Sonderbarer Besuch in den Abendstunden

Zeichnung: W. Kreiner

eine philosophische Erzählung

Es war einer jener tristen, grauen Herbsttage.
Den gesamten Tag über herrschte schon dieser fürchterliche Sturm. Überall riss er die letzten Blätter von Büschen und Bäumen, fegte sie über Straßen, Plätze und Häuser hinweg, um sie dann irgendwo in Hauseingängen, Dachrinnen oder Straßengräben zur letzten Ruhe zu betten.
Ich hatte mich in mein Arbeitszimmer zurückgezogen und lag auf dem Sofa, um etwas Ruhe und Besinnung von einem arbeitsreichen Tag finden zu können. Ich verspürte einfach keinerlei Antrieb mehr zu größeren Aktivitäten. In einer eher schon lethargischen Stimmung ließ ich mich einfach treiben und in den beginnenden Abend hinein fallen.
Es dunkelte bereits.
Kaum dass ich noch die einzelnen Gegenstände innerhalb des Zimmers ausmachen konnte. Im Liegen griff ich nach den Streichhölzern und zündete eine heruntergebrannte Kerze auf dem Tischchen neben mir an. Sogleich verbreitete sich im gesamten Raum ein recht behagliches Licht. Eine schon beinahe feierliche Stimmung in dieser Stille, durch die nur manchmal das Rütteln des Windes am gesamten Haus drang, der immer wieder einmal ein paar Regentropfen mitbrachte und gegen die Fensterscheiben warf.
Das brennende Streichholz noch in der Hand, richtete ich mich etwas auf, um meine Pfeife erneut anzuzünden, die nun schon zum wiederholten Male ausgegangen war. Dies weniger aufgrund eines konkreten inneren Bedürfnisses, als vielmehr durch die Macht einer Gewohnheit. - Eines stündlich eingeübten Rituals eigener Willenlosigkeit.
Sinnend sah ich dem Rauch nach, wie er langsam, immer neue Figuren bildend, empor schwebte, um sich dann irgendwo hoch oben an der Decke des Zimmers zu entkonkretisieren.
Das Cognacglas auf dem Tischchen war leer. In mir kämpfte ein Verlangen nach einem weiteren wärmenden Schluck und der Hoffnung auf Milderung meiner momentanen inneren Beklommenheit einen Kampf mit meiner Trägheit, meiner Unlust, nun deshalb aufstehen zu müssen, um mir erneut einzuschenken.
Ich blieb liegen.
So da liegend verlor ich mich immer mehr an Gedanken und Spekulationen über das Leben, die Lebenszusammenhänge und den tieferen Sinn des Seins zwischen Anfang und Ende. Liegt der Sinn des Lebens im Geworfensein - im Dasein an sich? Gibt erst das eine Leben einem anderen Leben Sinn? Oder ergibt sich gar der Sinn meines Lebens aus den Inhalten, die ich ihm durch meine freien Willensentscheidungen setze?
Mein Blick war nachdenklich zur Zimmerdecke gerichtet. Schon mehr mechanisch legte ich meine erneut ausgegangene Pfeife neben den Aschenbecher. Tristesse.
Meine Gedankenakrobatien, meine innere Stimmung, das Wetter draußen, die Wärme des Zimmers, und nicht zuletzt diese beiden Gläser Cognac, die ich vorher schon getrunken hatte, ließen mich zunehmend antriebsloser, träger und unbeweglicher werden. Irgendwann wurde ich dann von der in mir aufkommenden Müdigkeit überwältigt und schlief ein.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon so da gelegen hatte, als es klingelte. Missmutig stand ich auf und begab mich nachdenklich zur Haustür. Wer konnte das um diese späte Stunde noch sein? Wer wollte mich da noch so völlig unangemeldet besuchen? Ich machte im Vorraum Licht und während ich öffnete, schaltete ich die Außenbeleuchtung ein.
Draußen stand ein Herr, den ich vorher noch niemals gesehen hatte.
Ein unbestimmtes Gefühl aber, eine unbestimmte Ahnung, bedeutete mir in diesem Moment, dass ich im Grunde schon immer wusste, diesem Herrn einmal irgendwo zu begegnen. Nur wusste ich eben nie, wann, wo und auf welche Weise dies geschehen würde. Und nun stand dieser Herr so ganz plötzlich und unerwartet vor mir.
Vom ersten Augenblick an verspürte ich zwar eine gewisse Vertrautheit und Sympathie ihm gegenüber; ähnlich, wie man sie zu einem alten Bekannten hat. Und dennoch - vieles innerhalb meiner Gefühle war in diesem Moment unbestimmbar, unsicher und distanziert.
Der Herr war tadellos gekleidet und von mittlerer Körpergröße. Er mochte vielleicht gerade so groß wie ich sein, denn unsere Augen lagen in etwa auf gleicher Höhe. Zwar konnte ich seine Gesichtszüge nicht ganz ausmachen, da die Haustür einen Schatten auf sein Gesicht warf. Doch in seiner gesamten Haltung, seinem Wesen, das etwas Souveränes, etwas die gesamte Situation Bestimmendes hatte, lag etwas, dem ich mich kaum entziehen konnte, ja, gar nicht entziehen mochte, weil es das Zusammentreffen mit ihm für mich wie zu einer inneren Hoffnung werden ließ. Gerade so, als spräche alles in mir ein einziges großes ‘Endlich!’.
„Guten Abend...!“, sagte er in einem für mich sehr angenehmen Tonfall und riss mich damit aus meiner stummen Verwunderung. „Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle“, und während er sich mit vornehm anmutender Höflichkeit leicht verbeugte, wobei er den Kopf etwas geneigt hielt, „mein Name ist Tod!“
Nicht dass ich erschrocken gewesen wäre. Nein! Schon vielmehr aufgrund gewisser Beschämung, dass gerade mir solch ehrenvoller Besuch zuteil werden sollte, verschlug es mir augenblicklich die Sprache.
Ich wusste nicht, womit ich meinem Gast hätte dienen oder entgegenkommen können, ja - nicht einmal, mit welchen Worten ich ihn hätte begrüßen sollen. Ein ‘Willkommen’ lag mir zwar auf den Lippen. Und dennoch, - irgendetwas hinderte mich gleichzeitig, es auch auszusprechen.
Offenbar bemerkte mein Besucher aber meine Befangenheit.
Er trat an mir vorbei, ohne dass ich ihn hereingebeten hatte. Ja gerade so, als sei es für ihn eine Selbstverständlichkeit, bei mir einzutreten. Ja schon beinahe so, als sei er hier von jeher irgendwie zuhause und willkommen gewesen.
„Aber bitte, so legen Sie doch ab!“, fand ich meine Sprache wieder, als ich die Haustür hinter uns geschlossen hatte und ihm Sekunden später im Vorraum gegenüber stand. Er legte seinen dunklen weiten Umhang ab, verwehrte mir aber gleichzeitig mit einer abwinkenden, bestimmenden Geste, ihm den Umhang abzunehmen. Mit lässigem Schwung warf er ihn über einen freistehenden Stuhl nahe des Eingangs und wandte sich gleich wieder mir zu.
„Ich möchte Sie nicht lange stören, aber da ich nun gerade an Ihrem Haus vorbei ging, da dachte ich mir, ich könnte...“
„Oh!“, fiel ich ihm ins Wort und um Höflichkeit bemüht „...Sie stören mich im Moment überhaupt nicht!“
Er hielt kurz in seiner Bewegung inne und sah mich direkt an. „Ach, kommen Sie! Im Grunde störe ich doch beinahe überall, wohin ich auch komme!“
„Aber bitte...“, versuchte ich die Situation sofort zu überspielen, „...so treten Sie doch erst einmal näher und kommen Sie herein!“
Er folgte mir und ich ließ ihn, in der geöffneten Tür zu meinem Arbeitszimmer stehend, an mir vorbei eintreten. Ich machte eine Stehlampe an. Interessiert und stumm stand er nun da und sah sich im gesamten Raum um.
