Aufhebung des Fraktionszwangs - finde ich gut!

Nachstehend ein interessanter Artikel von Egbert Scheunemann zum Thema "Regierungsbildung in Deutschland" mit sehr vernünftigen Vorschlägen zum Thema "Abgeordnete und Fraktionszwang".

Jamaika, GroKo, was auch immer – wie wäre es mit radikaler Demokratie?

Wie man perspektivisch zu einer humanen, sozialen, ökonomisch sinnvollen, ökologisch nachhaltigen und demokratisch weithin legitimierten Politik kommen könnte. Hier und jetzt. Die Mehrheiten dazu sind da, auch im 19. Deutschen Bundestag – sie können sich aufgrund von Partei-, Fraktions- und kommenden Koalitionszwängen nur nicht äußern.

Egbert Scheunemann

Man kann sich über das Scheitern der sogenannten Jamaika-Sondierungen zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen freuen (wie ich) oder auch nicht (wie andere). An diesem Scheitern lässt sich auf jeden Fall bilderbuchartig verdeutlichen, worauf ich hinaus will. Denn woran sind die Jamaika-Sondierungen gescheitert – und woran scheiterten, in zeit-historischer Perspektive, andere Versuche von Koalitionsbildungen durch die Reihe?

Am Versuch, gesamte Politikprogramme (Parteiprogramme) zu bündeln, sie hinreichend zur Deckung zu bringen. 1Wären nur einzelne Politikbereiche (Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Rentenpolitik, Migrationspolitik, Rüstungspolitik etc.) zu koordinieren gewesen, hätten sich sehr schnell jene Politikbereiche und programmatischen Einzelziele der Parteien herauskristallisiert, bei denen Mehrheiten bestehen, und jene, bei denen eben keine Mehrheiten bestehen – aber womöglich Mehrheiten bestehen würden, hätte man alle im Parlament vertretenen Parteien befragt, hätte man alle Programme abgeglichen, hätte man alle Volksvertreterinnen und Volksvertreter des Bundestages ohne jeden Fraktionszwang und in geheimen Abstimmungen darüber entscheiden lassen.

Die programmatischen Übereinstimmungen zwischen den Parteien sind nämlich überwältigend groß – je nach Politikbereich natürlich mehr oder weniger. Wenn Wähler nach einzelnen Politikfeldern entscheiden können – und das können sie zum Beispiel beim sogenannten Wahl-O-Mat 2–, offenbaren sich frappierende programmatische Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien. Grüne und Linke etwa stimmen zu weit über 80 Prozent programmatisch überein, SPD und Grüne zu weit über 70 Prozent– und SPD und CDU immer noch zu fast 70 Prozent. Sogar bei CDU und Grünen liegt die Übereinstimmung bei über 50 Prozent. Den geringsten programmatischen Gleichklang gibt es zwischen der Linken und der AfD – aber selbst da sind es noch immer etwa 33Prozent.

Diese großen Mehrheiten können nicht frei zueinanderfinden aufgrund bestehender Partei- und Fraktions- sowie perspektivischer Koalitionszwänge. Gesamte Parteien und Parteiprogramme sind gezwungen, zu koalieren, sodass einzelne Politikfelder oft nicht bearbeitet werden, einzelne programmatische Ziele nicht verwirklicht werden können – obwohl über alle Parteien hinweg einfache und nicht selten große bis sehr große Mehrheiten bestünden, sie zu realisieren.

Umgekehrt können Politiken verwirklicht werden, obwohl nur kleine Minderheiten im Parlament sie unterstützen – aber kleine Koalitionspartner sie als Gegenleistung für die Zustimmung in anderen Bereichen durchsetzen konnten. Man denke etwa an die Pkw-Maut, die anfänglich nur (von Teilen) der CSU gefordert wurde – aber letztlich aufgrund von Parteien-, Fraktions- und Koalitionszwängen vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Nur solche Fraktions- und Koalitionszwänge machen es möglich, dass nicht selten der Schwanz mit dem Hund wedelt.

Es wird immer wieder behauptet, dass Parteien-, Fraktions- und Koalitionszwänge notwendig sind, um überhaupt regieren zu können. Das ist völliger Unsinn. Parteien-, Fraktions- und Koalitionszwänge dienen allein kleinen Parteieliten und -oligarchien dazu, durchregieren zu können – über die Köpfe vieler Mitglieder der eigenen Fraktion und noch viel mehr Mitglieder oppositioneller Fraktionen und summa summarum oft der (großen) Mehrheit des Parlamentes hinweg.

