Europa: Wer ist schuld am Desaster?

Europa- und weltweit sind sich Politiker_innen und Ökonom_innen jeglicher Couleur einig. Europa und die Europäische Währungsunion (EWU) befinden sich ökonomisch in einer prekären Lage. Dessen ungeachtet flötet In Deutschland Frau Merkel unverdrossen ihr "Deutschland geht es gut" und weder in den so genannten Leitmedien oder im politischen Raum - Ausnahme DIE LINKE - erntet sie dafür ernsthaften Widerpruch.

Unter eher linken Ökonom_innen wird derzeit darüber gestritten, welche Ursachen der europäischen Misere zugrunde liegen und wie diese Misere zu beenden sei. Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas behaupten in einem Buch "Nur Deutschland kann den Euro retten" und sehen in der "Lohnzurückhaltung" und der Agenda 2010 mit Stagnation oder sogar Rückgang der Reallöhne in der Bundesrepublik über viele Jahre die tieferen Ursachen der Misere.

Kauf/Verkauf vs. Bezahlung

Dies bleibt nicht unwidersprochen. In seinem Beitrag vom 24. Mai 2016 geht Norbert Häring auf seinem Blog (hier nachlesen) auf einen Beitrag von Paul Steinhardt (hier nachlesen) ein, der wiederum einen Beitrag von Frederic Heine und Thomas Sablowski in "Prokla" diskutiert. Dirk Ehnts schreibt dazu auf "Makroskop" in einem Beitrag vom 29. Mai:

"Es geht in deren Beitrag um die Frage, ob die deutsche Lohnpolitik oder internationale Kapitalströme für die Krise der Eurozone verantwortlich sind.

Heine und Sablowski schrieben in ihrem Beitrag:
„Der Zustrom von Kapital ist bestimmend für den Importsog und die damit verbundenen Leistungsbilanzdefizite in den Krisenländern.“

Heine und Sablowski identifizieren also eindeutig einen Schuldigen: Das Kapital. Steinhardt dagegen argumentiert „nur“, dass diese These mit der Funktionsweise des Euro-System nicht in Einklang gebracht werden kann und daher abzulehnen ist."

Norbert Häring spitzt zu und schreibt "Deutschlands Keynesianer beharren auf Alleinschuld der Lohnpolitik am Elend des Euroraums" und stützt die These von Heine und Sablowski, dass "Finanzströme in der Führungsrolle" seien.

Meiner Ansicht nach irren Heine, Sablowski und Häring. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die krisenträchtigen Ungleichgewichte im Euroraum nicht erst im Jahre 2007 entstanden, sondern exakt mit Beginn der Währungsunion (siehe Grafik). Bis 2007/2008 hatte die große Mehrheit der Entscheider und Ökonomen dieses Problem allerdings übersehen.


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Ein weiterer Umstand spricht gegen die These, dass die „Finanzströme“ die Ursache der Probleme seien.

Was ist das Kernproblem der Eurozone? Das Kernproblem der Eurozone besteht – verkürzt - darin, dass die Bundesrepublik Deutschland einen gigantischen Überschuss in der Leistungsbilanz gegenüber den europäischen „Partnern“ vor allem im Süden Europas einfährt. Und dieser Leistungsbilanzüberschuss beruht vor allem auf einem satten Plus in der Handelsbilanz. Dies hat zur Folge, dass derzeit Jahr für Jahr in den Finanzierungssalden der Bundesbank ein Betrag von über 200 Milliarden Euro als Nettokreditgewährung an das Ausland ausgewiesen wird.

Wie entsteht nun der Überschuss bei Leistungs- und Handelsbilanz konkret? Nun er entsteht dadurch, dass die Bundesrepublik per Saldo mehr verkauft als sie einkauft. Und vice versa, die Partner mehr einkaufen als verkaufen. Jeder Verkauf ist gleichzeitig ein Kauf. Es entstehen gleichzeitig eine Forderung beim Verkäufer und eine Verbindlichkeit beim Käufer. Beim Verkäufer steigt das Geldvermögen, beim Käufer sinkt das Geldvermögen (Geldvermögen = Zahlungsmittel plus Forderungen abzgl. Verbindlichkeiten). Die realwirtschaftlichen Akte Kauf/Verkauf führen zu den Ungleichgewichten.

Beim „Bezahlen“ ändert sich das Geldvermögen weder beim Verkäufer noch beim Käufer. Der Verkäufer hat zwar nach dem Bezahlen keine Forderung mehr, dafür sind seine Zahlungsmittel gestiegen. Der Käufer ist zwar seine Verbindlichkeit los, dafür haben seine Zahlungsmittel abgenommen. Die Geldvermögen sind nach dem Bezahlen somit gleich geblieben. Nebenbei bemerkt, dies zeigt, dass jemand der verschuldet ist, seine Schulden nur dann loswerden kann, wenn er Verkaufsüberschüsse erzielt. Kredite ändern an einer Verschuldungssituation nicht das Geringste. Denn eine Kreditvergabe ändert an dem Geldvermögen eines Wirtschaftssubjektes nichts. Seine Forderungen und seine Verbindlichkeiten steigen in der Höhe des Kreditbetrages.

Somit ist festzuhalten:
1) Die bundesdeutsche Volkswirtschaft produziert weit mehr Waren und Dienstleistungen als im Inland aufgenommen werden können. Die Bundesrepublik lebt „unter ihren Verhältnisse“
2) Die europäischen Partner kaufen weit mehr Waren und Dienstleistungen aus der Bundesrepublik als sie im Gegenzug an die Bundesrepublik verkaufen können. Die Partner leben „über“ ihren Verhältnissen
3) Gäbe es die Möglichkeit von Auf- und Abwertung würde die Währung der Bundesrepublik aufwerten, die Währung der Partner abwerten.

Fragt man sich nun, welche Ursachen diesem Befund zugrunde liegen, so erscheint mir die Erklärung, dass die Löhne und Gehälter in der Bundesrepublik (genauer die Lohnstückkosten) nicht genug gestiegen sind, eine sehr plausible zu sein. Wenn die Lohn- und Gehaltssumme in der Bundesrepublik nicht ausreicht, um die in Deutschland produzierten Waren und Dienstleistungen auch in Deutschland zu kaufen, ist sie zu niedrig.

Wenn man weiterhin zur Kenntnis nimmt, dass die Lohnstückkosten sehr eng mit der Inflation und den Preisen korrelieren – das heißt Inflation und Preise folgen den Lohnstückkosten (siehe nächstes Schaubild) – dann ist auch klar, warum die Verbraucher in den Partnerländern liebend gerne zu deutschen Waren greifen: Sie sind bei gleicher Qualität einfach billiger (übernächstes Schaubild)!


Quellen der beiden Grafiken: www.flassbeck-economics.de

Mein Fazit: Die These „von der Führungsrolle der Finanzströme“ ist nicht haltbar. Die Ungleichgewichte entstehen durch die realwirtschaftlichen Akte Kauf/Verkauf und nicht durch Vorgänge bei der Finanzierung derselben. In Abwandlung eines Bibelzitates gilt für unsere Wirtschaftsordnung: „Am Anfang steht der Kauf/Verkauf“.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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