Als ich mich nach zwei, drei Schritten durch das Zimmer wieder ihm zuwandte und feststellte, dass er mich noch immer ruhig dastehend aufmerksam beobachtete, bemerkte ich eher nachdenklich:
„Eigenartig, gerade vorhin, als ich auf meinem Sofa lag und über das Leben nachdachte, da streiften meine Gedanken auch Sie ein paar Mal. Dies taten sie übrigens auch schon früher immer wieder einmal. So ein Zufall, dass Sie gerade jetzt bei mir vorbeikommen. Aber so nehmen Sie doch bitte Platz!“
Er folgte meine Aufforderung, ließ sich auf einem eher unbequemen Lehnstuhl vor dem Bücherregal nieder und während er sich zurücklehnte, wobei er seine Beine leicht überkreuzt weit von sich streckte, ließ er, mit einem Lächeln um seine Mundwinkel, einen Seufzer los und meinte:
„Ja ja, das Leben, ich verstehe!“
Und während ich mich ihm gegenüber auf meinem gewohnten Sofaplatz ebenfalls nieder ließ, sah er mich sogleich direkt und fragend an: „Sie müssen sich demnach aber ganz gehörig vor mir fürchten! Ich meine, wenn Sie sich immer wieder so sehr mit mir beschäftigen - oder?“
Diese Frage kam überraschend für mich. Und ich wurde mir in diesem Moment auch nicht so recht bewusst, weshalb ich mir den Tod seit jeher in seiner Erscheinung stets ganz anders vorgestellt hatte.
Dieser Herr hier glich allerdings schon viel eher einem vornehmen Herrn, der obendrein trotz seines offensichtlich recht fortgeschrittenen Alters noch so viel an Jugend und Vitalität ausstrahlte und zu dem mir auf Anhieb auch ein gewisses Vertrauen möglich war, so dass ich ihm schon viel eher die Hand meiner Tochter anvertraut hätte, wäre ich von ihm darum gebeten worden.
„Ich meine die Furcht, welche die Menschen so ganz allgemein vor mir zu haben pflegen!“, riss er mich erneut aus meinen Gedanken.
„Fürchten...?“, erwiderte ich ihm stockend, „Nun, ja, hmmm. Aber da Sie nun hier bei mir sind und wie Sie mir nun so ganz direkt gegenüber sitzen, ich meine so nahe, im wahrsten Sinne leibhaftig, ja beinahe schon vertraut, aber auf alle Fälle ganz anders in Ihrer Erscheinung, als ich Sie mir stets vorstellte, nun, da ist mir meine frühere Furcht vor Ihnen schon beinahe selbst unverständlich!“
Sein Gesicht überzog sich mit einem breiten Lächeln. „Sehen Sie, dies erlebe ich immer wieder, egal wohin ich auch komme!“
„Eigenartig!“, entfuhr es mir, „Wie das Wort ‘Erlebe’ gerade aus Ihrem Munde klingt!“ Ich konnte dabei ebenfalls ein Lächeln nicht vermeiden.
„Nun...,“ entgegnete der Tod, „...das mag nur für Sie eigenartig klingen,“ und machte dabei mit seiner Linken eine eher herablassende Geste, „...weil Sie nicht begreifen können, dass Tod und Leben eins sind!“
„Aber....“ entgegnete ich, „...ist dies denn nicht gegen jegliche Logik?“
„Ach hören Sie doch auf!“, meinte der Tod verächtlich und beinahe schon etwas gereizt, „Kommen Sie mir doch jetzt nicht mit Ihrer Logik daher! Seit wann bin ich denn - übrigens ebenso wie das Leben - bewusst, rational oder gar logisch zu begreifen, hm? Und nehmen Sie denn im Ernst an, ich ließ mich irgendwie berechnen von den Lebenden? Vielmehr bin ich doch der Tod und das Leben gleichermaßen! Aber dies,“ so fuhr er fort, „begreift vermutlich der Tote in seinem Todesbewusstsein noch viel eher, als der Lebende in seinem selbst empfundenen Existential!“
Verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Nun begreife ich Sie offenbar überhaupt nicht mehr!“
Augenblicklich gewann der Tod sein süffisant unergründliches Lächeln zurück und seine Gesichtszüge entspannten sich wieder. „Nun, mein lieber Freund, dann sind Sie dem Wesentlichen vor mir schon ganz schön auf der Spur und näher, als Sie offensichtlich ahnen. Denn zu verstehen bin ich gerade für die Lebenden noch niemals gewesen. Ich lasse mich einfach in keinem rationalen Gedanken unterbringen, bin nicht einzuordnen in irgendwelche Kategorien und schon gar nicht faktisch zu belegen!“
Und wie nach für mich verständlicheren und begreifbareren Worten suchend, meinte er kopfschüttelnd: „Verstehen Sie! Solange Sie nämlich bei klarem Verstand sind, sofern es - verzeihen Sie - derartiges im menschlichen Dasein überhaupt geben mag, solange komme ich ja ohnehin nicht zu Ihnen! Dann aber, wenn ich tatsächlich einmal zu Ihnen kommen werde, dann..., dann werden Sie bar jeglicher spekulativer Vernunft sein, das versichere ich Ihnen!“
Verzweifelt rang ich nach Gegenargumenten.
„Aber, im Moment sind Sie doch bei mir. Sie sitzen mir doch gegenüber! Und nun wollen Sie mir allen Ernstes einreden, ich wäre gerade jetzt zu keiner logischen Schlussfolgerung fähig. Nicht mehr fähig, selbst jetzt im Gespräch mit Ihnen auch nur einen klaren, vielleicht auch spekulativen Gedanken zu fassen?“
Der Tod lächelte mich an. In seinen Augen glomm etwas Geheimnisvolles auf.
„Und woher nehmen Sie die Sicherheit, dass es auch tatsächlich so ist, wie Sie im Moment denken und empfinden?“, wollte er plötzlich von mir wissen. „Wie wollen Sie den schlüssigen Beweis mir gegenüber führen, dass Sie im Moment auch tatsächlich mit mir sprechen, dass Sie selbst denken und zu logischen Schlussfolgerungen fähig sind?“
Erneut trat sekundenlanges Schweigen ein, in dem ich nach einer Beweismöglichkeit meiner momentan selbst empfundenen Existenz suchte.
„Aber, Sie sitzen doch vor mir, leibhaftig! Und ich unterhalte mich doch ganz vernünftig mit Ihnen!“, begehrte ich plötzlich auf.
„Oh..., ich bin mir meiner Position, sowie der momentanen Situation durchaus bewusst!“ stellte er in überlegenem und direktem Ton lakonisch fest.
„Können Sie sich jedoch ebenso sicher sein, dass auch Sie im Moment vor mir sitzen und mit mir sprechen? Oder sitze ich nicht vielmehr nur vor einem Ihrer Gedanken, Träume, Vorstellungen oder Illusionen? Wessen können Sie sich denn jeweils überhaupt sicher sein? Dem Leben? Mit allem, was Sie innerhalb dessen für Realität halten?“
Betreten richtete ich meinen Blick zu Boden. Ich versuchte mich zu erinnern.
