Über Thüringen oder Freiheit durch Sozialismus!

Die Vorgänge in Thüringen rund um die Wahl eines Ministerpräsidenten für die 7. Legislaturperiode von 2019-2025 schlagen bundesweit hohe Wellen. Der hohe emotionale Erregungsgrad vieler Beteiligter führt dazu, dass nicht immer mit der nötigen intellektuellen Klarheit Gedanken formuliert und ausgesprochen werden.

Hier mein Versuch einer Einordnung und Bewertung

Beginnen wir mit den Fakten: Am 27. Oktober 2019 fand die Wahl zum 7. Thüringer Landtag statt. Das Ergebnis, das der Landeswahlleiter bekannt gab, ist nebenstehend in der Grafik dokumentiert. Die Sitzverteilung, die sich aus diesem Ergebnis ableitet, finden Sie in der nachstehenden Grafik, in der alle Sitzverteilungen seit 1990 aufgeführt sind.

Man braucht kein Mathegenie zu sein, um festzustellen, dass eine Koalition im Thüringer Landtag nur dann eine eigene Mehrheit hat, wenn entweder DIE LINKE oder die AfD an dieser Koalition beteiligt sind. Eine Zweierkoalition dieser beiden Fraktionen ist rechnerisch ebenfalls möglich. Ansonsten bleiben Minderheitenregierungen, die sich auf wechselnden Mehrheiten bei Sachfragen im Parlament stützen müssen.

Bewertungen des Wahlergebnisses

Parteienvertreter der AfD, CDU und FDP (der Stärke nach aufgezählt) in Thüringen betonten vor allem, dass die Regierung und Bodo Ramelow als Ministerpräsident abgewählt worden seien, da sie über keine eigene Mehrheit mehr im Landtag verfüge. Dies ist eine Interpretation des Wahlergebnisses, die parteitaktisch nachvollziehbar ist ( und in vergleichbarer Situation auch von DIE LINKE, SPD und Grünen angewendet würde), aber dennoch nicht die ganze Wahrheit abbildet.

Wie leicht zu sehen ist, wurde die Partei DIE LINKE in Thüringen mit Abstand stärkste Kraft und legte gegenüber der letzten Landtagswahl - nach einem stark auf den Ministerpräsidenten Ramelow zugeschnittenen Wahlkampf - sogar noch einmal leicht zu. Mit Fug und Recht kann DIE LINKE daher behaupten, gestärkt aus der Wahl hervorgegangen zu sein und den Auftrag erhalten habe, eine Regierung zu bilden.

Erschwert wurden die Verhandlungen dadurch, dass CDU und FDP eine Zusammenarbeit mit Bodo Ramelow und der Partei DIE LINKE genauso ausschlossen, wie eine Zusammenarbeit mit der AfD. Ramelow und DIE LINKE werden von großen Teilen der CDU und FDP noch immer als Mauerschützen und Menschenquäler angesehen und die AfD als faschistische Kraft gebrandmarkt (Dies tun DIE LINKE, SPD und Grüne auch)

Exkurs:

Die sich selbst so nennende „demokratische Mitte“ aus CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen verengt den demokratischen Diskurs auf die Mitglieder und Wähler eben dieser Parteien und grenzt nur aufgrund von formalen Kriterien Mitglieder oder Wähler aus diesem „demokratischen Spektrum“ aus.

Dies halte ich für einen Fehler. Ich darf nur Menschen aufgrund inhaltlicher Positionen, wenn sich zum Beispiel jemand gegen das Grundgesetz stellt, aus dem demokratischen Diskurs ausschließen. Für die Partei DIE LINKE ist die Sachlage klar: Das Programm der Partei und die öffentlichen Aussagen von führenden Repräsentanten dieser Partei sind vom Grundgesetz gedeckt. Nur Ewiggestrige und Kommunistenfresser können zu einer anderen Bewertung kommen. Dennoch ist der Ausschluss aus dem demokratischen Spektrum durch Vertreter der selbst ernannten „demokratischen Mitte“ immer wieder zu beobachten.

Schwierig wird es bei der AfD. Beispielhaft: Ein führendes Mitglied der AfD, Björn Höcke aus Thüringen, darf ungestraft Faschist genannt werden. Denn: Die Äußerungen von Höcke verstoßen immer wieder gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes. Eine Zusammenarbeit mit diesem Menschen halte ich für einen Demokraten für unmöglich. Aber nicht, weil er in der AfD ist, sondern weil er rassistische und grundgesetzwidrige Positionen vertritt. Und so lange ein Herr Gauland Herrn Höcke „inmitten seiner Partei“ sieht, und die Partei sich nicht von Höcke, Flügel & Co distanziert, wird die AfD mit damit leben müssen, aus dem demokratischen Spektrum keine Anerkennung als „normale“ Partei zu bekommen.

Ein Frage bleibt: Was treibt Menschen dazu, einen Faschisten zu wählen, wenn sie selbst keine Faschisten sein wollen oder sind?

Exkurs Ende

Die nachstehende Grafik zeigt die Ergebnisse von Wahlumfragen verschiedener Institute für Landtagswahlen in Thüringen.Auch wenn die Zahlen von Forsa mit Vorsicht zu genießen sind, sollte die neueste Umfrage bei allen Beteiligten heftiges Nachdenken auslösen.

Bei den Wählerinnen und Wählern, ob es klug und sinnvoll ist, bei gesellschaftspolitischen Vorgängen entlang von Farbenspielen und formalen Schubladen (rot, gelb, grün, violett, schwarz, links, rechts) zu diskutieren und zu entscheiden, oder ob es nicht sehr viel besser ist, sich die Inhalte, um die es geht, genau anzuschauen.

Bei der AfD, ob sie tatsächlich die grundgesetzwidrigen Positionen eines Björn Höcke weiter in der Partei dulden will.

Bei CDU und FDP, ob sie sich mit der gewollten oder ungewollten Unterstützung durch die AfD tatsächlich einen Gefallen tun.

Bei SPD und Grünen, ob sie nicht endlich grundsätzlich mit dem Denken in Wettbewerbskategorien bei gesellschaftlichen Fragen brechen und die Stärkung und nicht den Abbau des Sozialstaates auf ihre Fahnen schreibe sollten.

Und DIE LINKE, sollte darüber nachdenken, ob es nicht an der Zeit ist anzuerkennen, dass nicht die Angehörigkeit eines Menschen zu einer wie auch immer definierten Gruppe, dessen Haltung kennzeichnet und bestimmt, sondern die Antwort auf die Frage: Wie tariere ich die individuelle Freiheit und die Sorge für das Gemeinwohl so aus, dass beide zu ihrem Recht kommen.

Oder kurz: Freiheit durch Sozialismus!

Zum Vergrößern Grafik anklicken.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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