Straßenbahngeschichten aus Marburg 2 – Für die Fahrt mit der neuen „Elektrischen“ war die Einhaltung von Regeln wichtig

Foto von der Eröffnungsfahrt der "Elektrischen" im Jahr 1911
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  • hochgeladen von Karl-Heinz Gimbel

Ab dem 28. November 1911 fuhr durch die Straßen der Stadt Marburg eine elektrische Straßenbahn, kurz „Elektrische“ genannt. Für die Bewohner der kleinen Universitätsstadt war dies ein besonderes Ereignis. Die Lokalpresse berichtete täglich über den Baufortschritt und die ersten Erlebnisse mit der neuen Bahn.

Die gesamte Bürgerschaft nahm großen Anteil. Man war der Meinung, dass für Marburg nun wirklich das neue Zeitalter beginnen würde.

Aber schon mit der Einführung der Pferdebahn, die auf Schienen durch die Stadt lief, hatte es für die Passagiere Probleme gegeben. Die Studenten empfanden sie eher als Belustigung. Mit ruckartigen Bewegungen bei der Mitfahrt sprang sie aus den Schienen. Aber die Studenten waren immer bereit, sie wieder ins Gleis zu heben.

Beliebt war das Abspringen von der Pferdebahn kurz vor der Haltestelle, um eventuell ein paar Meter Laufstrecke zu sparen. In der Lokalpresse gab der Redakteur einen offenbar beobachteten Vorfall der Allgemeinheit zur Kenntnis. Es sollte eine Belehrung sein:

Vorsicht beim Abspringen von der Pferdebahn!

Eine fein gekleidete Dame sprang heute mittag in der Nähe der Elisabethkirche von der Pferdebahn in der falschen Richtung ab und kam naturgemäß zu Fall. Verletzungen hat sie sich glücklicherweise nicht zugezogen, dagegen war ihre Toilette in Anbetracht des Straßenschmutzes in sehr schlimmer Verfassung. Wir nehmen Anlaß, darauf aufmerksam zu machen, daß man immer in der Richtung der Fahrt abspringt, daß Damen aber am besten tun, überhaupt erst auszusteigen, wenn der Wagen hält.“

Aus der Belustigung über die Pferdebahn, die man bald wieder abgeschafft hatte, war eine spürbare Ehrfurcht vor der neuen „Elektrischen“ geworden. In den Vorberichten hieß es sogar, dass man sich in Marburg nun eine Großstadtmiene aufzusetzen habe, damit man bei der ersten Fahrt nicht auf- oder vielleicht sogar herunterfällt.

So wurde die erste Fahrt – natürliche mit den Honoratioren der Stadt – in der Oberhessische Zeitung wie folgt beschrieben:

„Unsere elektrische Straßenbahn wurde heute Mittag um 1 Uhr offiziell dem regelmäßigen Betrieb übergeben. Die Wagen sind modern ausgestattet, die Fahrt geht glatt und ruhig. Auf ihrem Wege wurden die beiden Wagen, die auch äußerlich einen sehr hübschen Eindruck machen, von einem zahlreichen Publikum enthusiastisch begrüßt. Hoffentlich gereicht die neue Straßenbahn unserer Stadt zum Segen und trägt ihr Teil zur gedeihlichen Entwicklung derselben bei. Nach beendigter Fahrt vereinigten sich die Teilnehmer zu einem Frühstück in den Stadtsälen.“

Die Hessische Landeszeitung, ebenfalls eine Marburger Lokalzeitung, beschrieb den ersten Tag mit der neuen Straßenbahn ebenso euphorisch. fügte jedoch hinzu:

„Daß das Publikum sich, wie das bei allem Neuen der Fall ist, auch erst an die Elektrische gewöhnen muss, bewiesen einige Vorkommnisse des gestrigen Tages. So wurde ein in der Universitätsstraße teilweise auf dem Geleise stehender Bierwagen von einem Straßenbahnwagen angerannt, wobei eine Menge Flaschen zertrümmert wurden. An einer anderen Stelle hätte es ferner beinahe einen Zusammenstoß mit einem Auto gegeben, und schließlich wäre auch eine Frau fast überfahren worden, wenn sie sich nicht noch im letzten Augenblick in Sicherheit hätte bringen können. Auch in Marburg sind eben nunmehr die „Gefahren der Straße“ gewachsen, und das Publikum muss sich auch hier daran gewöhnen, ihnen aus dem Wege zu gehen.“