Erneut hatte ich dieses Wiederholungsempfinden, das mich im Leben schon so oft berührte. Wie nennt man die Augenblicke des Erinnerns? ‘Déjà-vu’! Ein Gefühl, etwas schon einmal gesehen, erfahren oder erlebt zu haben. Vielleicht in einem Traum? In einem anderen Leben? Oder hatte ich vielmehr schon einmal etwas gelesen und zu verstehen versucht? All die Schlagworte, die ich kannte und zu einer möglichen Erklärung dieser momentanen inneren Empfindung hätte heranziehen können, würden zu banal und unwirklich klingen. Mir fiel das ‘Höhlengleichnis’ von Platon ein. Ja, natürlich! Das musste es sein! Die Erkenntnis einer Infragestellung all dessen, was ich seither für Realität hielt.
Bindet mich der Tod nun los und führt mich zum Eingang dieser Höhle? Ans Licht? Lässt er mich nun die Realität erkennen? fuhr es mir durch den Kopf.
Ich sah ihn wieder direkt an.
„Demnach wären Sie also das Nichts, die völlige Leere, das absolute Ende von allem, was ich bisher kannte, Leben nannte und für Realität des Lebens hielt?“, warf ich ihm zornig, ja schon beinahe provokativ entgegen.
„Sehen Sie....,“ entgegnete er mir ruhig, „...hier unterliegen Sie - wie übrigens die meisten Menschen - dem großen Irrtum, im Zusammenhang mit mir an etwas Absolutes, etwas Endgültiges zu glauben. Dabei wären aber derartige Ansichten über mich schon viel eher in ihrer Umkehrung, ihrem Gegenteil richtiger.“
„Aber...., wer oder was sind Sie denn dann tatsächlich?“ schrie ich ihn schon beinahe verzweifelt an.
„Aber, aber, ich bitte Sie! Weshalb denn nun plötzlich so laut werden?“ Er sah mich dabei eindringlich an. „Bedenken Sie doch, dass ich die Ruhe selbst bin. Ja, wenn Sie so wollen, sogar die ewige Ruhe!“
Eine Zeitlang überließ er mich meinen Gedanken.
„Wissen Sie...,“ fuhr er völlig unpathetisch fort, „...ich könnte vermutlich noch so viele Worte darauf verwenden, Ihnen mein wahres Wesen nahe bringen zu wollen, Sie hätten ja vermutlich doch keinen Sensor, keinen Draht dafür, einfach keinerlei Möglichkeit, mich völlig begreifbar in Ihrer Vorstellungswelt unterzubringen.
Mit keinem Ihrer Vorstellungen, Gedanken und Bilder, die Sie sich von den Dingen machen und mit Ihrem Verstand zusammen zimmern könnten, würden Sie mein wahres Wesen auch nur annähernd zu erfassen in der Lage sein!“ Und mit weit auseinander gebreiteten Armen seine Worte unterstreichend: „Selbst mit dem, von den Menschen im Zusammenhang mit mir häufig gebrauchten Begriff ,Ewigkeit’ könnte ich Ihnen jetzt keine brauchbare Vorstellung von mir geben, denn ich liege ganz einfach, im wahrsten Sinne des Wortes, jenseits jeglicher lebendiger Vorstellungen!“
Er ließ seine Arme wieder auf die Stuhllehnen sinken und machte eine Gedankenpause, in der er seinen Blick sekundenlang auf einem Wandkalender ruhen ließ, ehe er mich wieder eindringlich ansah und fortsetzte:
„Wissen Sie, selbst wenn Sie versuchen wollten, Zeiträume aneinander zu reihen, Stunden, Tage oder gar Jahre, millionenfach, so blieben Sie mit Ihrem Verstand und Ihrem Vorstellungsvermögen doch stets in einer an sich nur ans Leben gehafteten Zeit gefangen, aus gerade dieser ich Sie aber einmal hinausbegleiten werde. Und dies eben gerade zu jenem Zeitpunkt, an dem diese, Ihre Zeit, an die Ihr Leben stets gebunden war, abgelaufen sein wird. Sie wird einfach aufgehört haben, zu dauern!“
Mit den gespreizten Fingern seiner rechten Hand fuhr er sich flüchtig durchs Haar. Er hatte schönes, dichtes Haar, welches er nach hinten gekämmt trug und das an den Schläfen schon leicht graumeliert schien, wie ich jetzt erst, da meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt war, bemerkte.
Erneut herrschte sekundenlanges Schweigen, bevor ich mit verständnislosem Kopfschütteln weiter in ihn zu dringen versuchte:
„Sie selbst können also demnach die Definition ihrer wahren Existenz auch nicht in für mich verständliche Worte fassen?“ und bevor er etwas darauf erwidern konnte, setzte ich hinzu: „Aber können Sie mir denn dann nicht wenigstens eine Ahnung, einen begreifbaren oder sichtbaren Weg, ein Schauen oder Fühlen ermöglichen, eine Wahrnehmung oder Empfindung vielleicht, wenn ich Sie schon mit meinem Verstand nicht fassen kann? Es muss doch gerade Ihnen möglich sein, mich aus meiner Verständnislosigkeit zu erlösen!“
Eindringlich sah er mich eine ganze Weile an.
Ich hatte den Eindruck, als verstünde er meine plötzliche Erkenntnis eigener Wahrnehmungsgrenzen ganz genau.
Wieder verstrichen Sekunden, in denen der Tod mit keiner Geste erkennen ließ, dass er hierauf etwas zu erwidern beabsichtigte.
Dieses Schweigen wurde mir beinahe unangenehm und ich suchte deshalb nach Worten, den Faden doch wieder aufzunehmen und weiterzuspinnen. Zu vieles lag für mich noch im Dunkeln und zu groß gestaltete sich meine Neugierde, als dass ich mich mit dem bisher Gesagten hätte zufrieden geben wollen.
Der Tod hatte sich indessen leicht umgewandt und betrachtete über seine Schulter meine zahlreichen Bücher im Regal hinter sich.
„Also...,“ meinte ich beinahe schon resignativ, worauf sich der Tod sofort von den Büchern abwandte und mich erwartungsvoll ansah, „...ich bin so ziemlich am Ende meiner Vorstellungsmöglichkeiten, was Sie, beziehungsweise Ihre Existenz betrifft, und beinahe so schlau wie vorher. Und dies, obwohl Sie sich doch nun wirklich Mühe gemacht haben, sich mir zu erklären.“
Für einen kurzen Augenblick senkte der Tod seinen Blick, dann sah er mich wieder direkt und entschlossen an.
