Ein Weinfest auf dem Lande - Teil 3

Anschneiden des Weintraubenstrudls im Retzer Schloßgasthaus.
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Wieder eine meiner Jugenderinnerungen aus den Neunzigern:

Kapitel 38. 7. 5.: Die Weinsorten des Abends

Noch ein paar weitere allgemeine Fakten waren gefolgt. Danach schwenkte Flickschuster auf das eigentliche Thema ein. "Doch kommen wir nun zur ersten Verkostung des heutigen Abends. Die erste Weinsorte, mit der wir uns beschäftigen werden, ist ein Grüner Veltliner, Jahrgang 1992 vom Weingut Fürst aus Kleinhöflein.
Beim Grünen Veltliner handelt es sich, wie schon angedeutet, um die verbreitetste Sorte im Weinviertel und darüber hinaus in ganz Niederösterreich. Er ist eine sehr alte Weinsorte, geriet zwischenzeitlich in Vergessenheit und wurde vor 100 Jahren in Poysdorf im östlichen Weinviertel wiederentdeckt.
Zu den charakteristischen Aussehensmerkmalen der Rebe gehören eine stark weißwollige Triebspitze und ein mittelstarker bis starker Wuchs. Das Blatt ist mittelgroß, fünflappig und tief gebuchtet. Das Aussehen der Traube kann man als sehr groß, dichtbeerig, kegelförmig, geschultert und auch mit großen Beeren beschreiben.
Der Zuckergehalt der Trauben ist mittelhoch.
Die Zeit der Reife ist mittelspät, in den Wochen des Oktobers.
Der Grüne Veltliner benötigt frühe bis mittelfrühe Lagen. Er ist besonders für Lössböden geeignet, wovon es in der näheren Umgebung ja reichlich gibt.
Seine Ertragslage ist hoch bis regelmäßig.
Seine Geschmacksrichtung lässt sich als würzig, spritzig und pfeffrig mit einer angenehmen Säure definieren; er hat ein sehr ausgeprägtes Bukett und ist gut lagerfähig.
Über seine Vorteile lässt sich sagen, dass er bei entsprechenden Standortgegebenheiten und einer Mengenbegrenzung hervorragende Weine liefert und auch seine Winterfrostwiderstandsfähigkeit relativ gut ist.
Nachteile hat er selbstverständlich auch, es sind dies die Trockenheitsempfindlichkeit und die hohe Empfindlichkeit der Blüte ..."

Die Veranstaltung hatte ihren Lauf genommen. Im Hintergrund ertönten schon eine Weile Lieder, die zum Thema Wein passten. Im Moment gerade "Red, Red Wine" von Neil Diamond.
"Der nächste Wein, den Sie in Ihren Gläsern haben, der nächste Wein des heutigen Abends", erklärte Flickschuster, "ist ein Müller-Thurgau, eine Kreuzung aus Riesling und Sylvaner Muskat Ottonel, produziert im Weingut Kellner aus Obernalb ..."

Ich sah auf die Uhr. Dreiviertel Zehn. Längst war draußen die Nacht über der Stadt hereingebrochen. Bereits über mehrere Stunden hinweg hatten sich die einzelnen Gänge und die jeweils dazwischenliegenden Präsentationen immer neuer Weine ausgedehnt.
Mit den Weindegustationen war man inzwischen bei den Rotweinen angelangt. "Es geht weiter in den Präsentationen mit einem Blauburger, Jahrgang 1993 vom Weingut Burgstaller aus Pulkau.
Die Sorte ist ein Schnitt zwischen Blauem Portugieser und Blaufränkischem. Der Portugieser gibt die Masse, und der Fränkische die Farbe.
Seine Reben erkennt man im Weingarten an einer schwach bronzierten, glatten, grünen Triebspitze mit insgesamt starkem Wuchs. Die Blattform ist groß, derb, wenig gelappt, stumpf bezahnt.
Die Reifezeit des Blauburgers ist zeitlich sehr früh angesiedelt, sie beginnt bereits im August und endet meistens im September. Seine Trauben erkennt man an ihrem großen, kegelförmigen Aussehen mit ihren mittelgroßen, hartschaligen, schwarz-blauen, stark bereiften Beeren.
Was den Anbau betrifft, kann man den Blauburger als eine ideale Sorte bezeichnen, da er keine hohen Ansprüche an die Lage oder den Boden stellt. Seine Erträge sind hoch bis regelmäßig.
Über den Blauburger in der Flasche lässt sich sagen, dass er ein sehr dunkel gefärbter, kräftiger und extraktreicher Rotwein ist. Er ist gut haltbar, hat jedoch einen langsamen Weinausbau.
Zu seinen Vorteilen gehört, dass er, wie schon erwähnt, geringe Ansprüche stellt, eine hohe Blütefestigkeit und sehr farbkräftige Rotweine hat.
Nachteile hat er eigentlich nur zwei, das sind seine Winterfrost- und seine Stielfäuleempfindlichkeit ..."

"Der nächste Rotwein, mit dem wir uns beschäftigen werden, ist ein Zweigelt, eine Kreuzung aus St. Laurent und Blaufränkischem. Hergestellt von einer Jungwinzergemeinschaft aus dem benachbarten Pulkautal, welche gemeinsam unter dem Namen 'Mathias Corvinus' auftritt.
Als Namensgeber für dieses Projekt fungierte ein Ungarnkönig, welcher Ende des 15. Jahrhunderts gelebt hatte. Der Bezug dieses Herrschers zu unserer Region liegt in politischen Streitigkeiten zwischen ihm und dem deutschen Kaiser Friedrich III. begründet. Nach einer militärischen Auseinandersetzung hatte sich Friedrich verpflichtet, an Mathias 100.000 Dukaten Kriegsentschädigung zu zahlen, Reparation, wie man heute sagen würde. Aber Friedrich hatte kein Geld. Friedrich hatte nie Geld.
So holte sich Mathias die aushaftenden Dukaten selbst. Er marschierte zunächst in Kärnten, dann in der Steiermark ein. In den weiteren Folgen war Niederösterreich das Ziel Mathias'. 1485 war dann schließlich Wien erobert, Wiener Neustadt wurde ausgehungert und ergab sich. Nur wenige Städte Niederösterreichs befanden sich noch in der Hand Friedrichs. Im Norden des Landes waren noch Feldberg, Laa und Zistersdorf habsburgisch.
Auch diese Städte wurden erobert, und Ende September 1486 standen drei Heere des ungarischen Königs vor Retz. Der König forderte die Stadt auf, sich zu ergeben. Es war aussichtslos, die Stadt gegen diese Übermacht zu verteidigen, jedoch die Retzer entschlossen sich zur Verteidigung. Nach den ersten Tagen der Bombardements waren die Retzer bereit, sich am Donnerstag vor St. Coloman zu ergeben.
Die Stadt war nicht erobert worden, sondern sie anerkannte Mathias als ihren Herrn an. Retz war somit ungarisch geworden.
Mathias Corvinus war Retz gnädig. Im nahen Eggenburg erneuerte er der Stadt alle Privilegien, Freiheiten und Rechte, welche ihr die Fürsten von Österreich verliehen hatten und verlieh sie aufs Neue. Aus jener Urkunde, die mit einem Siegel die Privilegien bestätigte, ersehen wir, dass der König für die durch den Krieg erlittenen schweren Beschädigungen eine Steuerfreiheit von drei Jahren gewährte.
König Mathias starb 1490. Nur fünf Jahre lang war Retz ungarisch. König Maximilian I., der spätere Kaiser, Sohn des Kaisers Friedrich III., eroberte Niederösterreich schließlich wieder für das Haus Habsburg.
Doch nun zum Wein selbst ..."

