Ein Verkehrskonzept für Marburg
MoVe 35: Marburg bewegen

Verkehrskonzepte sind immer umstritten, auch in Marburg an der Lahn. Derzeit gibt es in der öffentlichten Diskussion der Stadt, vor allem in der von der Lokalzeitung Oberhessische Presse (OP) veröffentlichten, eine heftige Auseinandersetzung über das Verkehrskonzept MoVe 35.

Dabei fing alles ganz harmlos und harmonisch mit der Vorlage VO/6739/2019  an. Die Fraktionen, welche die damalige ZIMT-Koalition (Zusammenarbeit In Marburger Themen) im Marburger Rathaus [SPD, CDU und BfM (Bürger für Marburg)] bildeten, brachten in der Stadtverordnetenversammlung (StVV) gemeinsam den Antrag ein, der Magistrat der Stadt möge „eine ganzheitliche Mobilitätsstrategie für die Stadt Marburg entwerfen“. Am 11. April 2019 stimmten die Stadtverordneten diesem Auftrag mehrheitlich zu. Gegen den Auftrag votierten die Fraktionen „Marburger Linke“ und „B90/Die Grünen.

Der Magistrat beauftragte daraufhin die Dortmunder Stadt- und Verkehrsplaner der Planersocietät Dr. Ing. Frehn, Steinberg & Partner mit der Erstellung des Konzeptes. Mit der Prozessmoderation für die Bürgerbeteiligung wurde das darmstädtische „team ewen GbR“ betraut.

In knapp drei Jahren haben die Arbeitsgemeinschaft MoVe 35, die Ortsbeiräte und die breite Öffentlichkeit Ideen beigesteuert, Anregungen gegeben und kritische Fragen gestellt. 2020 fand eine online-Umfrage statt. Arbeitsgruppen wurden gebildet. Die politischen Gremien wurden eingebunden und informiert. So gab es einen Zwischenbericht, einen Beschluss der StVV über ein Ziel- und Leitliniensystem, einen Zielbericht und schließlich den Endbericht. Alle Informationen zum Entstehungsprozess finden sich inzwischen auf der Website der Universitätsstadt Marburg.

In „Paroli“, Linke Blätter für Stadt Landkreis und Universität, erschien im Mai 2023 eine kritische Stellungnahme zu MoVe 35. Der Entwurf des Endberichts MoVe 35 sei nicht befriedigend, eine wirkliche Verkehrswende mit Regio-Tram in weiter Ferne und soziale Belange seien völlig unter die Räder gekommen.

Daraufhin stellte der Oberbürgermeister der Stadt Marburg, Dr. Thomas Spies, die Fraktion Marburger Linke per E-Mail in den Senkel, weil sie eine öffentlich Diskussion über MoVe 35 eröffnet habe. Eine breite öffentliche Diskussion sei zwar erwünscht, aber erst nach der Veröffentlichung des Endberichtes durch den Magistrat. Bis dahin sei unter den beteiligten Akteuren Vertraulichkeit vereinbart worden.

Da wusste der OB allerdings noch nicht, dass der Redakteur der OP, Björn Wisker, Einblick in den Endbericht hatte und welch schweren Geschütze er gegen das Konzept auffahren würde.  Der Artikel mit der reißerischen Überschrift »Verkehrswende mit „Move 35“: Wagt Marburg ein weitgehendes Auto-Aus?« am 21. Mai war der Auftakt einer ganzen Serie von Artikeln, in denen mal subtil, mal brachial, Ängste vor einer angeblich autofreien Stadt geschürt wurden.

Unterstützung erhielt Wisker von den üblichen Verdächtigen, dem Einzelhandel, Unternehmensverbänden, der AFD und in der gemeinsamen Fraktion aus CDU, BfM und FDP in der StVV. Pikant dabei: CDU und BfM waren einst Mitnitiatoren von MoVe 35. Die Anzahl der Leserbriefe zu MoVe 35 schwoll stark an und verdrängte das Thema Krieg und Frieden fast vollständig. Sehr emotional verteidigten viele Schreiber das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ und wetterten gegen die unzumutbaren Vorstellungen dieses Konzeptes, bevor der Endbericht einer breiten Öffentlichkeit überhaupt zugänglich war.