„Nun gut...!“, fuhr er plötzlich in die Stille, „Da ich als barmherzig ja bekannt bin und mir Ihre momentane Verzweiflung natürlich auch nicht ganz verborgen bleiben kann, will ich Ihnen helfen! Zunächst will ich Ihnen aber erst einmal klar machen, wer oder was ich keinesfalls bin!“
Er lehnte sich gemütlich in seinem Stuhl zurück, schlug ein Bein über das andere und formte durch Aneinanderlegen seiner Finger- und Daumenspitzen mit auf den Lehnen aufgestützten Ellenbogen einen Dom, wobei er zunächst schweigend und nachdenklich mit den Daumenspitzen seinen Mund berührte. Gespannt sah ich zu ihm hinüber. Dann ließ er plötzlich seine gefalteten Hände in den Schoß fallen und begann erneut in ruhigem Ton zu sprechen:
„Nun ja...., wie Sie ja sicher bereits bemerkt haben werden, bin ich hier bei Ihnen nicht als Gerippe erschienen und auch nicht als Gespenst in irgendwelchen weißen Laken. Und genauso wenig bin ich eine geisterhafte Erscheinung, die in Gräbern oder Gruften haust und nach Verwesung und Moder riecht!“
Und während er plötzlich mit dem ausgestreckten Zeigefinger seiner Rechten energisch nach oben deutete und seine Stimme dabei anhob, dass ich erschrak, setzte er hinzu:
„Und da ich höherem Auftrag gehorche, lasse ich mir auch von niemandem befehlen, zu erscheinen!“
Er zögerte einen Augenblick, ehe er seine Hand wieder herunter nahm und in ruhigerem Tonfall mit einem Lächeln um seine Mundwinkel fort fuhr:
„Obwohl, ganz nebenbei bemerkt, viele geradezu nach mir rufen und schreien, ja förmlich darum betteln, dass ich bei ihnen erscheine und sie mit mir nehme. Weil sie es nämlich aus den unterschiedlichsten Gründen, die sie sich aber doch meist selbst geschaffen haben, dort, wo sie sind, nicht mehr ertragen können, zu sein!“
Sein Lächeln nahm nun beinahe schon einen verschmitzten Zug an, als er hinzu setzte:
„Übrigens..., manchmal wünscht man mich sogar für jemand anderen, ohne dass derjenige allerdings eine Ahnung davon hat. Aber lassen Sie sich versichern, gerade in diesen Fällen gebe ich mich äußerst bedeckt und zurückhaltend.“ Und nach einer kleinen Gedankenpause: „Bedenken Sie bei all dem aber stets eines: Ich komme nicht zufällig und Sie haben auch kein Glück, wenn ich vor Ihnen erst bei anderen erscheine und Sie eine Zeitlang überhaupt nicht berührt werden von mir. Denn Zufall und Glück sind Begriffe, die der Mensch erfunden hat, um manches, das er sonst mit seinem Verstand nicht mehr fassen kann, nun glaubt, ausgerechnet damit besser erklären zu können. Doch lassen Sie sich versichern: An diese Begriffe mag der Mensch zwar glauben, so wie er ohnehin an alles Selbsterschaffene und Selbsterdachte mehr glaubt, als an Wahrhaftiges, Seiendes, Existierendes. Doch glauben Sie mir, diese Begriffe gibt es nicht. Und es kann sie auch gar nicht geben. In einer Welt, in der alles und jedes, ja selbst das Allerkleinste und Einfachste einen bestimmten Platz hat und alles einem bestimmten Sinn entspricht, ja mehr noch..., einer viel höheren Idee, in einer derartigen Welt wären Zufall und Glück ohne Sinn und eben jeglicher Gesetzmäßigkeit enthoben. Eine derartige Welt wäre Chaos. In einer dergestalten Welt gäbe es dann auch weder Sie, noch mich. Ach was! Es wäre einfach unsinnig anzunehmen, es könnte derartiges geben!“
Er bemerkte mein ungläubiges Erstaunen. Ich blieb aber stumm und sah weiter erwartungsvoll zu ihm hinüber. „Wollen Sie...“ so fuhr er unvermittelt fort, „...dass ich Ihnen hierin einen kleinen Beweis liefere? Einen, den Sie, wenn Sie wollen, auch sofort nachvollziehen können?“ Es war schon beinahe ein provokativer Unterton in seiner Stimme.
„Nun ja, bitte!“, entkam es mir stotternd und unsicher. „Ganz wie Sie wollen.“
„Dazu“, meinte er, „möchte ich Ihnen zuerst eine Frage stellen dürfen.“
„Ja bitte, gerne!“, gestand ich ihm erwartungsvoll zu.
„Nun gut!“, begann er. „Wie ich weiß und auch an Ihren vielen guten Büchern hier gesehen habe, sind Sie doch ein einigermaßen gebildeter, zumindest aber doch belesener Zeitgenosse.“ Und nachdem ich hierauf nichts erwiderte: „Nun..., welches Ihrer Bücher halten Sie selbst inhaltlich für das, mit den meisten Lebensweisheiten, mit den größten Erkenntnissen über das menschliche Dasein?“
Diese Frage zwang mich, tatsächlich einen Moment darüber nachzudenken.
„Nun, die Bibel denke ich!“, entkam es mir, mehr zögerlich zwar, ja beinahe etwas verlegen. Und doch war ich innerlich irgendwie überzeugt von meiner Antwort.
„Sehen Sie! Und nun sage ich Ihnen einmal etwas: Die Bibel besteht aus etwa einer Million Wörter. Und nun versuchen Sie einmal, darin irgendwo die beiden Wörter ,Zufall’ oder, Glück’ zu finden!“
Ich musste in diesem Moment ziemlich ungläubig und zweifelnd dreingeschaut haben und, nachdem er merkte, dass ich hierauf nichts erwiderte, setzte er noch hinzu: „Wohlgemerkt! Den Begriff, ‚Glück’ meine ich jetzt im Zusammenhang mit ‘Glück - haben’ und nicht ‘Glück - empfinden’! Obwohl selbst das Glücksempfinden für den Menschen nichts anderes ist, als lediglich eine Spanne des Wohlbefindens zwischen zwei Spannen des Unwohlseins!“
Wiederum machte er eine kleine Gedankenpause, in der er kurz zum flackernden Kerzenlicht blickte, gleich darauf aber fort fuhr:
„Aber um nun wieder auf den Begriff: ‘Glück’ zurückzukommen, bezieht sich das vorher Gesagte - Sie werden sich nun wundern - ebenfalls auf den menschlichen und deshalb ebenso unsinnigen Begriff: ‘Unglück’. Denn glauben Sie mir! Sogar das Unglück - um nun einfach einmal bei diesem Begriff zu bleiben - hat seinen jeweiligen Sinn. Nur ist dieser für den Menschen meist, wenn überhaupt, sehr schwer erkennbar und mit Sicherheit noch schwerer begreifbar!“
Stumm saß ich da und hörte dem Tod aufmerksam und gespannt zu. Blitzartig stiegen Gedanken und Bilder aus meiner Vergangenheit in mir auf. Bilder von Situationen und Begebenheiten, welche ich bis dahin für glückliche oder unglückliche hielt. Erinnerungen an die verschiedensten Begegnungen, bei denen ich stets an Zufälligkeiten glaubte. Und nun sollte ich plötzlich in all dem einen tieferen Sinn oder eine festgesetzte Bestimmung für mein ganz persönliches Leben erkennen? Gleichzeitig wurde mir aber auch bewusst, dass ich die bisherigen Stationen meines Lebens mit all ihren Situationen, Begebenheiten und Begegnungen noch niemals vorher in diesen Zusammenhängen betrachtet hatte. Noch niemals vorher war mir auch nur der Funke einer Idee gekommen, mein Leben könnte in einem tieferen Sinn oder gar einer Bestimmung begründet sein.
„Aber, um wieder auf das zurückzukommen, was ich Ihnen eigentlich nahe bringen wollte.“ riss mich der Tod erneut aus meinen Gedanken, „Ich bin, wenn Sie so wollen, genauso wirklich, wie Ihr Gesicht im Spiegel. Vergleichbar bin ich vielleicht auch mit der Abendröte, welche den Tag beendet und die Nacht beginnen lässt! Ich gleiche der Geburt und dem ersten Atemzug eines Kindes ebenso, wie dem ersten Sonnenstrahl hinter den Wolken nach einem Gewitter. Oder aber auch dem Sichtbarwerden der Natur hinter den zerreißenden Nebeln! Ebenso vergleichbar wäre ich etwa mit dem Ankommen an einem Reiseziel. Ich bin also demnach jeweils der Anfang eines Endes und in tiefster Verzweiflung, Not, Hoffnungslosigkeit und Schwäche schon wieder der erwachsende Mut, die spürbare Hoffnung, die wachsende Stärke! Bin in dem, was stirbt, bereits das erwachende Leben. Ich bin sozusagen der allerletzte Schritt vom letzten Schmerz in eine erste Freude. Ich bin ein Pol! Der Gegenpol des Lebens, ohne den Sie das Leben überhaupt nicht begreifen könnten!“
„Aber, das ist doch ein Widerspruch!“, rief ich dazwischen.
