesteuerte Fledermäuse und Lichterketten in allen erdenklichen Farben. Doch nichts geht über einen "echten" sprechenden Kürbis: Einen Familienvater in Kartoffelsäcken zu verpacken und dann zwischen den Rosenbüschen zu platzieren, mit einem Kürbis auf dem Kopf, würde ich als mein persönliches Highlight bezeichen. Es kann aber auch sein, dass ich einfach nur Mitleid hatte.

Immerhin erreichten wir das Ziel des Abends: das Sammeln einer Unmenge an Süßigkeiten und das Gruseln in den Straßen des zur „Rocky Horror Picture Show“ mutierten Greystones. Ich habe eine wunderbare, wenn auch ungewohnte Erfahrung gemacht. Ich habe gelernt, dass ich mein Geld für Freizeitparks oder Geisterbahnen in Zukunft sparen kann, denn in Irland bekommt man Graf Dracula und das Frankenstein Monster einmal jährlich kostenlos zu sehen. Alle hatten ihren Spass und wenn dann doch mal vor Angst eine Träne gefallen ist: ich wusste ja wo das Toilettenpapier war.

Bürgerreporter:in:

Annika Ludwig aus Wohratal

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