Quellen für die Nachrecherche des Ereignisses:

Heimatgeschichtliche Schriften von Heinrich Prohaska, Retz

Maturaprojektarbeit von Schülern des Maturajahrgangs 2000 der Bundeshandelsakademie Retz zum Thema Wein 

Kapitel 38. 7. 6.: Hinterher im Schloßgasthaus

Längst war es später Abend geworden, als das Essen sein Ende gefunden hatte. Fast alle der anwesenden Gäste waren danach noch in die Vinothek im Keller des Hauses gegangen, um dort noch einige Weine zu verkosten. Ich hatte jedoch das Haus unmittelbar verlassen, da ich für die Zeitung noch das Anschneiden des längsten Weintraubenstrudls in der Stadtgeschichte fotografieren sollte. Das zu vorgerückter Stunde im Schloßgasthaus von Schlossherr Suttner-Gatterburg persönlich vorgenommen werden würde. 40 Meter sollte er lang werden, hatte ich zuvor schon gelesen, 60 Kilo Weintrauben in ihm verarbeitet sein.

Unzählige Leute kamen mir auf jenem Stück Weg durch den Stadtpark entgegen, das neben dem Schlittensaal des Gasthauses entlangführte.Vermutlich alle vom Hauptplatz, wo die Buden ja bis weit in die Nacht hinein geöffnet haben, nahm ich an.

Ich bemerkte, dass die Seitentür zum Schlittensaal hinter der kleinen Holzbrücke über den Graben offen stand. Ich beschloss daher, gleich diesen Eingang zu verwenden.
Im Saal war nach wie vor der so genannte Betriebsabend im Gange, jene Feier, zu der die auf dem Hauptplatz ansässigen Firmen Steffl, Sulzberger, Mühlthaler, Herzog und Seidl jedes Jahr anlässlich des Weinlesefestes ihre Mitarbeiter zu einem Essen einluden. An den Rändern des Raumes befand sich jedoch auch schon eine Reihe von Leuten, von denen es schien, als ob sie ebenfalls dem Strudlanschneiden beiwohnen wollten.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich das Gebäckstück selbst. In der Tat, es schien die angekündigten 40 Meter Länge erreicht zu haben. Unzählige Tische hatte man dafür Kopf an Kopf aneinandergerückt. Die Reihe führte bis ins Vorzimmer, wo sie erst an der Tür zum Hof zu enden schien.
Ich ging ein paar Schritte nach rechts, stellte meine Tasche ab und blieb an der Wand stehen.

Kapitel 38. 8.: Sonnabendvormittag – Eröffnung der Elektrifizierung der Nordwestbahn

Kapitel 38. 8. 1.: Auf dem festlichen Bahnhof

Bis ans Ende der Bahnhofstraße zogen sich die Reisebusse entlang, mit denen Tagesgäste zum Fest angereist waren. Im Vorbeigehen studierte ich die Aufschriften auf den Karosserien. Wie ich feststelle, stammten die Fahrzeuge aus ganz Österreich.
Ich erreichte das Ende der Bahnhofstraße, streifte die Ecke zum Bahnhofsplatz rechterhand. Das Gelände des alten Tennisplatzes rechts zog vorbei. Wie immer standen zahlreiche Pkw auf der Park-and-Ride-Anlage darauf. Auch auf dem Parkstreifen hinter der Baumreihe links vom Fußweg war kaum ein freier Platz mehr zu finden.
Automatisch sah ich zum Fußweg mit den Bushaltestellenschildern auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Er war im Gegensatz völlig leer. Keiner der sonst dort anzutreffenden gelben Postbusse stand da gerade. Die Hecke an der Grenze zum Bahngelände wurde dadurch sichtbar. Mit ihr teilweise einige der dahinter abgestellten weiß-roten Personenwagen. Ein Stück weiter hinten befand sich auch wieder der Fahrradwaggon des Bahnhofs. Charakterisiert durch seinen blauen Anstrich mit dem riesigen, weißen Fahrrad-Piktogramm vorn drauf. Er stand wie gewöhnlich auf einem Gleisabschnitt in Richtung Landesbahnstraße. In seinem Hintergrund war bereits freies Feld zu sehen.
Ich verließ den Fußweg und überquerte den Bahnhofsplatz. Gegenüber betrat ich den überdachten Durchgang zwischen Stellwerk und Bahnhofsgebäude.
Eine Riesenanzahl Gäste hatte sich im Bereich der Bahnsteige bereits eingefunden. Am dichtesten war der Auflauf linkerhand auf dem Weg gleich hinter dem Bahnhofsgebäude. Bis zur Zollstation am Ende des Weges standen die Zuschauermassen. Auch unter der Überdachung am Anfang des Doppelbahnsteigs 1 und 2 hielten sich etliche Gäste auf. Überall dazwischen hingen von allen möglichen Stellen rot-weiß-rote Fahnen herab. Ein förmliches Fahnenmeer war entstanden.
Ich blieb zunächst am Rand des Metallzauns vor dem ersten Gleis stehen. Links neben mir ging es bereits über die mit Holzbrettern ausgelegten Gleise zu den Zügen. Einige Meter geradeaus, kurz vor dem Beginn der Bahnsteige 1 und 2, standen etliche Mitglieder des Gemeinderates: Stadtrat Wiesmann, Stadtrat Gruber, die Gemeinderätin Wolfsbauer, die Gemeinderäte Drohmer und Staudinger, der Kleinriedenthaler Ortsvorsteher Senkfrieden, sein Kleinhöfleiner Amtskollege und Weinbauverbandsvorsitzender Fürst, die Stadträte Pflügl, Gold und Stallmeier.
Mir kam die Idee, sicherheitshalber schon einmal die Kamera rauszuholen. Ich stellte die Tasche auf den Boden, öffnete sie, entnahm das Gerät und hängte es mir um den Hals.