„Nun, nicht unbedingt und auch nur scheinbar für Sie“ wies mich der Tod zurück „Aber lassen Sie mich erklären, vielleicht begreifen Sie dann!“
Er sah kurz zum Fenster. Draußen war es inzwischen völlig dunkel geworden.
Erneut wandte er sich mir zu.
„Wissen Sie!“, fuhr er fort, „Sie können jeden Begriff überhaupt erst mit einer näheren Bestimmung gebrauchen und eben auch nur dann definieren, wenn Sie auch den jeweiligen Gegenpol kennen.
Was beispielsweise wäre für Sie die Helle, wenn Sie nicht auch das Dunkel erfahren könnten? Und was wäre die Weite, wenn Sie nicht auch Nähe, Höhe, wenn Sie nicht auch die Tiefe und Hitze, wenn Sie nicht auch Kälte kennen würden? Glauben Sie im Ernst, auch nur einer dieser Begriffe könnte für sich alleine existieren? Nein, mein Lieber! Auf Erden gibt es einfach kein begreifbares Ding, welches nicht erst durch ein anderes zu dem wird, was es ist - welches sich nicht durch ein anderes erst ergibt und mit diesem, als seinem Gegenpol untrennbar verbunden bleibt. Beides erst bildet jeweils jene Einheit, die zum Leben überhaupt befähigt ist. Stirbt eines von beiden, so muss es vom jeweils anderen erneut hervorgebracht werden, ja..., alleine durch die Existenz des anderen neu bedingt sein, weil sonst auch das andere sterben würde und alles Lebendige erlöschen müsste!
Nehmen sie zum Beispiel die Blume auf dem Felde: Sie ist das Leben, das sichtbare Leben. Ihr Gegenpol ist die Erde, aus der sie hervorgegangen ist, aus der sie während ihrer sichtbaren Existenz ihre Kraft zum Leben bezieht und zu der sie auch irgendwann zurückkehren wird, wieder Erde wird, um erneut als Blume aus ihr zu erwachsen. Und nun frage ich Sie: Was wäre die Blume ohne die Erde? Und wäre nicht auch die Erde sinnlos und überflüssig, käme nicht die Blume und all das andere Leben aus ihr?
Verstehen Sie nun? Blume ist Erde und Erde ist Blume! Millionenfach im Wechsel und immer wieder beides gewesen. Und wohlgemerkt; in ständig fortschreitender, tausendfacher Besserung!
Blume und Erde sind eins!
Leben und Tod sind eins!“
Nachdenklich saß ich vor ihm und lauschte seinen Worten.
Mir fiel die Güte in seinen Augen auf. Augen, in denen nicht die kleinste Verschlagenheit, keinerlei Falsch auszumachen gewesen wäre. Augen, mit denen der Tod mich nun ansah, so wie ein Vater etwa sein Kind ansieht, dem er in Liebe und Fürsorge etwas Entscheidendes für sein künftiges Leben zu erklären sucht.
Obwohl sich meine Gedanken in diesem Moment förmlich überschlugen, und ich in der Tat nicht wusste, was ich ihm hierauf hätte erwidern können, wirkte dieser Blick von ihm doch eher beruhigend auf mich.
Dennoch - im Stillen versuchte ich verzweifelt, Beispiele aus meinem bisherigen Leben zu finden, aus denen ich wenigstens ein Gegenargument hätte konstruieren können. Aber es gelang mit nicht, sosehr ich mich auch darum bemühte. Vielmehr wurde mir immer mehr bewusst, das wahre Wesen meines Besuchers alleine mit meinem Verstand niemals vollständig erfassen zu können, auch wenn ich dies momentan nicht wahrhaben wollte. Mir fielen seine Worte ganz am Anfang unseres Gesprächs wieder ein, die nun immer mehr Gültigkeit für mich bekamen.
In diesen Augenblicken des nun erneut eingetretenen Schweigens hatte ich das Gefühl, als bemerkte der Tod ganz genau, was in mir vorging. Offenbar völlig bewusst überließ er mich eine Zeitlang meinen Gedanken. Scheinbar um mir meine Befangenheit, meine momentane Verlegenheit etwas erträglicher zu machen, fuhr er selbst fort:
„Begreifen Sie nun langsam, dass auch ich ohne das Leben überflüssig wäre und dass auch das Leben ohne mich ohne Sinn sein würde, ja im Grunde sogar seine Existenzgrundlage verlöre!
Ich bin einer der beiden Pole, die ich einmal mit Anfang und Ende bezeichnen möchte und die den Bogen der Spannung, den Sie, lieber Freund, als Leben begreifen, erst aufrechterhalten! Er deutete erneut mit dem Daumen über seine Schulter auf die Bücher hinter sich. „Sie brauchen doch nur an all das denken, was Sie bereits kennen! Diese beiden Pole finden Sie doch überall in Ihrem Dasein. In der Natur, der Physik oder der Dynamik beispielsweise. Oder könnten Sie sich Bewegung ohne Energie, Elektrizität ohne den Minuspol vorstellen? Versuchen Sie doch einfach das Ganze zu begreifen - das unabdingbar Zusammengehörige!“
Ich begann zu verstehen. Und dennoch. So viel an Fragen, soviel an Unklarheit und Unverständnis war noch in mir.
