Das Weihnachtsgeschenk / Kurzgeschichte

Meine Eltern und Großeltern lebten mit meiner Tante und ihrem Mann unter einem Dach. Zu dieser Großfamilie gehörten noch mein gleichaltriger Cousin Walter und natürlich ich.
Mein Cousin und ich wuchsen wie Brüder auf. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die Geburtstage von uns Kindern, wenn auch das „Nichtgeburtstagskind“ das gleiche Geschenk von den Großeltern erhielt wie das Geburtstagskind. Dadurch sollten Tränen von uns Kindern und das Gefühl benachteiligt zu sein, vermieden werden. Dieses Ritual des Schenkens wurde auch an Ostern und Weihnachten durchgeführt.
An Weihnachten jedoch wurden Unterschiede durch die Geschenke unserer Eltern deutlich. So bekamen Walter und ich eines Heiligabend eine elektrische Eisenbahn geschenkt. Seine war von besserer Qualität als meine. So war es später auch bei dem Cowboyfort, bei dem Zündplättchengewehr und mit der Fotokamera. Walter sagte zwar nie etwas zu mir, doch war zu erkennen, dass er sehr stolz war, qualitativ bessere Geschenke als ich zu erhalten. Dieses Verhalten meines Cousins verletzte mich sehr.
Ich hätte mir gewünscht meine Eltern hätten Walters Eltern wenigstens einmal mit einem Geschenk übertrumpft.
Und eines Tages schien es so, als sollte es ihnen gelingen.

Ich war zwölf Jahre alt, als ein Lehrer an meiner Schule Trompetenunterricht anbot. Ich war Feuer und Flamme. Ich weiß heute zwar nicht mehr was mich damals so begeisterte, doch war es jedenfalls Tatsache. Wenn man Trompete spielen will, benötigt man natürlich auch das entsprechende Musikinstrument. Um ein solches zu erhalten, bot sich in meinem Fall nur Weihnachten an. Meine Eltern hätten mir keine Trompete kaufen können, denn für so etwas stand kein Geld zur Verfügung. Aber als Weihnachtsgeschenk, bei dem sich auch die anderen Verwandten beteiligen könnten, würde möglich sein. Also wünschte ich mir eine Trompete zu Weihnachten. Meine Eltern versprachen, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Bis ich meine Trompete erhalten würde, stellte mir die Schule ein altes, verbeultes Tenorhorn zur Verfügung, auf dem ich solange spielen konnte.
Ich begann also, Weihnachten entgegenzufiebern. Drei Monate waren es noch bis dahin. Zweimal die Woche hatte ich meinen Musikunterricht, mein Spiel wurde von Mal zu Mal besser und Weihnachten rückte immer näher. Da sagte mir mein Cousin eines Morgens auf dem Schulweg, dass er sich zu Weihnachten eine Gitarre wünschen würde und auch Musikunterricht nehmen wolle. Mein Herz stockte. Es war klar für mich, dass mein Cousin die schönste, beste und teuerste Gitarre von seinen Eltern erhalten würde, die es auf der Welt gab. Meine Trompete würde die schäbigste und billigste sein, die jemals jemand besessen hatte. Meine Vorfreude auf Weihnachten war dahin.

Doch dann war Weihnachten da.
Ich bekam meine Trompete. Sie war das beste und schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe. Sie glänzte golden im Licht der Weihnachtsbaumkerzen, ihr metallischer Schimmer gab ihr etwas Edles. Kühl lag sie in meinen Händen und ich blies zaghaft die ersten Töne und dann mutiger die erste Melodie. Es funktionierte, der Klang des Musikinstrumentes war sehr gut. Ich war glücklich.

Mein Cousin hatte seine Gitarre bekommen. Er stand mit offenem Mund neben mir und klimperte hilflos auf seiner, zugegebenermaßen, hochqualitativen Gitarre. Ich weiß nicht, ob er dachte er könne auf Anhieb auf dem Instrument spielen, jedenfalls schaute er ziemlich ratlos drein.
Den ersten und den zweiten Weihnachtsfeiertag verbrachte ich in freudiger Stimmung, spielte die Lieder, die ich konnte, und übte auch einige Neue.
Mein Cousin hatte seine Gitarre in irgendeiner Ecke abgestellt, wo sie noch einige Tage stand. Dann habe ich sie nicht mehr gesehen. Walter hat nie Gitarre spielen gelernt.
Ich habe weiter den Musikunterricht besucht, mein Trompetenspiel verbessert und … dieses Weihnachtsfest nie in meinem Leben vergessen.

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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