Ein striktes Verbot solcher Fraktionszwänge und ein ebenso striktes Gebot geheimer Abstimmungen bei welchen Abstimmungen auch immer würde das Verfassungsgebot des Artikels 38 GG realisieren, nach dem Abgeordnete des Deutschen Bundestags „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Parteien-, Fraktions- und Koalitionszwänge sind zutiefst demokratiefeindlich – und eigentlich verfassungswidrig. Ohne sie würden nicht mehr kleine herrschende Parteizirkel durchregieren – sondern die Repräsentanten des Volkes, des Souveräns.

Und sie würden sich bei Gesetzesentscheidungen allein von ihrem Gewissen und Verstand leiten lassen (können) – weil kein Partei- oder Fraktionschef, kein Lobbyist, kein sonstiger Auftraggeber aufgrund der obligatorisch geheimen Abstimmungen überprüfen (und mit Sanktionen ahnden) könnte, wie der einzelne Abgeordnete abgestimmt hat (auch solche Sanktionen sind übrigens verfassungswidrig: siehe Artikel 46 GG).

Was dabei herauskäme? Eine Häufung jener Sternstunden des Parlamentes, die fast immer und fast ausschließlich dann verzeichnet wurden, wenn in sehr wichtigen, sehr neuralgischen, zutiefst wert- und emotionsgeladenen politischen Fragen und Entscheidungen der Fraktionszwang aufgehoben wurde – siehe zuletzt bei der sogenannten Ehe für alle oder 2011 bei der Abstimmung über Präimplantationsdiagnostik oder immer wie-der bei der Verlängerung der Verjährungsfristen von NS-Verbrechen.

Und wie unter solchen Bedingungen eines bedingungslosen Verbots aller Parteien-, Fraktions- und Koalitionszwänge überhaupt eine Regierung zustande kommen könnte? Natürlich demokratisch! Wie sonst? Gewählte Abgeordnete würden sich als Kandidatinnen und Kandidaten für sämtliche Regierungsämter zur Wahl stellen (tendenziell wären das jene, die von ihren Parteien etwa als Kanzlerkandidatinnen oder -kandidaten gewählt worden sind) – und die Abgeordneten des Parlaments würden in geheimen Abstimmungen allein ihrem Verstand und ihrem Gewissen folgen (können) und jene wählen, von denen sie überzeugt sind, dass sie ihr Amt gut ausfüllen werden, dass sie hinreichend qualifiziert sind und für eine Politik stehen, die den eigenen Werten und Zielen hinreichend entspricht.

Um es nur an ein paar konkreten Politikbeispielen zu verdeutlichen: Wir hätten sehr schnell eine sehr viel sozialere Sozialpolitik, wenn unter den neuen Bedingungen einer von allen Parteien-, Fraktions- und Koalitionszwängen befreiten Politik – also in diesem Sinne in einer radikalen Demokratie – nicht nur die üblichen Verdächtigen in Sachen sozialerer Sozialpolitik, also Linke und Sozialdemokraten (unter Letzteren zumindest jene, die ihren Namen verdienen), zusammenfinden würden, sondern auch der soziale Arbeitnehmerflügel der Grünen, der CDU und der (ja, den gibt’s auch da) CSU – und sogar noch die (okay: wenigen, sehr wenigen) Sozialliberalen aus der FDP (und wenn’s aus den Reihen der AfD hier und da die eine oder andere Stimme für eine sozialere Politik gäbe – nun ja, dann wäre das so, man nennt es Demokratie).

Oder ein anderes Beispiel: Wenn es um Freiheits-, Menschen- oder Bürgerrechte ginge, könnten sich alle freiheitsliebenden Kräfte zusammenfinden – und die gibt es überall, in der Linken wie in der FDP (die sich als Parteien sonst spinnefeind gegenüberstehen), bei den Grünen wie in der CDU oder SPD. Man dekliniere alle Politikbereiche durch! Schnell gäbe es nur noch Entscheidungen und Gesetze, die – über alle Fraktionen hinweg – zutiefst demokratisch legitimiert wären und deren Antlitz zu erkennen gäbe, wie sie entstanden sind: Ohne Zwang und allein dem Verstand und Gewissen demokratisch gewählter Volksvertreter gemäß.

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1 Und wenn es zu Koalitionen kam, rochen sie genau aus diesem Grund oft nach faulen Kompromissen.

2 Vgl. etwa Wahl-O-Mat Vergleich der Positionen, oder Diese Partei stimmt am stärksten mit der AfD überein

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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