„Aber...“ begann ich nun eher zaghaft einen Versuch, doch noch eine Antwort auf meine Zweifel zu erhalten, „...weshalb lösen dann Ihre Berührungen stets so viel an Trauer und Tränen, so viel an Kummer, Leid und Hoffnungslosigkeit aus, wenn alles so einfach ist, wie Sie mir gerade nahe zu bringen versuchten?“
Mit leichtem Kopfnicken, so, als hätte er mich verstanden, ja, als hätte er sogar gerade diese Frage von mir erwartet, erwiderte er:
„Nun ja, auch diese Frage überrascht mich keineswegs und ich will Ihnen auch hierauf eine Antwort geben!“
Er löste sich aus seiner bequemen Sitzhaltung, in der er bisher verharrte und beugte sich etwas nach vorne. So, als wollte er mir bei dem nun Folgenden etwas näher sein. Mit gedämpfter Stimme, in der beinahe etwas Feierliches mitklang, fuhr er fort:
„Wissen Sie, viele Menschen tragen ihren Glauben wie einen Umhang, unter dem sie ihre schlimmsten Ängste und Befürchtungen, aber ebenso ihre Bedürfnisse verbergen. Derjenige aber, der in der Lage ist, innerhalb seines Erlebens über diese Fassade hinaus zu wachsen, der bereit ist, am Leben selbst zu reifen und der obendrein von Ewigkeit ergriffen sein kann, ich sage Ihnen, derjenige fürchtet sich auch vor mir nicht! Dem Außergewöhnlichen, dem wahren Helden seines Lebens, dem räume selbst ich das Feld. Kampflos! Derjenige kann sogar mich besiegen, den Tod! Denn, und dies sei Ihnen versichert, es waren stets die Helden ihres eigenen Lebens, die mir ohne Furcht, Trauer, Jammer und Leid entgegentraten! Angst hingegen, und auch dies möchte ich Ihnen ganz deutlich sagen, Angst hatten schon von jeher stets nur die Unaufrichtigen, die Bequemen, die Egoisten, die vermeintlich Zukurzgekommenen und die Feigen! Und vor mir zu drücken versucht haben sich stets auch nur jene, die sich im Grunde auch schon vor dem Leben zu drücken versuchten. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Und, indem er sich in seinem Stuhl wieder etwas zurücklehnte, bemerkte er mit einem eher überlegen wirkenden Lächeln: „Wissen Sie, im Grunde ist es schon recht eigenartig, um nicht zu sagen seltsam, wie all die anderen Menschen, die Unreifen, die Dummen, die Gedankenlosen und die in sich total Widersprüchlichen mit mir oftmals umgehen. Fast alle wünschen sich beinahe krampfhaft, ihr Weg zu mir möge noch recht weit sein und es möge doch um Himmels Willen noch eine möglichst große Strecke Wegs zwischen ihnen und mir liegen.....“ und mit einem eher mitleidlosen Seitenblick auf meinen vollen Aschenbecher und das leere Cognacglas auf dem Tischchen: „.....und dabei tun sie doch alles Erdenkliche, so schnell wie möglich mit mir zusammenzutreffen! Sie kommen mit Riesenschritten auf mich zu. Ja, manche sogar mit zweihundert Stundenkilometern in ihrem Auto. Grade so, als ginge es ihnen zu Fuß zu langsam! All diese Menschen tragen eine unbewusste Sehnsucht nach mir, nach der Ruhe durch mich in sich, die ich dann eben nur erfülle! Irgendwann. Eben dann, wenn ich die Zeit hierfür als gekommen ansehe. Aber glauben Sie mir, oft denke ich mir, dass für manche Menschen die Erlösung durch mich noch viel zu früh kommt. Dass ich sie vielmehr in ihrem selbsterschaffenen und selbstgestalteten Leben so lange gewähren lassen sollte, bis sie durch eigenes Leid, selbst verursachten Schmerz, ja auch durch die selbst geschaffene innere Leere zum Wesentlichen durchgedrungen sind, am Leben gereift sind und erkennen können, womit oder wodurch sie den eigentlichen Wert ihres Lebens vergeuden! Und dies, lieber Freund, dies sind dann jeweils die Situationen, in denen selbst ich in sehr große Zweifel gerate, unsicher werde, zögere und auch schon mal abwarte! Die Feigen aber, die kehren dem Leben allerdings schon vor dieser Erkenntnis für immer den Rücken und kommen ganz von selbst zu mir! Für sie ist der Tod die einzige Möglichkeit, so nicht weiterleben zu müssen. All die anderen aber, denen die Begrenztheit ihres eigenen Daseins noch nicht so tief im Bewusstsein sitzt, die mich, beziehungsweise meine Existenz ganz einfach verdrängen, das sind genau diejenigen, die mit ihrem Leben so umgehen, wie mit allen anderen Dingen, von denen sie glauben, sie stünden ihnen in unbegrenztem Maße zur Verfügung. Und sie gehen dann ja auch jeweils maßlos und gedankenlos damit um. Glauben Sie mir! Richtig sinnvoll kann der Mensch erst dann mit allem umgehen, wenn er sich der Begrenztheit dessen auch jeweils voll bewusst ist. Und hierin muss er mich eben wie selbstverständlich von Anfang an mit einbeziehen. Und überhaupt! Glauben Sie, es gäbe auch nur einen Menschen, der sinnvoll mit seinem Leben umgehen könnte, würde es ewig währen? Glauben Sie, der Mensch würde so etwas wie Verantwortung, Ehrgeiz oder Fleiß kennen, ja er wäre überhaupt zu irgendeiner Leistung fähig, er würde heute etwas tun, von dem er genau wüsste, dass er es morgen, in einem Jahr oder in einhundert Jahren ebenso noch tun könnte? Glauben Sie, der Mensch würde einen Sinn darin sehen, die Gegenwart fortzusetzen, wenn alles in der Zukunft läge? Nein, mein Lieber! Das Leben, so wie Sie es kennen, würde ganz plötzlich stillstehen. Es würde insgesamt einer gewissen Lethargie anheim fallen, gäbe es mich nicht. Eine Welt, die in Visionen auf Zukünftiges zuhause wäre, wäre eine Welt der tatenlosen Ungewissheit. Ja, wenn Sie so wollen, dann bin ich erst der eigentliche Antrieb, der Motor des Lebens, der notwendigerweise alles Lebendige erst richtig im Fluss hält! Beim ewigen Leben aber müsste die Vervielfachung der Erfolge durch die Verminderung des Ehrgeizes geteilt werden. Niemand wäre ganz er selbst. Niemand wäre völlig frei. Das Sterben bietet eine einzige Möglichkeit, zu leben. Erst im Tod wird der Mensch frei von der Last der Vergangenheit!“
Hier machte der Tod eine Pause. Er legte sein rechtes Bein über das linke und strich sich dabei erneut mit gespreizten Fingern eine Strähne aus der Stirn. Ich spürte aber, dass er mit seinem Gedankengang noch nicht am Ende war, schwieg also und wartete weiter gespannt ab. Erst jetzt, als ich eine gewisse innere Ruhe zurückgewonnen hatte, ja, mich in der Situation sogar etwas aufgehoben und geborgen fühlen konnte und dabei meinen Besucher bewusst und aufmerksamer wahrzunehmen in der Lage war, fiel mir auf, dass er völlig schmucklos war. Er trug weder eine Uhr, noch einen Ring oder Manschettenknöpfe, wie man es bei einem derartigen Herrn normalerweise erwartet hätte. Dennoch wirkte alles an ihm ästhetisch und fein aufeinander abgestimmt. Mir fielen seine schönen, schlanken, gepflegten, ja beinahe durchgeistigten Hände auf, mit denen er stets all seine Worte geschickt und unaufdringlich gestikulierend zu unterstreichen verstand. Nun ruhten sie wieder in seinem Schoß. Ich glaubte bei ihm ein kurzes Lächeln wahrzunehmen, in das sich ein Hauch von Geistesabwesenheit mischte, ehe er fort fuhr:
„Merken Sie sich! Die Zukunft, auch auf mich bezogen, nicht die Vergangenheit mit all ihren angesammelten Erfahrungen, ihrem Wissen oder gar zwangsweise Angelerntem, ist die Triebkraft allen menschlichen Handelns - des Lebens an sich! Und da ich den Menschen nicht ständig so tief im Bewusstsein sitze, was oftmals natürlich auch sein Gutes hat, bringe ich mich ihm eben ab und zu auf die unterschiedlichste Weise in Erinnerung, mache ihn nachdenklich und ergriffen. Rufe ihn gewissermaßen wieder zur Ordnung! Und traurig ist der Mensch dann jeweils nur deshalb, weil er sich durch die urplötzlich über ihn hereinbrechende, aber dennoch distanzierte Erfahrungen mit mir seiner eigenen Begrenztheit etwas bewusster wird. Einer Begrenztheit eben, der alles Lebendige bedingungslos unterworfen ist. Er wird sich plötzlich klar darüber, dass ich ohne Ansehen der Person, des Standes, des Besitzes oder der Bildung auswähle. Dass ich weder bevorzuge, noch benachteilige. Dass ich weder manipulierbar, noch beeinflussbar und schon gar nicht käuflich bin! Er begreift ganz plötzlich, dass er vieles in seinem Leben völlig falsch bewertet hat und dass ihm in der Kleidung, in der er einst mit mir kommen wird, nicht einmal mehr Taschen nützlich sein werden!“ Und nachdenklich fügte er hinzu:
„Nach dem Spiel finden sich König und Bauer eben in ein und derselben Schachtel wieder!“
Einen Augenblick schwieg er.
