Kommentar zur 3. Mahnwache gegen Atomkraft in Springe

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„Ökologie ist Notwehr gegen Angriffe auf Lebensgrundlagen. Die kleinen Schritte im Alltag schaffen in der Masse den gesellschaftlichen Druck, der die Welt verändert.“ schrieb Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung am letzten Samstag. Ich dachte mir, „der kleine Schritt“ ist auch die Teilnahme an einer Mahnwache gegen Atomkraft und bin auf Besuch in meiner früheren Heimatstadt Springe zu der Veranstaltung gegangen.

„Das Restrisiko ist ein Risiko, welches uns den Rest geben kann.“ stellte dort Herr Krause in seiner Ansprache fest. Das kann leider passieren, denn Springe liegt zirka 21 Kilometer Luftlinie vom Atomkraftwerk Grohnde entfernt. Die Betonung hätte ich auf „uns“ gelegt, denn die Firma EON wird bei den skandalösen rechtlichen Haftungsregelungen nach einer Havarie weiter existieren. Die Evakuierungszone um Fukushima beträgt derzeit 30 Kilometer, „freiwillig“ und mithin ohne Entschädigungsansprüche sollen die Menschen dort aber in einem viel größeren Bereich ihr Zuhause verlassen. Hier fehlte mir ein Beitrag zur Hinterfragung der Situation in Springe. Wie viele moderne Messgeräte für Radioaktivität sind in Springe verfügbar? Sind genügend Jodtabletten eingelagert? Man muss Fragen generieren, Infos einholen und die Ergebnisse in konkrete Forderungen umsetzen. Die Vermutung, irgendwelche Behörden hätten sich gekümmert und es seien genügend Kapazitäten zur Bewältigung eines Nuklearunfalls vorhanden, ist naiv. Fukushima führt uns den Dilettantismus gerade vor Augen.

Energiemanagement bringen wir zum Einsatz, um die Akkulaufzeit unseres Notebooks zu erhöhen. Im Kochtopf brauchen wir das schon nicht, da ist es egal, wenn das Nudelwasser 15 Grad heißer ist als es zum Garen der Spagetti sein müsste. Der Hinweis, mit Gas kochen wäre besser, wird nicht von den Kernkraftwerksbetreibern sondern von vielen Bürgern ignoriert. Lieber investieren wir in die neuesten Handys in der Selbsttäuschung, diese würden unsere Persönlichkeit aufwerten, als in einen energieeffizienten Kühlschrank. Das mehrfache Bewerben des Naturstromangebots der Stadtwerke Springe von Rednern ist offenkundig selbst bei Teilnehmern einer Mahnwache gegen Atomkraft notwendig. Der kritische Blick auf unser Verhalten kam mir in den Redebeiträgen zu kurz.
Ethisch kann es nicht gerechtfertigt werden, dass der Zwangsexport von Kohlendioxyd dem Risiko der radioaktiven Verseuchung von zirka 2.500 Quadratkilometern eigenen Territoriums vorgezogen wird. Die Bewohner der im Meer versinkenden Seychellen sind keine Verfügungsmasse unseres Handelns. Die Heimatverwüstung anderer Energiequellen wie dem Braunkohletagebau und deren Opferzahlen dürfen nicht ignoriert werden. In Electricity and Health, Vol. 370, 15. September 2007, S. 980 wurden von den Autoren Anil Markandya und Paul Wilkinson 32 Todesfälle und 298 schwere Erkrankungen ausgelöst durch Luftverschmutzung je Terrawattstunde Braunkohleverstromung angegeben.

Die komplexen Energieprobleme können nicht auf das Feindbild „Atomkraft“ reduziert werden. Ein rascher Ausstieg aus der Kernenergie ist notwendig, aber es handelt sich nicht um eine Heilslehre von Bessermenschen.

Aufgefallen ist mir, dass der medienwirksam verbreitete Meinungswechsel einiger Parteien in der Atomstromfrage sich keineswegs in reger Teilnahme der Parteimitglieder an der Mahnwache gegen Atomkraft niedergeschlagen hat. Für Lokalpolitiker wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, Empathie mit den Opfern der Natur- und Technikkatastrophe in Japan zu zeigen, und zu sagen, was es ihrer Meinung nach für Springe konkret bedeutet, dass nach Fukushima die Möglichkeit eines Nuklearunfalls ernster genommen werden muss.

Havarien und Beinahe-Havarien von Atomkraftwerken in den letzten 35 Jahren beschreiben das Risiko dieser Technologie. Die Mathematikprofessoren Göran Kauermann und Helmut Küchenhoff haben in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 30. März dargelegt, dass die Sicherheit eines Atomkraftwerks nur um den Faktor 10 höher ist als die eines Verkehrsflugzeuges. Da es zirka 15.000 Verkehrsflugzeuge und 400 Atomkraftwerke gibt hören wir häufiger von Flugzeugunfällen und täuschen uns bei der intuitiven Sicherheitseinschätzung. „Zehnmal sicherer als ein Verkehrsflugzeug“ ist bei den ungleichen Unfallfolgen unakzeptabel. Der Begriff „Restrisiko“ ist ein Euphemismus zur Verschleierung eines relevanten Betriebsrisikos von Atomkraftwerken. Die Teilnahme an der Mahnwache gegen Atomkraft in Springe ist eine gute Möglichkeit auszudrücken, dass wir das uns bedrohende relevante Betriebsrisiko nicht mehr akzeptieren.

Nachtrag: Es ist immer noch schlimmer als man denkt.
In der HAZ/ Deisteranzeiger berichtet Andreas Zimmer am 14. April 2011 auf Seite 3 im Artikel Die Jodtabletten lagern im Klinikum :
„Alle Springer bis 45 Jahre erhalten Jodtabletten zum Strahlenschutz, die die Region im Springer Klinikum lagern. Wie viele es genau sind, darüber machte Regionssprecher Meyer keine Angaben.“

Das radioaktive Jod jedenfalls unterscheidet nicht zwischen unter und über 45jährigen.

Bürgerreporter:in:

Horst-Günter Neubauer aus Springe

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