Kapitel 38. 8. 2.: Die Ehrengäste treffen ein

Eine ganze Weile war vergangen, als sich raschelnd die Lautsprechanlage einschaltete. "Meine Damen und Herren, der Sonderzug aus Wien trifft in Kürze Bahnsteig 2 ein", war gleich darauf zu hören. "Bitte Vorsicht am Zuge!"
Gleich darauf fuhr auch schon eine alte Dampflok um die Schienenkurve vor der Bahnübersetzung auf der Unternalber Straße. Dichte Rauchwolken stieß sie dabei aus.
Auf dem Doppelbahnsteig 1 und 2 war mittlerweile die Retzer Stadtkapelle angetreten. Sie begann in diesem Augenblick den "Ohne Rast"-Marsch zu spielen.
Fauchend und zischend fuhr die Lokomotive wenige Augenblicke später in den Bahnhof ein. Hinter sich zog sie etliche alte Waggons. Es waren jene Modelle, bei denen man noch ins Freie musste, wenn man von einem zum anderen gehen wollte.
Ohrenbetäubend zischend hielt die Lok neben dem Ende der Bahnhofsüberdachung. Riesige Wasserdampfwolken entwichen dabei ihrer gesamten Metallverkleidung.
Als der Zug schließlich völlig zum Stillstand gekommen war, gingen fast gleichzeitig an ihm überall die Türen auf. Die Gäste der Reisegruppe traten auf den Bahnsteig. Auch direkt neben mir wurde an der Führerkabine der Lok die Tür geöffnet. Ein Schaffner in einer alten k.u.k-Dienstuniform stieg aus. Durch die halb geöffnete Tür fiel der Blick ins Innere der Kabine. Auch der Zugführer trug eine Uniform aus der k.u.k.–Zeit, wie ich erkennen konnte.
Ich drehte mich wieder in Richtung des auslaufenden Bahnsteigs. In einigen Metern Entfernung sah ich mehrere Politiker auf mich zukommen. Den Klubobmann der SPÖ im niederösterreichischen Landtag, Hannes Bauer. Landeshauptmann Erwin Pröll. Und den Bundesverkehrsminister Viktor Klima. Im Tross der Politiker befanden sich etliche Parteifunktionäre aus den darunterliegenden Hierarchieebenen und auch ein paar Pressefotografen.
Die Gruppe zog an mir vorüber. Sie blieb dann vor der Stadtkapelle stehen, um ihr Spiel abzuwarten.
Das Musikstück war zu Ende. Die Zuggäste auf dem Bahnsteig, allen voran die beiden Spitzenpolitikern, zollten Beifall.
Stadtrat und SPÖ-Ortsvorsitzender Pflügl trat an die fast unsichtbare Sprechanlage, die in einem der Masten der Überdachung installiert war. Einen Moment später kündigte er an: "Meine Damen und Herren, bevor wir jetzt in die Stadt gehen, möchte der Bürgermeister der Stadt Retz, Hofrat Dipl.-Ing. Adolf Schehr, zu Ihnen ein paar Worte sagen."
"Werte Gäste aus der Bundeshauptstadt Wien. Namens der Stadtgemeinde darf ich Sie auf das Herzlichste hier in der Weinstadt Retz willkommenheißen. Es freut mich, dass Sie heute den weiten Weg zu uns unternommen haben. Und ich denke, dass das abwechslungsreiche Programm des 40. Retzer Bezirksweinlesefestes es auch lohnen wird. So erwartet sie unter anderem auf dem Hauptplatz ein Hauermarkt mit traditionellen Speisen und Getränken aus der Region. Der Höhepunkt dieser Tage wird unser Winzerfestzug mit vielen Darstellungen aus der Retzer Geschichte sein. Empfehlen kann ich Ihnen auch eine Besichtigung der zahlreichen anderen Retzer Sehenswürdigkeiten. So verfügt Retz zum Beispiel über den größten unterirdischen Weinkeller Österreichs. Ebenso über die einzige noch betriebsfähige Windmühle unseres Landes. Nähere Auskünfte dazu werden Ihnen unsere Stadtführer erteilen.
Die Abfahrt Ihres Zuges erfolgt genau um 16:50 Uhr. Ich darf Sie bitten, pünktlich wieder hier am Bahnhof zu erscheinen, denn der Zug wartet nicht. So bleibt es mir nur noch, Ihnen allen einen recht schönen und abwechslungsreichen Aufenthalt in unserer Stadt zu wünschen. Ich danke Ihnen."
Beifall antwortete.
Ein paar Meter von mir entfernt stand der bärtige Stadtführer Fichna aus der Windmühlgasse. Er hob die Hand und rief mit lauter Stimme: "Gruppe A bitte zu mir!"

