Myheimat, eine Erzählung
ES MUSS ETWAS GESCHEHEN!

Da sitzt er nun wieder an der gleichen allabendlichen Stelle, hat den Fernseher ausgeschaltet, schaut zu beiden Seiten auf sein Sofa, das ihm nun schon viele Jahre treue Dienste geleistet hat. Früher saß er dort mit seiner Frau, die er seit Jahren regelmäßig auf dem städtischen Friedhof besucht. Lebensabend, geht es ihm durch den Kopf. Er fühlt sich aber noch nicht so müde, um sich in die ewige Nacht zu begeben. Dafür fühlt er sich noch zu fit im Geiste. Alles, was sich da draußen abspielt, ob nah, ob fern, packt ihn immer noch, interessiert ihn, so dass er sich damit auseinandersetzt, für ihn eine geistige Nahrungsaufnahme, vitaminreich und sättigend.

Natürlich verfolgt er bei seinen Spaziergängen, wie sich sein Lebensumfeld verändert, manches nach seinem Dafürhalten zum Guten, anderes zum Schlechten. Panta rei, alles fließt. Eine Welt, der Veränderungen essenziell innewohnen. Für ihn gibt es bei der Begutachtung und Beurteilung dieser Veränderungen keinen Tellerrand. Er fühlt sich hellwach und bemerkt natürlich, dass er selbst nur ein unbedeutendes atomares Teilchen in dieser Veränderungswelt ist ohne die Möglichkeit durchgreifender Einflussnahme.

Seine Gedanken wandern zum Ukrainekrieg, den die soeben ausgestrahlten Fernsehnachrichten zum x-ten Mal thematisiert haben. Wieder mal zivile Todesopfer. Was für ein Angriffskrieg, wenn nicht mehreren kranken Hirnen, so doch zumindest einem kranken Hirn entsprungen, diese vom Angreifer titulierte militärische Spezialoperation, die ursprünglich für wenige Tage geplant war, inzwischen aber angesichts völliger Fehleinschätzung des zu Erwartenden nun schon anderthalb Jahre andauert und immer mehr Tod, Leid und Zerstörung ablädt, und das alles, ohne dass ein Ende des Krieges abzusehen ist!
ES MUSS ETWAS GESCHEHEN!
So schießt es ihm durch den Kopf. Der Krieg in der Ukraine kann doch kein Dauerzustand sein. Aber er kommt nicht drauf, was genau geschehen muss und wie das herbeigeführt werden kann, damit der Krieg endlich ein Ende hat. Er fühlt tiefe Ratlosigkeit.

Er sieht aber auch, dass seinen Landsleuten dieser im Osten Europas ausgetragene Krieg immer mehr am Arsch vorbei geht. Seufzend erhebt er sich vom Sofa, um sich in seiner Küche einen Tee aufzusetzen, mit dem er sich schon bald auf seinen kleinen Balkon begibt, um dort mit Blicken nach unten auf das dortige Straßenleben und nach oben in die unendlichen himmlischen Weiten den Abend ausklingen zu lassen. Was geht es mir doch gut, denkt er sich und nippt an seinem heißen Tee.

Geht es denn nicht den meisten Menschen gut, jedenfalls bei uns, fragt er sich. Leben wir nicht in einem Land, in dem das Recht auf Zufriedenheit ohnehin einen hohen Stellenwert besitzt? Und ist nicht für die Wohlfahrt eines jeden Einzelnen weitgehend gesorgt? Er kann die Fragen nur bejahen, stößt dabei aber auf das Empfinden, dass in der Gesellschaft viel Unzufriedenheit, mitunter gar Empörung signalisiert wird - und das mit zunehmender Tendenz. Ist es vielleicht gerade die Sattheit, das Gefühl, keine existenzsichernden Ziele mehr anstreben zu müssen, nicht mehr für etwas kämpfen zu müssen, diese Sattheit, welche die Menschen an einen Kipppunkt hat ankommen lassen, von dem an das negative Denken zunimmt, das sich anschickt, die Gesellschaft zu zersetzen.
ES MUSS ETWAS GESCHEHEN!
So hallt es wieder durch seinen Kopf. Und auch hier wieder die Frage: Aber was?

Er glaubt nicht, dass Menschheitsprobleme wie der Klimawandel oder das militärische Selbstvernichtungspotenzial die Menschen missmutig werden lässt, zumal ohne die Medien, welche die Bedrohungen mal mehr, mal minder deutlich vermitteln, der Einzelne mangels persönlicher unmittelbarer Erfahrungswerte die Problematiken allenfalls am Rande sähe. Missmutig machen viele Menschen eher die vernünftigen Klimaschutzmaßnahmen, da sie ihnen etwas abfordern, da sie kosten und sich im Geldbeutel bemerkbar machen. Der Klimawandel interessiert da weniger, auch wenn sich seine Auswirkungen immer deutlicher abzeichnen.

Er überlegt. Aus den weniger begüterten, aber hinreichend durch eigene Arbeit oder staatliche Fürsorge versorgten Kreisen scheint die sich breit machende Unzufriedenheit nicht zu kommen. Er glaubt, diese Unzufriedenheit, die sich häufig in verbalem Eindreschen auf die Politik niederschlägt, kommt hauptsächlich aus der Mitte der Gesellschaft, kommt von Menschen, die eigentlich saturiert sind, aber sich nicht übersättigt fühlen, so dass sie sich noch Luft nach oben für sich selbst vorstellen können. Und dann stellen sie fest, dass viele Gelder, die, wenn auch nicht nötig, ihnen auch gut zu Gesicht ständen, abfließen ins soziale Netz. Und dort sehen sie auch zahlreiche Zugewanderte mit Aufenthaltstiteln, deren Berechtigung sie zum Teil anzweifeln, deren Vergabe auch tatsächlich niemand mehr durchschaut. Von einer Warte auskömmlichen Wohlstandsniveaus hat sich ein nach unten gerichteter Neid entwickelt. Viele Unzufriedene haben die Überzeugung, ihnen würde etwas vorenthalten, was ihnen doch eigentlich zustände. Und wenn diese Nutznießer dann auch noch kulturfremd sind, werden der Neid und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, durch eine Sündenbocksuche flankiert. Fündig werden viele Menschen dann sowohl bei den Zugewanderten als auch bei der Politik.
Das ist doch kein einfach hinzunehmender Zustand, denkt er und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Teetasse.
ES MUSS ETWAS GESCHEHEN!
Ach immer wieder das Gleiche, und immer wieder die Frage: Aber was?

Regen setzt ein, keine Zeit mehr für versunkene Nachdenklichkeit des alten Mannes. Er sucht wieder seine warme Stube auf, trinkt den Tee auf, stellt die Tasse auf die Spüle, gähnt herzhaft und denkt: Für heute weiß ich, was geschehen muss. Ich muss jetzt ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag. Und schon bald schläft er voller Zufriedenheit ein.

Bürgerreporter:in:

Helmut Feldhaus aus Rheinberg

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