„Aber...“ setzte er unvermittelt und mit einem Lächeln hinzu, „...ich, der Tod, bin pikant! Um im Menschen die Selbstbeschränkung heimisch zu machen, weder vom Leben zu fliehen, noch in den Tod zurück zu flüchten, habe ich meine Existenz auf ein Mittelmaß zwischen süß und bitter abgestimmt. Süß, damit ich stets überwindbar bleibe. Damit die Furcht vor mir nicht unaushaltbar groß wird. Und bitter, um zu verhindern, dass der Mensch durch seinen bequem gemachten Gebrauch allzu gierig und unbesonnen nach mir greift!“
All die in mir durch seine Worte aufströmenden Gedanken und Gefühle konnte ich kaum in für mich verständliche Erklärungsbilder formen. Erneut starrte ich, seinen Blicken bewusst ausweichend, sekundenlang zu Boden. Dann sah ich ihn wieder direkt und fragend an.
„Aber, wie geht alles dann für mich weiter? Ich meine, nachdem Sie mich mit sich genommen haben werden? Was wird sich für mich dann alles ändern?“
„Also...,“ antwortete er ganz spontan, „...ich weiß gar nicht was Sie haben. Was soll sich denn schon groß ändern für Sie? Sie wandeln eben, wie beispielsweise die Energie, nur Ihre Erscheinungsform! Aber ändern..., ändern wird sich für Sie im Prinzip überhaupt nicht viel! Sehen Sie! Nehmen Sie zum Beispiel den Wein. Wein besteht bekanntlich aus Fruchtsaft und Alkohol. So! Und nun trennen Sie mal den Fruchtsaft vom Alkohol. Dann stirbt zwar gleichsam der Wein. Aber haben Sie dann nicht noch immer den Fruchtsaft und den Alkohol? Was also, bitte schön, hätte sich demnach denn groß geändert? Außer natürlich, dass Sie nun nicht mehr vom ‘Wein’ sprechen könnten! Verstehen Sie? Ich würde Sie also demnach - um einmal bei diesem Bild zu bleiben - nur vom weiterhin ‘Wein-sein-müssen’ erlösen. Nicht mehr! Denn, merken Sie sich: Ich binde nicht an irgendetwas. Ganz im Gegenteil. Ich löse ja gerade die Fesseln, mit denen Sie ans Leben gebunden sind!“
Und schon eher verwundert erscheinend setzte er hinzu:
„Wissen Sie, mir ist völlig unverständlich, weshalb mich die Menschen stets mit Krankheit in eine dermaßen negative Verbindung bringen. Haben Sie schon einmal jemanden gesehen, der an mir oder durch mich erkrankte? Im Gegenteil! Ich erlöse doch vielmehr gerade davon! Die Menschen erkranken schon viel eher am Leben und ich erlöse sie dann im Grunde jeweils nur vom ‘leben-müssen’. Vom ‘so-weiter-leben-müssen’! Im Grunde bin ich nämlich schon eher die Liebe alles Lebendigen, die Sanftmut in Person, die Erlösung von allem, was Angst macht, weh tut, falsch niederträchtig, gemein und verlogen ist. Der Tod aber ist stets aufrichtig!“
Und mit einem beinahe schon zynischen Lächeln meinte er eher nebenher: „Glauben Sie mir, für manche Menschen bin ich sogar der einzige Höhepunkt in ihrem Leben und manche, die ich getroffen habe, hielten sich selbst für so unwahrscheinlich wichtig, ja nahezu für unersetzbar. Sind aber dann, wie sich oft sehr schnell herausstellte, meist alleine schon durch die Lücke, welche sie in ihrem Leben hinterließen, fast vollständig ersetzt worden!“
„Oh!“, rief ich dazwischen und sah den Tod dabei überrascht an „Sie können ja richtig sarkastisch sein! Ein Zug, den ich an Ihnen bislang überhaupt noch nicht wahrnahm.“
„Ach,“ entgegnete er sofort, „ich bin nur ehrlich und hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich eben einmal nicht so todernst gewesen sein sollte, wie ich dies im allgemeinen zu sein pflege.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen und aufeinander gepressten Lippen sah er mich stirnrunzelnd an und als er nach einer Weile bemerkte, dass ich hierauf kaum mehr etwas zu erwidern beabsichtigte, fuhr er fort:
„Eines jedoch, mein Lieber, gilt für alle Menschen. Jeder Tag Leben ist ein Schritt näher zu mir hin. Der gegenwärtige Tag, die gegenwärtige Stunde ist jeweils der erste Schritt vom Rest Ihres Lebens. Und der Letzte kommt eben bei mir auch an! Der letzte Schritt macht nicht müde. Er zeigt nur, dass Sie es sind! Sie werden einfach irgendwann nur noch aus- und nicht mehr einatmen, so einfach ist Sterben! Und wenn Sie mich nicht zu manipulieren oder beeinflussen versuchen oder sich gar mit allen Ihnen vermeintlich zur Verfügung stehenden Mitteln gegen mich zur Wehr setzen, dann werden Sie sich Ihres letzten Schrittes ebenso wenig bewusst sein, wie Ihres allerersten in Ihrem Leben! Er wird dann eben einfach getan. Und zwar von Ihnen selbst! Irgendwann. Und er muss getan werden! Ebenso wie der erste Schritt in Ihrem Leben. Damit das Leben weitergehen kann, verstehen Sie? Die Natur zwingt dazu, so zu denken. So wie der Mensch aus dem Tod ins Leben gekommen ist, ohne Leidenschaftlichkeit und Bangen, so kehrt er aus dem Leben in den Tod zurück. Denn der Tod ist ein Stück der Ordnung im Universum. Er ist ein Stück des Lebens dieser Welt!“
Wieder schwieg er eine ganze Weile. Ich glaubte plötzlich so etwas wie Aufbruchstimmung bei ihm wahrzunehmen, da er sich erneut aus seiner bequemen Sitzhaltung löste und in seinem Stuhl aufrichtete. Seinen Blick einen kurzen Moment zum Fenster gewandt, gerade so, als sähe er nach dem Wetter draußen, machte er auf mich den Eindruck, als überlegte er, ob es sich noch lohne, einen weiteren Weg, eine weitere Besorgung oder gar noch einen Besuch irgendwo anders zu machen.
Noch immer regnete es draußen leicht, obwohl der Wind etwas nachgelassen hatte. Nur das Ticken des Regulators an der Wand drang in die momentane Stille. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Was würde nun geschehen? Würde der Tod mich nun mit sich nehmen? Ich hatte mir bis zu diesem Augenblick noch keinen einzigen Gedanken darüber gemacht. Aber trotz meines Herzklopfens war ich innerlich sehr ruhig und keineswegs von Angst und Panik ergriffen.