Kapitel 38. 8. 3.: Der Festakt

Schließlich hatte auch die letzte Gruppe Touristen mit ihrem Stadtführer den Bahnhof verlassen. Bürgermeister Schehr wurde daraufhin von irgendjemandem das Mikrophon in die Hand gegeben. "Meine sehr geschätzten Damen und Herren, ich darf Sie alle sehr herzlich hier am Bahnhof Retz zur feierlichen Eröffnung der Elektrifizierung der Bahnstrecke Wien-Retz begrüßen. Ganz gleich, ob Sie dienstlich oder privat gekommen sind. Ich freue mich, dass so viele Vertreter aus allen Teilen der Bevölkerung zu diesem Ereignis erschienen sind. Zeigt es doch, wie hoch unter der hiesigen Bevölkerung die Anteilnahme an dem ist, was die Allgemeinheit betrifft. Und es ist für Retz und die Region tatsächlich ein sehr wichtiges Datum. Haben wir mit dem heutigen Tage doch nun endlich nach vielen verschiedenen Schwierigkeiten eine durchgehend elektrifizierte Bahnstrecke von Wien nach Retz.
Bekanntlicherweise ist der Anteil derjenigen unserer Bewohner, die nach Wien oder einer der davorliegenden größeren Städte, wie Hollabrunn, Stockerau oder Korneuburg, auspendeln, von jeher sehr hoch. Und für diese Bewohner unserer Region wurde nun ein Stück mehr Lebensqualität geschaffen. Ab dem heutigen Tag ist die Fahrt nach Wien um 20 Minuten kürzer. Was bedeutet, dass man nun mit einem Schnellzug in nur geringfügig mehr als einer Stunde von Retz in das Zentrum von Wien gelangen kann. Wie wir alle wissen, ist das Arbeitsplatzangebot in unserer Region nicht sonderlich hoch. So wollen wir zumindest erreichen, dass Wohnen auf dem Lande und Arbeiten in der Stadt kein Widerspruch darstellt. Mehr noch, wir haben den Ehrgeiz, die zurzeit herrschende Abwanderung aus unserer Gegend in die Bundeshauptstadt u m z u k e h r e n. Bewohner von dort von der Lebensqualität zu überzeugen, die nur eine ländliche Region wie unsere bieten kann. Und mit diesem Projekt, das ich die Ehre habe, heute zu eröffnen, hat man uns zu diesen Plänen das wohl wichtigste Mittel in die Hand gegeben. Denn wenn man die Verhältnisse in der Wiener Innenstadt kennt, dann weiß man, dass täglich eine Stunde Weg zum Arbeitsplatz nichts Ungewöhnliches sein kann. Und wenn uns das Schicksal günstig gesonnen ist, werden wir weitere technische Innovationen in die Hände bekommen. Innovationen, die es uns ermöglichen, auf dieser Strecke die Fahrzeit noch weiter herunterzuschrauben. Und dann wird irgendwann hoffentlich einmal fast kein Unterschied mehr darin bestehen, täglich von einem der Hochhäuser am Rande Wiens oder von Retz aus den Weg zu seinem Arbeitsplatz anzutreten.
Unter unseren Ehrengästen, die heute den Weg zu uns in die Weinstadt Retz gefunden haben, begrüße ich ganz besonders den Verkehrsminister der Republik Östereich, Mag. Viktor Klima!"
Beifall.
"..."

Die übliche lange Reihe von Begrüßungen war gefolgt. Danach schloss sich ein Bericht des Bürgermeisters an. Er beinhaltete Details der Durchführung des Projektes. Ich hatte die Mappe mit den Notizzetteln bereits während der Begrüßungen herausgenommen, sodass ich gleich mitschreiben konnte.
Im Juni 1992 wurde mit der Elektrifizierung der 30 Kilometer langen Strecke von Hollabrunn nach Retz begonnen, schrieb ich als Erstes auf. Elektrifizierungen im Bereich um Wien existierten schon lange Zeit zuvor. Vier Brücken wurden zwischen Hollabrunn und Retz adaptiert oder neu errichtet. Sieben Eisenbahnkreuzungen aufgelassen. In allen Stationen gibt es jetzt Mittelbahnsteige. Die Gesamtkosten des Unternehmens betrugen 667 Millionen Schilling, finanziert von der Republik. Auf jedem Bahnhof des neu elektrifizierten Streckenabschnitts gab es am heutigen Tage Feierlichkeiten. Der Sonderzug hat somit überall kurz Station gemacht.

Eine gewohnt ziemlich lange Rede von Landeshauptmann Pröll hatte sich den Eröffnungsworten angeschlossen. Anschließend eine des Verkehrsminsters. Von jedem der Redner hatte ich auch ein paar Aufnahmen gemacht. Nach dem Verkehrsminister übernahm der Bürgermeister, der jeden der Redner ankündigte, wieder das Mikrophon. Er gab bekannt, dass er im Anschluss Klubobmann Bauer den Ehrenring der Stadt Retz überreichen werde. Und dazu einen Schlüssel für eine Weinbox in der Althofvinothek. Es geschehe dies im Auftrag des Gemeinderates, ein dementsprechender, einstimmig verabschiedeter Beschluss sei vorangegangen. Man wolle, so Schehr, Anerkennung zeigen. Anerkennung für die viele, viele Basisarbeit, die Bauer unbeachtet im Hintergrund für das Zustandekommen dieser Elektrifizierung geleistet habe.
In seiner Dankesrede propagierte Bauer dann vehement die Weiterführung der Elektrifizierung nach Znaim. Mitten in der Rede tat sich auf dem Gleis nach Drosendorf ein Stück weiter links etwas. Dort stehende Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft begannen ein Transparent zu entrollen. Nach wenigen Augenblicken war es vollständig aufgerollt. Es war ein an zwei Stäben befestigtes, von Hand gestaltetes Leintuch-Transparent. Mit Farbe stand auf ihm eine Danksagung an Bauer geschrieben: "Hannes, guat hoast dös g'moacht!"
Nach der Dankesrede von Bauer trat Bürgermeister Schehr abermals ans Mikrophon. "Ausklingen lassen möchten wir diese feierliche Stunde nun", gab er bekannt, "mit etwas Besinnlichem. Und zwar waren die Mitarbeiter unserer Gemeinde in den letzten Wochen sehr fleißig. Sie haben intensiv nach einem kurzen Stück Literatur gesucht, das auf irgendeine Weise zu dieser Bahnstrecke, zu diesem heutigen Ereignis passt. Und sie sind fündig geworden. Womit genau, davon können Sie sich nun im Anschluss überzeugen.
Der Bürgermeister trat in die zweite Reihe zurück. An seiner Stelle übernahm ein mir nicht bekannter Mann das Mikrophon.

"Walter Kainz

Nordwestbahn …"

Nach etwa zehn Strophen endete das Gedicht. Beifall ertönte. Besonders gefallen hatte mir an dem Text, dass er in starkem Maße auf den einstmals grenzüberschreitenden Charakter dieser Bahnlinie einging. Ein Punkt, der heute leider weitestgehend in Vergessenheit geraten zu sein schien, dachte ich abschließend.
Noch während der Rezitation waren Bürgermeister Schehr und Stadtamtsmitarbeiter Körberl an die Ehrengäste herangetreten. Körberl hielt eine Pappschachtel mit zwei Magnumflaschen in den Händen. "Bevor wir nun in den Althof gehen, wo bereits ein Essen auf uns wartet", ergriff der Bürgermeister noch einmal das Wort, "darf ich dir, Herr Verkehrsminister, und auch dir, Herr Landeshauptmann, als kleines Dankeschön für die Mühen, die mit diesem Projekt verbunden waren, je eine Magnumflasche Roten Veltliner überreichen."
Körberl trat mit dem Wein zunächst auf Klima zu. Irgendwelche Kommentare folgten, die ich akustisch nicht verstand, da sie nicht übers Mikrophon gingen. Der Bürgermeister überreichte dann eine der zwei Flaschen an den Verkehrsminister.
Ich gab den zwei Politikern ein Winkzeichen, dass sie mal zu mir in die Kamera sahen. Auch Hermann Neumayr tauchte wieder neben mir auf und fotografierte ebenfalls.
Danach bekam der Landeshauptmann sein Präsent. Ich fotografierte auch wieder die Übergabe.
Klima lachte, zeigte auf Prölls Flasche und meinte: "Das freut den Pröll, dass er einen Roten vernichten kann."
Pröll konterte: "Man merkt, der Minister ist kein Weinfachmann, sonst wüsste er, dass der Rote Veltliner ein Weißwein ist."
Vom Retzer FPÖ-Gemeinderat kam es aus dem Hintergrund: "Dabei wird der Rote Veltliner aus blauen Trauben hergestellt."
Alle lachten.
(Blau ist die politische Farbe der liberalkonservativen Freiheitlichen Partei Österreichs - FPÖ.)