Vor allem die Fraktion aus CDU, BfM und FDP engaieren sich stark gegen das Konzept. Die Landtagswahlen in Hessen am 8. Oktober lassen grüßen. Die Fraktion legte für die StVV am 23. Juni einen Dringlichkeitsantrag vor,  in dem gefordert wurde, ein „Vertreterbegehren“ über das Konzept und die finanziellen Folgen durchzuführen. Vertreterbehren heißt ein Bürgerentscheid, der auf Beschluss der Gemeindevertretung durchgeführt wird. Die StVV lehnte dies mehrheitlich ab.

Der Endbericht ist nun öffentlich. Jeder kann ihn lesen. Vielleicht hilft das Lesen ja dabei, den Schaum vor dem Mund abzuwischen und zu einer vernünftigen Diskussion über das Konzept zu finden (Hier alle Berichte).

Eine Stimme der Vernunft ist dieser Leserbrief in der OP von Nico Biver, den ich mit seiner Zustimmung veröffentliche. Daran kann man sich orientieren, meine ich:

Dass die OP-Berichte zu „Move 35“ bei älteren Menschen Ängste auslösen können, verstehe ich. Aber die Halbierung des Pkw-Anteils auf 21 Prozent bedeutet nicht, dass Autos die Fahrt in die Stadt verwehrt wird, sondern wäre die Folge eines attraktiveren Rad-, Fuß- und öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Dann würden auch weniger Parkplätze benötigt. In Städten mit ähnlich geringem Pkw-Anteil wie Zürich, Wien oder Berlin ist nichts von den hiesigen Befürchtungen bekannt.

Allerdings glaube ich nicht, dass allein Batterie-Oberleitungs- und Schnellbusse den ÖPNV-Anteil stark erhöhen werden. Busse sind unbequem und meist zu langsam. Eine Regiotram und Seilbahnen auf die Lahnberge und zu den Behringfirmen wären eine schnelle und leise Alternative.

Außerdem thematisiert „Move 35“ leider nicht, wie Menschen mit geringem Einkommen ohne Pkw mobil sein können. Ein Gratis-ÖPNV wenigstens für Stadtpassinhaber findet keine Erwähnung.

Bei der Kampagne der Einzelhandelslobby gegen „Move 35“ fühlt man sich in einer Zeitschleife. Bereits 1973, als die Autos aus der Wettergasse verbannt wurden, war die Empörung groß. Beim Marburger Verkehrsforum (ähnlich „Move 35“) konnte 1996–98 Konsens nur ohne den Vertreter der Industrie- und Handelskammer (IHK) erzielt werden, da er eisern an allen Privilegien des Pkw-Verkehrs festhielt.

Und auch heute soll sich die Verkehrspolitik nicht an den Interessen der Menschen, die in der Stadt leben, sondern an den Wünschen des Einzelhandels ausrichten, der sich gerne als „die Wirtschaft“ aufplustert, obwohl er gerade mal für zwei Prozent der Gewerbesteuern aufkommt. Obwohl Untersuchungen belegen, dass der Pkw-Verkehr in den Innenstädten dem Einzelhandel mehr schadet als nutzt, hält man an der ideologischen Lenkrad-Perspektive fest.

Die Studie „Vitale Innenstädte“ belegt das Gegenteil von dem, worauf Oskar Edelmann (IHK) sich beruft. Bereits jetzt kommen nur 29 Prozent der Befragten mit dem Pkw in die Stadt (17 Prozent weniger als in anderen Städten) und 37 Prozent mit dem ÖPNV (10 Prozent über dem Mittel). Und obwohl sie die Parkmöglichkeiten negativ bewerten, sind sie mit unserer Innenstadt zufriedener (Note 2,2) als die Befragten anderswo (2,5).

Unglaubwürdig ist das Plädoyer der Handelsfunktionäre für den ÖPNV, zumal sie sich weder für die Umsetzung des beschlossenen Nulltarifs an Wochenenden eingesetzt haben, noch ihren Beschäftigen Jobtickets anbieten. Außerdem würde bei wachsendem ÖPNV der Pkw-Anteil sinken. Und dagegen richtet sich doch die „Wut der Wirtschaft“.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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