Turmuhr zu verschenken

Montage-Versuch im Kirchturm
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Die Boblaser Kirchturmuhr ist seit Menschengedenken ein zuverlässiger Führer durch den Zeitlauf des Tages. Sie mahnt morgens zum Beginn des Tagwerkes oder zeigt an, dass man sich im Bett noch mal umdrehen kann. Wie in alten Zeiten fordert sie den Feierabend der Boblaser pünktlich ein. Nachts begleitet ihr Stundenschlag die Menschen durch den Schlaf und gibt so bis in die Träume hinein vertraute Sicherheit.

Über all die Jahre hinweg hat sich immer ein Boblaser gefunden, der täglich die steile und enge Treppe in das Gebälk des Turmes hinaufkletterte, um die schweren Gewichte hochzukurbeln, die die Uhr und das Schlagwerk antreiben. Viele Jahrzehnte lang hatte dieses wahrhaft ehrenvolle Amt Bauer Alfred übernommen, bis ihm schließlich das Alter den Kirchschlüssel aus der Hand nahm. Seit dem kümmert sich Lenz Werner jeden Abend um das Aufziehen.

Die Uhr soll aber nicht einfach nur gehen, sondern dies auch möglichst präzise tun. Bei einem über hundert Jahre alten Uhrwerk ist das eine echte Herausforderung. Nicht nur dass in Zeiten, wo auf jedem Nachtschrank ein Funkwecker steht, die Ganggenauigkeit für jedermann leicht zu überprüfen ist: Bei günstigem Wind ist auch der Glockenschlag der Neidschützer Uhr zu hören, und genauer als diese sollte die Boblaser Uhr schon gehen.

Der Klang vom Kirchturm wurde so sehr zur vertrauten Selbstverständlichkeit, dass mancher vielleicht nur noch selten bewusst ihrem Schlag gelauscht haben mag. Erst, als er plötzlich fehlte, merkte man mit Bestürzung, wie wichtig und unverzichtbar den Boblasern ihre Turmuhr geworden war.

Was war passiert? Ein Uhrwerk, das über Jahrzehnte, bei staubiger Hitze wie nebligem Frost, pausenlos hohe mechanische Kräfte bewältigen muss, braucht schlicht und einfach regelmäßige Wartung. Der Uhrmacher, der die Uhr früher fachkundig betreute, ist schon lange im Ruhestand. Seit dem lief die Uhr auf Verschleiß. Lager liefen trocken. Räder griffen nicht mehr sauber ineinander. Zahnspitzen brachen aus. Gleitflächen nutzten sich ab.

Am Ende kam es, wie es kommen musste: Die Uhr war auch mit allem guten Zureden nicht zum Weiterlaufen zu bewegen. Zweimal am Tag zeigte sie auf ihrem schlichten weißen Zifferblatt die genaue Zeit. Ansonsten hüllte sie sich in Schweigen.

Nun war guter Rat teuer. Wie teuer genau wurde den Boblasern klar, als Meister Eckhard Wende aus Wendelstein den Schaden begutachtet hatte: Das Herz der Uhr, das Ankerrad, war so verschlissen, dass es wohl niemals wieder gleichmäßig und zuverlässig ticken würde. Auch das Lager des Ankers war auszutauschen.

Natürlich muss die Uhr repariert werden! sagten die Boblaser einhellig.
Wer aber soll das bezahlen?
Klar doch: Der Eigentümer der Uhr! sagten die Boblaser.
Aber wem gehört sie denn?
Gerüchte besagen, dass um 1900 der damalige Rittergutsbesitzer die Uhr den Boblaser Einwohnern geschenkt hat. Also gehörte sie wohl der Gemeinde Boblas und ist mit der Eingemeindung in das kommunale Eigentum der Stadt Naumburg übergegangen?

Nein nein! sagt die Stadt. Schließlich ist die Uhr ja Teil der Kirche. Da wird sie wohl der Pfarrgemeinde gehören…
Tja! sagt der Pfarrer. Im Archiv sind keine Dokumente dazu zu finden...

…und wenn sie nicht gestorben sind, dann streiten sich Kirche und Stadt immer noch darum, wem die Uhr am meisten nicht gehört.

Aber so lange wollten die Boblaser nicht warten. Sie stellten eine Sammelbüchse auf und füllten sie mit Münzen und Scheinen. Auch die Gäste des Dorfes verweigerten ihre Spende nicht. So kam in kurzer Zeit der stolze Betrag von 558,75€ zusammen.

Jetzt konnte man Meister Wende das Startsignal für die Reparaturarbeiten geben. In seiner Werkstatt in Wendelstein entstand ein neues blitzblankes Ankerrad aus Messing. Mit diesem „Neuen Herz“ sowie einem neuen Lager sollte das Uhrwerk verjüngt werden.
Bei der Montage im Turm der Boblaser Kirche stellte sich aber ein weiteres Problem heraus: Nicht nur die mangelnde Wartung war Ursache für den hohen Verschleiß, sondern auch ein Konstruktionsfehler, den die Uhr quasi von Geburt an mit sich trug: Die Paletten, mit denen der Anker in das Ankerrad greift und sich den Schwung für das Pendel holt, waren in einem ungünstigen Winkel angebracht. So konnte die Uhr niemals optimal laufen.

Also wurde das Uhrwerk kurzerhand in die Werkstatt nach Wendelstein verfrachtet, um dort grundlegend überarbeitet zu werden. Das musste erwartungsgemäß den ursprünglich vorgesehenen Kostenrahmen sprengen, und die Boblaser überlegten schon, wie und wo sie weitere Gelder auftreiben könnten. Aber Herr Wende winkte ab. Das bekomme er schon hin, meinte er. Einige Tage später – in den letzten Tagen des Februar – war die Uhr zurück an ihrem angestammten Platz und verrichtet seit dem wieder zuverlässig und präzise ihr Tag- und Nachtwerk.

Wenn jetzt der Stundenschlag über das Dorf schwebt, dann zeigt er nicht nur die Zeit an. Er kündet auch von Menschen, die ihre Herzensangelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Darauf können die Boblaser stolz sein. Aber es schwingt auch immer die Sorge mit, wie wohl die notwendige Wartung in den kommenden Jahren finanziert werden soll.

Deshalb: Wer möchte eine Turmuhr geschenkt bekommen?

Der neue Besitzer müsste sich allerdings verpflichten, zukünftige Wartungs- und Reparaturkosten zu übernehmen.

Bürgerreporter:in:

Matthias Friedrich aus Naumburg (Saale)

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