Der offizielle Teil war damit vorüber. Die Versammlung der Ehrengäste löste sich auf.
Nachdem Klubobmann Bauer ein paar Schritte in Richtung Bahnsteig gegangen war, zeigte er auf die Betonmasten der Stromleitungen und scherzte: "Sechts, es san do kane Wäschestangerln wuadn. Doamois, ois de easchtn poa Dinger doavuan aufstöllt wuadn san, hoabts es in Retz joa gmahnt: Doa spoannt da Bauer doann Leinen doazwischn un hängt sei Wäsch droan auf, wäü kumman tuat de Elektrifizierung eh nie bis auf Retz. 's nächste Moi spring i eich ins Gsicht, wauns sowoas soagts!"
Alles lachte.

Kapitel 38. 8. 4.: Das Rahmenprogramm

Unbemerkt war es früher Nachmittag geworden. Ich hatte mich zunächst bis zu einem ÖBB-Öffentlichkeitsarbeitsbeauftragten durchgefragt. Dieser gab mir dann eine vorbereitete Pressemappe mit Unterlagen über das Ereignis. Danach hatte ich begonnen, mir die für den Festbetrieb bereitgestellten Eisenbahnwaggons anzusehen. Gleich etliche geschlossene Güterwaggons befanden sich auf dem Gleis direkt hinter dem Bahnhofsgebäude. In ihren Innneren fanden mehrere Rahmenprogramme zu dem Festakt statt. Mobile Holztreppen waren vor den geöffneten Schiebetoren der Wagen aufgestellt worden.
Gleich vor dem ersten Waggon standen zwei durch ein Gerüst verbundene alte Fahrräder. In ihrer Mitte war ein Schild eingebaut worden. In alten deutschen Buchstaben stand darauf die Aufschrift zu lesen: "Ausstellung 'Das alte Fahrrad'". Es machte aufmerksam auf die sich über gleich mehrere Waggons erstreckende Ausstellung der Sammlung historischer Fahrräder des Retzer Mechanikers Fritz Kurtl. Für die er ja schon seit Langem ein dauerhaftes Museum suchte, erinnerte ich mich.
Ich stieg die kleine Leiter zum ersten Waggon hoch. Alle möglichen alten Fahrräder standen in ihm. Vorn dran befand sich jeweils eine kleine Tafel, auf der der Typ und ein paar technische Daten zu lesen waren.
Gleich links neben dem Eingang fielen mir an der Wand nebeneinander etliche Rahmen auf. Historische Fahrrad-Werbeplakate befanden sich in ihnen. Ganz am Anfang hing die Reklame einer Fahrradhandlung und –reparaturwerkstatt in Znaim. Sie war auf Deutsch verfasst und stammte aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren deutschsprachige Aktivitäten in der Gegend hinter der Grenze ja noch etwas völlig Alltägliches, dachte ich. So alltäglich, dass sich noch fast keiner irgendwelche Gedanken darüber machte. "Größte Fahrradhandlung u. mechan. Reparatur-Anstalt Znaim's", war auf dem Plakat zu lesen. Darunter hieß es: "Feuer-Emaillirung. Inhaber: Karl Wokřina in Znaim. General-Vertreter der Waffenräder, Styria, Meteor, Helios, Graziosa (kettenlos), Cleveland, Columbia, Humber. Rad-Depôt: Füttergasse Nr. 7. Mechanische Reparatur-Anstalt: Ottokarplatz Nr. 3. Erste Znaimer Radfahr-Schule."

Eine Postwertsachenschau des örtlichen Briefmarkensammlervereines schloss sich in den darauffolgenden Wagen an. In ihr hatte man auf sehr anschauliche und übersichtliche Weise den Niederschlag regionaler Geschichte in der Philatelie dokumentiert. Anlässlich des Tages natürlich mit dem Schwerpunkt Nordwestbahn.
Im letzten Wagen befand sich dann ein Original-Fahrtentrainer der ÖBB, an welchem Zugführer ausgebildet werden. Dort brachte ich eine ganze Weile an dem Gerät zu.

Kapitel 38. 8. 5.: Nordwestbahn annodazumals und heute

In der Pressemappe, die ich von dem ÖBB-Öffentlichkeitsarbeitsbeauftragten bekommen hatte, befanden sich auch geschichtliche Fakten. Beim Fahrtentrainer kam mir die Idee, damit einen Extra-Artikel zu schreiben. Ich beschloss, dies gleich anschließend an einen der Außentische des Bahnhofslokals zu tun.
Auf dem Weg gleich hinter dem Bahnhofsgebäude kam ich an einem Info-Tisch vorbei. Er stand linkerhand an dem kleinen Metallzaun vor den Gleisen. Alle möglichen Informationsmaterialien der ÖBB lagen auf ihm. Unter anderem stand darauf auch ein Glas mit lauter Kugelschreibern im ÖBB-Design. Ich tat im Vorbeigehen einen ordentlichen Griff hinein. Mein Verbrauch an Stiften war seit meinem Einstieg in die Pressetätigkeit enorm in die Höhe geschnellt.
Kurz nachdem ich mich an einen der weißen Plastiksessel gesetzt hatte, tauchte Herr Hammerschmidt auf. Wie er schon auf dem Weinkulinarium am Abend zuvor angekündigt hatte, befand er sich nicht im "Weinschlößl". Stattdessen kellnerte er wegen des zu erwartenden Gästeansturms in dem ebenfalls von ihm geleiteten Bahnhofslokal selber mit. "Grüß Gott!" rief er mir bereits im Gehen zu. "Woas deafs sein?" erkundigte er sich dann bei mir am Tisch.
"Ein Krügerl, bitte."
Kurze Zeit später bekam ich das gewünschte Halb-Liter-Glas Bier vor mir auf den Tisch gestellt. Ich zog den Reißverschluss vom hintersten Fach der Pressetasche auf, die neben mir auf dem Boden stand. Nach ein paar Sekunden hatte ich die Mappe auch schon gefunden. Ich legte sie auf den Tisch, schlug sie auf und entnahm die Unterlagen mit den Fakten über die Geschichte der Nordwestbahn. Es waren drei zusammengeheftete Blätter, wie ich gleich darauf feststellte. Ich begann den Text zunächst einmal zu überfliegen: "Die Strecke von Wien nach Stockerau bestand bereits seit dem 26. 6. 1841. (...) Im Jahre 1861 stellte die Stadt Retz ein Ansuchen an die Regierung in Wien, dass die Bahn von Stockerau über Retz weitergebaut werde. (...) 1866 wurde ein persönliches Gesuch an Kaiser Franz Josef gerichtet. (...) Mit Gesetz vom 1. 6. 1868 wurde der Bau der Strecke Wien-Znaim beschlossen. (...) 1869 begann man mit dem Bau der Thaya-Brücke vor Znaim. (...) 1870 wurde der Nord-West-Bahnhof in Wien errichtet und ein Jahr später der Verkehr bis Znaim aufgenommen. (...) Die Flügelbahn Zellerndorf-Sigmundsherberg war bereits 1872 eröffnet worden. (...) Am 1. 12. 1882 wurde die Haltestelle Unterretzbach eröffnet. (...) Die Strecke Retz-Drosendorf ging 1910 in Betrieb. (...) Ende 1915 passierte der Balkanzug auf seiner Strecke von Berlin über Dresden, Znaim und Wien nach Istanbul auch Retz."