In einer anderen Meldung nahm ein Redakteur der Zeitung die Eröffnung der Straßenbahn etwas mehr ironisch zur Kenntnis:

„Die Herzen der Leute in dieser Stadt empfanden schon lange Schmerz, weil sie immer zu Fuß gehen mussten. Deshalb beschlossen die versammelten Väter mit Recht Wagen zu bauen, mit denen die Bürger fahren könnten. In bewundernswerter Weise wurde das Werk in sehr kurzer Zeit beendet. Jetzt sind alle Bürger frohen Muts, denn für sehr geringen Preis kann jeder diese Wohltat genießen. Zur größten Freude aller Bürger fuhr gestern mit unglaublicher Schnelligkeit der Wagen durch die Straßen der Stadt. Mit nacktem Haupte und fliegenden Haaren liefen Knaben und Weiber und mehrere Landleute mit abgeschabten Röcken nebenher, damit ihre Augen nicht dieses Schauspiels beraubt würden. Musiker bliesen auf eine höchst schöne Weise auf Flöten und Tuben. Niemand wird leugnen, daß die Väter, welche den Bürgern eine so große Wohltat erwiesen haben, sehr weise sind.“

Für die Fahrt mit der „Elektrischen“ mussten neue Regeln beachtet werden

In der Folgezeit ging es darum, die Bürger mit der neuen Bahn vertraut zu machen. Fahrplan, Haltestellen und Regelungen zum Verhalten mussten übermittelt werden. Drei Tage nach der ersten Fahrt der Elektrischen ging der gleiche Redakteur auf die neuen Umstände ein:

„Es ist natürlich, dass es einige Zeit dauern wird, bis unser Publikum bei Benutzung der Straßenbahn sich diejenige Selbständigkeit und Routine aneignen wird, die allein im Stande sind, die Mitfahrenden vor Unbequemlichkeiten und den Betrieb vor Störungen zu bewahren. Weder am 28. noch am 29. konnte der regelmäßige 10 Minuten Verkehr eingehalten werden, weil das Publikum sich noch nicht hinreichend orientiert und selbständig zeigte.“

Es wurden zudem Regeln bekannt gegeben, die man sich aneignen sollte.

Hier eine Auswahl:

1. Viele Personen wissen nicht, dass der Wagen nur rechts vorne zu besteigen ist. Sie rütteln vergeblich an den hinteren Gittertüren und es vergeht einige Zeit, bis ihnen begreiflich gemacht ist, wo sie einsteigen sollen.

2. Das Einwerfen der Nickel in den neben der vorderen Tür befindlichen Glaskasten muss der Kontrolle wegen alsbald nach dem Einsteigen erfolgen. Gestern und heute blieb in der Regel der Einsteigende auf der vorderen Plattform stehen, suchte dort in den mehr oder weniger versteckten Taschen nach seiner Börse und wenn er diese glücklich hatte, nach seinem Nickel. Dann stieg der nächste ein und das gleiche Spiel des Suchens nach dem Nickel wiederholte sich. Wie lange dies bei unseren Damen dauert, weiß jeder. Mit dem Einsteigen von 5-10 Personen, das sich in ebensoviel Sekunden vollziehen muss, wurden auf diese Weise 2-3 Minuten verloren.

3. Fortgesetzt wandte sich das Publikum mit Anfragen an den Wagenführer und hielt diesen von seinen Obliegenheiten ab, die die größte Concentration erfordern. …

Nach einer weiteren Folge von Regeln wurde am Schluss noch angefügt:

7. Das Aussteigen hat stets mit dem Gesicht in der Fahrtrichtung, linke Hand am Griff zu erfolgen, wenn Unglücksfälle vermieden werden sollten.“

Bürgerreporter:in:

Karl-Heinz Gimbel aus Marburg

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