München: Welche Saat geht hier auf?

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Für das Überleben einer Gesellschaft als Ganzes ist es nicht unerheblich, wie Geschehnisse eingeordnet und interpretiert werden. Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass in ihrer Mitte monströse Taten stattfinden, die Angst und Schrecken verbreiten? Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass junge Männer erst andere Menschen töten und dann sich selbst? Wie eine Gesellschaft diese Taten verarbeitet, sagt sehr viel darüber aus, wie diese Gesellschaft verfasst ist.

Die Reaktionen aus der Gesellschaft, die ich seit Freitag mitbekommen habe, lassen wenig Spielraum für optimistische Einschätzungen. Ein Lichtblick bei den Ereignissen war die Bereitschaft vieler Menschen anderen, zum Teil Wildfremden, bei der praktischen Bewältigung von Transport- oder Übernachtungsproblemen zu helfen. Und die sachliche und kompetente Art des Münchner Polizeisprechers. Daran hätten sich viele andere ein Beispiel nehmen können.

Der Rest? Meiner Ansicht nach: Furchtbar. Das geht bei Journalist_innen los, die zusammen mit so genannten Experten zwar sagen, die Faktenlage sei dünn, es sei zu früh belastbare Aussagen zu machen, um sofort damit zu beginnen im Nebel des Konjunktivs herumzustochern und zu spekulieren, was das Zeug hält. Wer nichts weiß, sollte schweigen bis er etwas weiß und nicht hektisch hin und her schalten und immer wieder dieselben nichts sagenden Bilder zu senden.

Und die Politiker_innen? Anstatt besonnen und ruhig zu reagieren, zu versuchen die Angst zu dämpfen, den Schrecken begreifbar und einer Verarbeitung zugänglich zu machen, versuchen sie sofort Wasser auf ihre Mühlen umzuleiten. Der französische Präsident vorweg, der sofort von Terror und Krieg spricht und damit unausgesprochen – inzwischen auch - seinem unsäglichen „Krieg gegen den Terror“ das Wort redet.

Oder Horst Seehofer. Der erst mahnt, man müsse in aller Ruhe die Ermittlungsergebnisse abwarten, um im nächsten Satz von einem Angriff auf „unsere Sicherheit“ zu reden, die „verteidigt werden“ müsse. Und medienwirksam und Tatkraft vortäuschen eine Sondersitzung des Kabinetts einberuft. Oder Maximilian Krah (CDU Sachsen), der sofort twitterte »Die Willkommenskultur ist tödlich. Es geht um unser Land«.

Dass diese schrecklichen Taten etikettiert werden, um damit Ziele zu erreichen, ist eindeutig und liegt klar auf der Hand. Mit Etikettierungen verbinden sich auch strategische Interessen, und zwar sowohl auf der Seite der Täter als auch der Gesellschaft.

Hierzu der Anfang eines Beitrages von Götz Eisenberg auf den NachDenkSeiten mit dem Titel: „Von Orlando bis München: Amok oder Terror?“

„Doch wird kommen der Tag des großen Zorns …“
(Boris Sawinkow)

Die „Turboradikalisierung“ des Mohamed B.?

Nach dem LKW-Amok von Nizza wurde behauptet, der Mann habe sich innerhalb von vierzehn Tagen radikalisiert und in einen Dschihadisten verwandelt. Seit acht Tagen habe er sich als Zeichen seiner radikalen Konversion einen Bart wachsen lassen. Zuvor sei er nicht religiös gewesen, habe Schweinefleisch gegessen und Drogen konsumiert. Von den Behörden sei er bis dato nicht als sogenannter Gefährder eingestuft worden, sondern lediglich als Kleinkrimineller geführt worden.

So war er vor einiger Zeit wegen eines Körperverletzungsdeliktes im Straßenverkehr zu einer kurzen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Mohamed B. war verheiratet und hatte drei Kinder. Allerdings hatte seine Frau ihn wegen fortgesetzter übler Behandlung und Schlägen verlassen und die Scheidung eingeleitet. Was für eine Kränkung für einen Macho! So etwas brütet Rachegelüste aus. Und genau an dieser Stelle kommt der radikale Islamismus ins Spiel.

Man beginnt zu ahnen, dass die Kausalität genau andersherum verläuft wie von den Behörden angenommen: Er hat nicht gemordet, weil er sich dem Dschihad zugewandt hat, sondern er hat sich dem Dschihad zugewandt, weil er morden wollte, weil er es nicht mehr ertragen hat in seiner Haut. Der Mann hat sich „radikalisiert“, um seine schon lange gehegten Rachepläne mit „Sinn“ auszustatten. Auch Täter haben das Bedürfnis, das, was sie zu tun beabsichtigen, vor sich selbst und der Welt zu rechtfertigen und mit einem ideellen Überbau zu versehen.

Den Mord ohne Motiv, den leeren, gänzlich abstrakten „acte gratuit“, von dem bei André Gide die Rede ist, gibt es nicht oder nur extrem selten. Selbst Amokläufer haben mitunter den Versuch unternommen, ihre Tat in einen Begründungszusammenhang einzubetten und mit einem Kranz von Ideen zu umgeben, wie abstrus die im Einzelnen auch gewesen sein mögen. Der Ahnherr der deutschen Amokläufer ­- Ernst August Wagner – hat, nachdem man ihn nach seiner Tat im Jahr 1913 in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen hat, ganze Bände damit gefüllt. In seinen Erinnerungen fällt der Satz: „Von dem Vulkan, der in mir brütet und kocht, hat kein Mensch eine Ahnung.“

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Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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