Ich lehnte mich zurück und legte den Stift aus der Hand. Nachdem ich mich mit allen Fakten vertraut gemacht hatte, war der Artikel so schnell entstanden, dass das Plastik des Stiftes regelrecht glühte.
Ich setzte mich schließlich wieder auf, nahm den Artikel zur Hand und begann ihn zur Kontrolle noch einmal durchzulesen: "Wenn man heute von der Nordwestbahn spricht, meint man meistens die Strecke von Wien nach Retz. In der Regel steht dabei ein Problem des Pendlerverkehrs zur Debatte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nur noch schwer vorstellbar, dass gerade die Nordwestbahn während ihrer Blütezeit bis nach Sachsen verkehrte.
Geld und Kreditmangel zwangen den Staat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, seine vorhandenen Eisenbahnlinien wieder an private Gesellschaften zu verkaufen. Jedoch verhielten sich diese sehr zögerlich mit dem Bau neuer betriebs- und volkswirtschaftlich wichtiger Strecken. So wurde Ende der Sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf Vorschlag des Finanzministers Dr. Brestl die Zinsbürgschaft für Privatbahnen eingeführt. Der Staat verpflichtete sich dabei gegenüber den Aktionären, die Spanne zwischen dem garantierten Zinsfuß und dem tatsächlichen Ertrag zu leisten. In der Folge entstanden nacheinander die Kronprinz-Rudolfsbahn, die Kaiser-Franz-Josefs-Bahn sowie die Nordwestbahn. Ihre Errichtung wurde vor allem durch liberale nordostböhmische Großgrundbesitzer forciert.
Dem Ersten Weltkrieg folgte der politische Zusammenbruch der Donaumonarchie. Mehrere Nachfolgestaaten entstanden, welche ihr Erbe an Bahnlinien aus kaiserlichen Zeiten nach ihren Bedürfnissen umstrukturierten. Die Bedeutung der Nordwestbahn sank rasch zugunsten der Westbahn ab. Um die Verwaltung der im Besitz der I. Republik verbliebenen Bahnnetze kümmerten sich nun die Bundesbahnen Österreich (BBÖ). Ihre Tätigkeit endete abrupt mit dem Anschluss an Hitler-Deutschland im Jahre 1938. Sämtliche Befugnisse gingen an die Verwaltung der Deutschen Reichsbahn in Augsburg über.
Nach Ende des Krieges wurde der grenzüberschreitende Verkehr nach Znaim nicht mehr aufgenommen. 1952 stellte man dann auch noch den Zugverkehr nach Unterretzbach ein, womit Retz zur Endstation wurde. Erst die Grenzöffnung im Jahre 1989 gab der Nordwestbahn die Chance, wieder das zu werden, was sie zur Zeit ihrer Gründung war: Eine europäische Verkehrsverbindung."
War ich mit meinem Schlussstatement über die europäische Verkehrsverbindung vielleicht etwas zu euphorisch gewesen? überlegte ich. Der momentane Zustand sieht ja alles andere als danach aus. Einen fließenden Durchgangsverkehr gibt es nicht, lediglich einen Pendelzug über gerade mal drei Stationen. Der Zug, der diese Aufgabe wahrnimmt, ist sicherlich dazu geeignet, helle Freude bei Eisenbahnromantikern auszulösen. Jedoch meilenweit davon entfernt, ein dem technischen Niveau des beginnenden 21. Jahrhunderts angemessenes Verkehrsmittel zu sein. Und die Benutzung dieses Fahrzeuges, dessen Stärke bereits mehr im kulturhistorischen als im infrastrukturellen Bereich liegt, war bis zu Beginn dieses Jahres überdies nur Österreichern und Tschechen vorbehalten. Eine Tatsache, die man in einer Zeit, in der Politiker aller Strömungen in einer Tour "Europa, Europa, Europa" krakeelen, ja als sehr kurios bezeichnen muss. Da fragt man sich schon, wie ernst dieses Geschrei eigentlich gemeint ist, wenn Europa in der Praxis bereits an so kleinen Dingen scheitert.
Wenn man im Vergleich dazu an die Gründer dieser Bahn denkt, überlegte ich, das müssen noch Männer mit Visionen und Pioniergeist gewesen sein. Und heute, da liegt die Verantwortung für diese Linie in den Händen von minimalistischen, mit Blindheit geschlagenen, bürokratischen Erbsenzählern. Die überhaupt nicht erkennen, welch ungeheure Möglichkeiten sich auftäten, wenn man an diese alten Traditionen wieder anknüpfte. Im Gegenteil. Ohne Kämpfer auf einsamer Front wie zum Beispiel Bauer wäre die Situation dieser Bahnlinie ja sogar im österreichischen Inland noch sehr viel schlechter.
Ich lasse den Schluss so, entschied ich mich schließlich. Bloß weil sich andere nicht trauen, über den Tellerrand hinauszuschauen, muss man ja noch lange nicht dasselbe tun.

Quelle:

"Die Bahnen Österreich-Ungarns". Band 1: "Die Österreichische Nordwestbahn". Von Alfred Horn unter Mitarbeit von Dipl.-Ing. Reimar Holzinger und Ing. Wilhelm Urbanczik. Dipl.-Ing. Rudolf Bohmann Industrie- und Fachverlag. Wien-Heidelberg 1967.