Plötzlich wandte sich der Tod wieder mir zu und meinte: „Denken Sie daran, lieber Freund. Sterben ist Notwendigkeit, nicht Strafe! Gestraft wären Sie schon viel eher mit dem ewigen Leben, wie Sie es kennen gelernt haben und bisher leben mussten! Hätte der Mensch den Tod nicht, glauben Sie mir, dann würde er Gott unaufhörlich fluchen, dass er ihn ihm entzogen gehabt hätte! Sterben ist offensichtlich doch die einzig wahre Schule des Lebens! Alles was der Mensch lebt, entzieht er dem Tod! Er lebt gewissermaßen zeitlebens auf meine Kosten! Die beständige Arbeit im Leben eines Menschen ist aber bereits Aufbau des Todes. Der Mensch ist bereits im Tode, während er im Leben ist und er ist hinter dem Tode, wenn er nicht mehr am Leben ist. Oder anders gesagt; der Mensch ist nach dem Leben tot, aber während des Lebens ein Sterbender! Der Tod ist kein Argument gegen das Leben, denn er findet ja im Leben statt! Und ich, der Tod, greife den Sterbenden viel rauer an, als den Toten. Nachdrücklicher, wesenhafter. Ich wünsche mir, den Menschen sein Haus bauend oder seinen Garten bestellend anzutreffen und dennoch unbekümmert um mich und seines unvollendeten Hauses oder seines unbestellten Gartens. Zu welchem Zeitpunkt sein Leben auch enden mag, es ist abgeschlossen! Der Nutzen, gelebt zu haben, misst sich ganz gewiss nicht nach der Dauer, sondern nach dessen Gebrauch. Manch einer lebt lange und hat dennoch wenig gelebt! An seinem Willen liegt es, genug gelebt zu haben, nicht an der Anzahl der Jahre! Sehen Sie doch Ihr individuelles Leben vielmehr als Chance, als wirklich große Chance an. Ja, als die einzige Chance, die Sie im Prinzip überhaupt haben! Nehmen Sie die Freiheit innerhalb Ihres Lebens wahr und geben Sie Ihrem Leben Sinn und Inhalt. Aber aufgepasst mein Lieber! Missdeuten und missbrauchen Sie diese Begriffe nicht! Die Freiheit innerhalb Ihres Lebens bedeutet nämlich keinesfalls, tun zu können, was Sie wollen, sondern bestenfalls tun zu dürfen, was Sie sollen! Und dabei sind die eigenen Ansprüche, Erwartungen und Bedürfnisse ebenso bedeutend, wie die anderer. Und erwarten Sie nicht, den Sinn Ihres Lebens schon alleine in Ihrem bloßen Existential zu finden! Ihr Leben kann nämlich nur den Sinn haben, den Sie ihm selbst geben. Aber das, glaube ich, wissen Sie ja bereits.“ Plötzlich und unvermittelt stand er von seinem Stuhl auf. Und, nachdem auch ich mich von meinem Sofaplatz erhoben hatte, kam er zwei Schritte auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Freundlich lächelnd blickte er mich an, während er mit beiden Händen den Sitz seiner Krawatte prüfte und seinen Anzug glatt strich. „Ich weiß nun wirklich nicht, ob ich Ihnen mit all dem bisher gesagten etwas über mein wahres Wesen vermitteln konnte, möchte Ihnen aber gleichzeitig, wie auch eingangs bereits angedeutet, zu bedenken geben, dass Sie mich vollständig zu begreifen wahrscheinlich niemals in der Lage sein werden. All das, was selbst ich Ihnen über mich vermitteln könnte, müsste für Sie stets unbefriedigend bleiben. Und dies schon alleine deshalb, weil ich um die Schwebe der Dinge weiß und von daher auch meine Antworten auf all Ihre Fragen für Sie immer nur im Ungefähren liegen können! Dennoch...“, er reichte mir die Hand, welche sich in der Tat weder kalt noch knochig anfühlte, sondern warm, weich und gütig. Mit einem herzhaften Druck meiner Hand verabschiedete er sich still von mir.
„Auf Wiedersehen!“ sagte ich, noch immer nachdenklich ergriffen und vielleicht auch noch etwas verlegen. „Oh!“, meinte er mit einem breiten Lächeln, „Da bin ich mir völlig sicher, mein Lieber! Aber in der Zwischenzeit, mein lieber Freund - ich darf Sie doch wohl so nennen? - in der Zwischenzeit, da leben Sie wohl!“
Erneut drückte er meine Hand dabei herzhaft und kraftvoll. Dann ließ er sie wieder los, drehte sich wortlos um und ging, ohne sich noch einmal umgesehen zu haben aus dem Zimmer. Im Vorraum ergriff er seinen Umhang und warf ihn sich mit einem Schwung über die Schultern. Den Griff der Haustür hatte er schon in der Hand. Als er jedoch bemerkte, dass ich ihm gefolgt war, drehte er sich noch einmal um, hielt in seiner Bewegung inne und verbeugte sich stumm. Ehe ich mich’s versah, hatte er sich erneut der Haustür zugewandt, sie geöffnet und war auch schon draußen.
Mit wenigen Schritten war ich bei der noch halb offen stehenden Tür. Als ich hinaus sah, nahm ich nur noch schemenhaft die Gestalt des Todes wahr, die sich eilenden Schrittes mit wehendem Umhang zwischen den Bäumen entfernte und kurz darauf in der Dunkelheit auflöste.
Draußen herrschte noch immer dieser mit Regenschauern durchsetzte Herbststurm, der nun wieder etwas heftiger am Haus rüttelte. Irgendwo gab es ein lautes Geräusch. Ein Fenster oder eine Tür wurde vom Wind erfasst und heftig zugeschlagen. Ich löschte die Außenbeleuchtung, sowie die des Vorraumes. Auf dem Weg zurück in die behagliche Wärme meines Arbeitszimmers kamen mir Worte von Michelangelo in den Sinn, die ich einmal irgendwo gelesen hatte: „Non nasce in me pensier che non vi sia dentro scolpita la morte”. (Nicht ein Gedanke keimt in meiner Seele, der nicht des Todes Antlitz trüge!).
Unschlüssig stand ich wenig später da und sah mich im Raum um. Mein umherschweifender Blick blieb am Bücherregal hängen. Ich trat näher heran und mehr unbewusst nahm ich die Bibel heraus. Eine Ewigkeit hatte ich sie schon nicht mehr in Händen. Ich setzte mich in den Lehnstuhl vor dem Bücherregal, in dem noch kurz vorher der Tod gesessen hatte. Ein sonderbares Gefühl beschlich mich dabei. Dann schlug ich die Bibel wahllos auf. Eng bedruckte Zeilen auf hauchdünnem Papier. Ich kramte auf dem Tischchen nach meiner Brille. Mein Blick fiel auf eine Stelle aus Psalm 39, Vers 5 und ich las: „Herr lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss...“ und nach einem Hinweis darunter auf Psalm 90, Vers 12 blätterte ich zu der angegebenen Seite und las weiter: „...lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“.
Ich las diese Zeilen mehrmals. Dann klappte ich das Buch wieder zu, begab mich zu meinem Sofa und legte mich erneut hin. Mein Blick zur Zimmerdecke gerichtet, dachte ich noch eine Weile über diese Worte nach und ließ auch das Gespräch, welches ich vorher mit dem Tod geführt hatte, nochmals in allen Einzelheiten in mir vorüberziehen. Die Flamme des Kerzenstummels flackerte noch einmal auf, ehe sie ganz erlosch. Ein wenig dieser gemütlichen Atmosphäre ging dabei verloren. Ja, dachte ich, der Tod hat Recht. Jegliche Angst vor ihm wäre in der Tat völlig unbegründet. Der Tod will ernst genommen werden und seinen festen Platz im Leben beanspruchen, nicht mehr, denn er beansprucht ja ohnehin nur den Platz ganz am Ende eines jeglichen Lebens. Und verleiht denn nicht gerade der Tod meinem Leben erst jene letzte lebendige Qualität? Gedankenverloren schweifte mein Blick im Zimmer umher. Doch er hielt nichts mehr fest, was in diesem Moment für mich von Bedeutung hätte sein können…
Dann schlossen sich meine Augen.

Erschienen in:
„Traumhändler“ – Kurzgeschichten und Erzählungen
Autor: Wolfgang Kreiner
© 2001 – Gryphon Verlag München
ISBN: 3-935192-27-4

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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