Begegnung im Advent / Kurzgeschichte

Paul Heister ging langsamen Schrittes die Straße entlang. Viele kleine Schneeflocken fielen vom Himmel. Sein Rücken war gebeugt, er ließ seine Schultern hängen. Oh du fröhliche, oh du selige … klang es in seinen Ohren. Er kam gerade aus dem Discounter. Hier kaufte er regelmäßig ein. Mit seiner kleinen Rente konnte er keine großen Sprünge machen, so kam ihm das Angebot des Billig-Anbieters sehr zupass. Die Weihnachtsmusik, die dort seit einigen Tagen gespielt wurde, lies ihn wehmütig an Vergangenes denken.
Dumm war, dass der Einkaufsmarkt in der Innenstadt lag. Paul wohnte in einem der Randbezirke, er musste um einzukaufen den Linienbus nehmen. War zeitaufwendig.
Er strich eine Strähne seines weißen Haares aus der Stirn und fuhr sich mit der rechten Hand über sein, von tiefen Falten, gefurchtes Gesicht.
Als er um die Ecke, in die nächste Straße, einbog, sah er vor sich die Bushaltestelle. Hier stieg er immer in den Bus nach Hause ein. Er konnte zwar eine Haltestelle früher einsteigen, an dieser war jedoch keine Sitzgelegenheit. Hier konnte er in Ruhe auf den Bus warten. Die Busse fuhren nur jede halbe Stunde, da war es angenehm, wenn er sitzend warten konnte. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, wenn er lange stehen musste, schmerzten seine Beine zu sehr.
Im Frühjahr und Sommer, wenn schönes Wetter war, ließ er den ankommenden Bus auch einfach weiterfahren und wartete auf den nächsten. Es war angenehm hier zu sitzen und die Leute, die geschäftig die Straße hinauf und herunter gingen, zu beobachten.
Er malte sich aus, was den ein oder anderen wohl beschäftigte, ob die Frau in dem blauen Kleid nach Hause musste, um ihrem heimkehrenden Mann das Essen zu bereiten, oder ob sie eiligst in den Kinderhort musste, um ihr kleinstes Kind dort abzuholen. Der Mann in dem dunklen Anzug konnte ein Bankangestellter sein, der aus der Mittagspause an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, oder ein Vertreter, der gerade ein gutes Geschäft abgeschlossen hatte.
So vertrieb er sich die Zeit.
Seit fünf Jahren lebte Paul Heister allein in der kleinen Mietwohnung, die er vorher zusammen mit seiner Frau bewohnt hatte. Sie war vor fünf Jahren an einer Krebserkrankung gestorben. Sie hatte sehr gelitten. Eine Zeit, an die er nicht gerne dachte.
Es fiel ihm anfangs schwer, sein Leben allein zu bestreiten. Ihm war vor dem Tod seiner Frau nicht klar gewesen, wie sehr sie sich eigentlich ergänzt hatten. Nun musste er ihren Part mit übernehmen. Es war ihm gelungen, doch hatte es seine Zeit gebraucht. Manchmal fühlte er sich jedoch sehr einsam. Gerade zu Weihnachten empfand er dieses Gefühl sehr stark. Seine Frau hatte diese Zeit des Jahres sehr geliebt und er vermisste sie dadurch gerade in der dunklen Winterzeit sehr.

Er war an der Haltestelle angekommen. Sie war überdacht, man konnte auch jetzt im Winter auf der installierten Sitzbank Platz nehmen. Eine junge Frau saß mit zwei Kindern zusammen auf der Bank, einem ungefähr achtjährigen Mädchen und einem kleineren Jungen. Der mochte ungefähr sechs Jahre alt sein.
Paul stellte seine Plastiktüte auf die Bank und machte Anstalten sich hinzusetzen, als die junge Frau den Jungen ansprach: „Mach mal ein bisschen Platz, damit sich der Herr hinsetzen kann. Du brauchst dich nicht so breitmachen.“
Der Junge rutschte etwas zur Seite und Paul setzte sich. Der Junge schaute zu ihm auf. Er hatte braune Augen, ein pausbäckiges Gesicht und eine kleine Nase. Seine dunkelblonden Haare fielen ihm unter seiner Pudelmütze in die Stirn.
„Warst du einkaufen?“, fragte der Junge. „Hast du was Süßes für mich?“
„Jetzt stör mal den Herrn nicht“, mischte sich die Frau ein und an Paul Heister gewandt sagte sie: „Mein Sohn ist leider etwas vorwitzig. Ich hoffe Sie nehmen es nicht übel?“
„Nein, das ist für mich kein Problem.“ Er schaute die Frau an. Sie hatte ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, trug eine Hornbrille, die ihr ein strenges Aussehen verlieh. Auf den ersten Blick hatte er sie für älter gehalten.
Sich zu dem Jungen neigend meinte er: „Ich will mal in meiner Tasche kucken, ob da was Süßes drin ist. Wir müssen deiner Schwester aber auch was abgeben. Es ist doch deine Schwester?“
„Jaaa, schon. Aber die brauch nix Süßes. Die will nämlich immer bestimmen.“
Er schaute seine Schwester grimmig an.
„Kein Grund ihr nichts abzugeben“, lachte Paul Heister. „Wie heißt ihr beide denn?“
Jetzt meldete sich das Mädchen zu Wort. Sie hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar, hellgrüne Augen. Am Kinn hatte sie eine halbmondförmige Narbe.
„Ich heiße Janina und mein Bruder heißt Max. Wir nennen ihn aber Mäxchen.“