Kapitel 38. 9.: Sonnabendnachmittag – Fahrt zum Eisenbahnmuseum Unterretzbach

Kurz nachdem ich mit dem Artikel fertig geworden war, hatte ich von einer Sonderfahrt nach Unterretzbach gehört. Zweimal an diesem Tag würde ein Sonderzug kostenlos zum Eisenbahnmuseum Unterretzbach fahren. Die erste Fahrt war bereits am Vormittag. Geleitet würde die Exkursion von einem Altstadtrat Plessl aus Kleinhöflein, welchem das Museum unterstand.
Mir kam die Idee, dass das eventuell noch Stoff für einen Extraartikel ergäbe. Außerdem interessierte mich das privat. Ich war daher gleich auf dem Bahnhof geblieben, um mich ebenfalls an der Sache zu beteiligen.
Der Zug, stellte sich heraus, war ein Triebwagen der Tschechischen Bahnen. Der, der für gewöhnlich auf der Strecke Retz-Znaim-Retz verkehrte.

Bahnhof Unterretzbach, eine knappe Stunde später. Ich verließ den Zug als Letzter. Nachdem ich ein paar Schritte gegangen war, sah ich mich erst einmal um. Nach all dem Festtagstrubel bedeutete es fast eine Umstellung, sich plötzlich in völliger Abgeschiedenheit in freier Natur zu befinden. Wo nichts weiter war als warmer Wind, gelegentlich das Rauschen der paar Bäume und Sträucher um das Bahnhofsgebäude. Diese Abgeschiedenheit im Freien war der erste Eindruck, der ganz und gar dominierte.

Vor mir tauchte das ehemalige Bahnhofsgebäude von Unterretzbach auf. Zweigeschossig, dreiachsig, Satteldach, Putzquader im Erdgeschoss, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts errichtet.
Gemeindegrenzenmäßig gehörte es zum nahen Kleinhöflein, es trug daher die Hausnummer Kleinhöflein 142. Und die Grundstücksnummer war die 1360, hatte ich mal irgendwo gelesen.
Seit 1987 Eisenbahnmuseum.
"Unter-Retzbach" war noch immer auf dem Stationsschild kurz unter dem Dach zu lesen. Darunter in etwas kleinerer Schrift: "Kleinhöflein". Oder es war bereits w i e d e r zu lesen. Das Schild machte den Eindruck, als ob es erst vor nicht allzu langer Zeit gründlich restauriert worden wäre. So wie das ganze Haus überhaupt.
Links und rechts befanden sich an dem Haus je eine Laterne im historischen Stil. Diagonal standen sie von den Ecken des Hauses weg.
Über zwei Eingänge verfügte die Vorderfront des Gebäudes. Offensichtlich führte einer von ihnen mal in die Wartehalle und der andere zum Fahrkartenschalter. Zwischen den Eingängen stand eine Bank.

Außer dem Bahnhofsgebäude deutete an diesem Ort praktisch nichts mehr darauf hin, dass sich hier mal ein Bahnhof befand. Der Boden war, soweit das Auge reichte, mit hohem Gras überwachsen. Der Wind bewegte es ein wenig hin und her. Nur die Holzkiste mit Winterstreugut unter einem der Kastanienbäume erweckte zumindest den Eindruck von etwas Aktivität. Bei all dieser Verlassenheit stach die offensichtlich gerade erst restaurierte Fassade des Bahnhofsgebäudes geradezu heraus.

Südlich neben dem Bahnhofsgebäude schloss sich ein kleiner Platz an. Wieder südlich davon wurde er durch eine Reihe Sträucher abgegrenzt, westlich durch einen Kiesweg.
Auf ihm war bereits eine kleine Ansammlung alter Bahntechnik zu sehen. Direkt nördlich vor der Strauchreihe hatte man ein Minigleis mit nur acht Schwellen errichtet. Darauf stand ein gelber Motorbahnwagen der Reihe 616 mit ebenfalls sehr kleinem Tiefladeanhänger. Es war einer, wie ihn die ÖBB-Bauhöfe verwendeten.
Wieder direkt nördlich vor dem Fahrzeug befand sich eine Reihe weiterer Bahnobjekte. Eine kleine Bahnampel. Ein altertümlicher Holzschlitten, der offensichtlich auch einmal im Bahndienst stand.
Das letzte Objekt der Reihe am westlichen Ende gehörte bereits nicht mehr zum Museumsinventar. Es war das Haltestellenschild des Bahnbusses am Rande des Kiesweges. Es wirkte irgendwie deplatziert in dieser Einöde am scheinbaren Ende der Welt.
Noch einmal nördlich davor befand sich ein aus zwei Vierkanthölzern errichtetes Gleis. Eine kleine, schon stark angerostete Kipplore stand darauf.

Ganz am Beginn dieser Mini-Ausstellung befand sich eine Tischeinheit. Sie war aus groben Brettern zusammengezimmert worden, verfügte über zwei integrierte Bänke. Sie stand unter zwei alten Kastanienbäumen, die wiederum dicht am Rande der Gleise standen.

Ich stieg über das Gleis vor mir. Es war ein Abstellgleis, wie sich zeigte. Es zweigte am Beginn des Bahnhofsgeländes vom Hauptgleis ab. Am Ende des Bahnhofs vereinigte es sich wieder mit ihm. Teilweise war es auch schon mit Gras überwachsen.

Vor dem Bahnhofsgebäude angekommen, drehte ich mich um und sah zur anderen Seite. Ein etwas eigenartiges Bild bot sich einem von dieser Stelle aus. Fast die gesamte Kulisse bestand aus dem weiten Feld mit den flachwelligen Hügeln am Horizont. Der Triebwagen im Vordergrund wirkte fast wie vom Himmel mitten in die Landschaft gefallen.
Schräg über dem Feld jenseits des Bahndammes erschien am Horizont die Windkraftanlage von Nachbar Suttner-Gatterburg. Ich erinnerte mich daran, wie ich vor ein paar Monaten eine Reportage darüber geschrieben hatte.
Entgegen vieler Vorurteile gegenüber der Optik von Windrädern fügte sich das Objekt sehr harmonisch in das gesamte Landschaftsbild ein. Das fiel sogar mir mit meiner tendenziell vernichtend kritischen Einstellung gegenüber moderner Architektur positiv auf.