Paul hatte während des Gesprächs in seiner Tasche gekramt und hatte einen Schokoladen - Nikolaus herausgeholt. Er aß für sein Leben gern Schokolade. Eine Tafel in der Woche gönnte er sich. In der Weihnachtszeit nahm er statt einer Tafel Schokolade immer einen Nikolaus. Schon als Kind hatte er diese Figuren geliebt. Leider hatte er nie einen bekommen. Das Einkommen seines Vaters hatte nicht ausgereicht um Paul und seinen Geschwistern solch eine Kostbarkeit zukommen zu lassen.
Er konnte sich ja einen neuen holen oder die Woche mal auf Schokolade verzichten, dachte er.
Den Schokoladen - Nikolaus hochhaltend und den Blick auf die Frau gerichtet sagte er: „Ich darf doch …?“
Die Frau nickte. Paul brach die Figur vorsichtig in der Mitte durch und gab jedem der beiden
Kinder eine Hälfte.
Zu den Kindern gewandt sagte er: „Lasst euch die Schokolade schmecken. Aber versprecht mir eines … versucht euch zu vertragen.“
Max schaute schon etwas friedlicher drein.
„Na ja“, sagte er, „versuchen geht ja. Ich versprech’s.“
Janina sagte: „Wir vertragen uns doch soundso immer wieder. Er ist doch mein Bruder.“
Paul sah ihr in die Augen.
„Ich verstehe, Janina. Das ist schön.“
Der Bus kam. Die Linie 7. Nicht seine Linie.
Die Frau stand auf. „Los kommt Kinder. Unser Bus.“ Und zu Paul gewandt sagte sie: „Vielen Dank für die Schokolade. Auf Wiedersehen.“
Die beiden Kinder verschwanden im Bus.
„Machs gut, Opa!“ riefen sie und winkten Paul Heister zu. Paul lächelte erfreut.

Ein Woche später, bei seinem nächsten Einkauf, er gab sich gezwungenermaßen gerade den Klängen von White Christmas hin, die aus den Lautsprechern klangen, zupfte ihn jemand von hinten an einem Mantelzipfel. Er drehte sich herum … es war Mäxchen.
„Hallo Opa. Wir sind auch hier. Einkaufen. Kaufst du dir wieder einen Nikolaus?“
Paul Heister lächelte. „Möchtest du denn einen?“
„Nein, nein, lassen Sie mal. Ich kann ihm selbst einen kaufen. Herr … äh …“ Die Mutter von Mäxchen trat auf die beiden zu.
„Heister. Paul Heister.“
„Ich bin Helene Morgen. Wir sind erst vor kurzem hierher gezogen. Freut mich sehr, Herr Heister.“ Sie reichte Paul die Hand.
„Äh … ich muss Ihnen das sagen. Sie haben meinen Kindern mit ihrem Nikolaus eine echte Freude gemacht. Sie haben die ganze Woche immer wieder von Ihnen geredet. Wissen Sie, ich bin alleinerziehend. Meine Eltern sind schon beide verstorben. Mein Mann und ich sind geschieden, zu meinen Schwiegereltern habe ich keinen Kontakt mehr und meine Beiden hier … nun ja … sie leiden schon darunter, dass wir keine große Familie sind.
Ach, wissen Sie was. Haben Sie nicht Lust uns am Sonntag, am 3. Advent, zu besuchen? Ich backe ein paar Weihnachtsplätzchen und Sie kommen zum Kaffee. Bringen Sie Ihre Frau mit. Sie sind doch verheiratet? Was meinen Sie?“
„Oh, gerne. Ich komme Sie gerne besuchen. Meine Frau ist leider verstorben. Kinder habe ich keine … also auch keine Enkel.“
Als später dann Paul Heisters Bus kam, stieg er, mit geradem Rücken und gestrafften Schultern, ein. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen.

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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