Wenige Schritte rechts neben der Geräteausstellung befand sich an der Seite des Hauses die Eingangstür. In ihrem Oberlicht war das Glas entfernt und durch ein Schild mit der Aufschrift "Museum" ersetzt worden. Altstadtrat Plessl stieg die drei Stufen davor hoch. Oben holte er ein Schlüsselbund hervor und begann die Tür zu öffnen.
Als er damit fertig war, drehte er sich zunächst um in Richtung Gäste und blieb an der Stelle stehen. "Ich möchte Ihnen zunächst etwas über die Geschichte dieser Einrichtung erzählen", begann er danach.
"Da der Bahnhof Unterretzbach nur mehr als Ladestelle Verwendung fand, wurde von der Gewerkschaft der Eisenbahner, Ortsgruppe Retz, der Beschluss gefasst, ein Museum einzurichten.
Mit den Renovierungsarbeiten des Bahnhofes wurde am 1. April 1986 begonnen, welche am 30. Mai 1987 abgeschlossen waren.
Die Arbeiten wurden von folgenden Firmen ausgeführt:
Streckenleitung Wien Franz-Josefs-Bahnhof.
Elektrostreckenleitung Wien.
Bahnmeistereien Retz, Absdorf und Hollabrunn.
Dachdeckerarbeiten: Firma Springer, Watzelsdorf.
Transporte: Firma Dietrich, Mallersbach.
Spenglerarbeiten: Firma Fuchs, Retz.
Tischlerarbeiten: Firma Schmircher, Kleinriedenthal.
Auch die Kollegen der Ortsgruppe Retz halfen tatkräftig mit. Als Museum eingerichtet wurden drei Räume. Zu sehen sind unter anderem Oberbaueinrichtungen, Signaleinrichtungen und Streckengeschichte.
Die feierliche Eröffnung des Museums wurde am 20. Juni 1987 durch das ZA-Mitglied Walter Skopek vorgenommen."

Im ersten Stock angekommen, blieb er schließlich in einem der Räume stehen. Sie gehörten bereits zum Ausstellungsbereich, wie sich zeigte. Drei Räume umfasste er insgesamt, wie uns mitgeteilt wurde. Alle möglichen Exponate über die Geschichte der Nordwestbahn befanden sich in den Vitrinen ringsum. Eine frühere Bahnhof- und Güterkasse. Ein mechanischer Stellwerksblock. Eine Schaufensterpuppe in einer historischen Zugschaffneruniform. Signallampen. Metallschilder von Bahnhofsgebäuden und Lokomotiven. Dokumente vom seinerzeitigen Bergbau entlang der Bahnstrecke Retz-Drosendorf. Alte Fahrkarten und Fahrpläne. Faksimiles historischer Schriftstücke. Pläne. Zahlreiche vergrößerte Fotografien. Man merkte, dass hier ihrer Gegend verbundene Eisenbahnliebhaber am Werk waren.

Kapitel 38. 10.: Sonnabendnachmittag – Fußballspiel auf dem Sportplatz

Schon auf der Rückfahrt war mir eingefallen, dass auf dem Fußballplatz gerade das Freundschaftsspiel lief. Eine Jugendmannschaft des SC Retz trat gegen irgendeine Jugendmannschaft aus Znaim an. Für gewöhnlich interessierte mich Fußball zwar nicht im Geringsten. Unter den Spielern der Retzer Mannschaft befand sich jedoch auch Johannes. Ich hatte daher beschlossen, gleich nach der Ankunft in Retz dennoch mal kurz vorbeizusehen.
Ich lief die kleine, Gras bewachsene Anhöhe am Ostrand des Fußballplatzes empor. Über die Lautsprecheranlage wurde in dem Moment gerade eine Durchsage verkündet. Aufgrund des allgemeinen Tumultes, der mit solch einem Spiel verbunden war, konnte man jedoch kein einziges Wort davon verstehen.
Der Himmel über dem Spielfeld hatte sich inzwischen grau zugezogen. Der Umschwung war ziemlich überraschend gekommen. In Retzbach hatte noch intensiver Sonnenschein geherrscht.
Ich blieb schließlich direkt hinter dem Maschendrahtzaun stehen. Automatisch sah ich zu den hölzernen Sitzreihen hinüber. Unmassen von Zuschauern hatten sich darauf eingefunden. Die lang gezogene, Gras bewachsene Aufschüttung am Westrand des Platzes, in die die Bänke eingelassen worden waren, konnte man nur erahnen. Längst nicht alle der Anwesenden hatten auf den Reihen Platz gefunden. Hinter der gesamten obersten Bankreihe waren sogar die Stehplätze knapp. Gleiches galt für den Bereich vor dem Ausgangstor zur Laurenz-von-Kurz-Gasse.
Fan-Fahnen wurden geschwenkt, Fußballsirenen erklangen. Vom Fußende der Aufschüttung aus gab der Schiedsrichter im schwarzen Dress Winkzeichen mit der Fahne.
Auch außerhalb des Platzes befanden sich etliche Zuschauer. Diese verfolgten von ihren Standorten aus das Spiel kostenlos mit. Die meisten sahen von den Dachgeschossen der umliegenden Häuser aus zu. Prädestiniert war dafür natürlich die Laurenz-von-Kurz-Gasse, deren beinahe gesamte östliche Seite zum Sportplatz gehörte. Ebenso das Straßenende der Johann-Köller-Gasse, die als Sackgasse an das nördliche Kopfende des Platzes stieß. Auch die beiden turmartigen Wohnblocks am östlichen Beginn der Laurenz-von-Kurz-Gasse.
In den Massen vor dem Ausgang zur Laurenz-von-Kurz-Gasse kam etwas Bewegung auf. Ich bemerkte, dass man dort anlässlich des Spiels eine Holzbude aufgestellt hatte. Es war eine von denen, wie sie sich auf dem Hauptplatz zu Dutzenden befanden. Essen und Trinken wurde von dort aus verkauft.
Auf dem Feld selbst war das Spiel gerade ins Stocken geraten. Links standen die tschechischen Spieler in rot-grünen Dressen. Rechts die SC-Retzler in blau-weiß. Ich vermutete, dass wenige Augenblicke vorher ein Tor gefallen sein musste. Meine Annahme bestätigte sich gleich darauf. Von irgendwoher war ein Pfiff des Schiedsrichters zu hören. Der Anstoß für die Wiederaufnahme des Spiels erfolgte.
Spieler begannen, in kurzer Folge immer wieder Mannschaftskameraden beim Namen zu nennen. Als einer von ihnen gerade mit dem Ball ziemlich weit vorn war, rief ihm jemand zu: "Zeit hoast, Zeit!" Er gab daraufhin den Ball ab. Gerade noch rechtzeitig, bevor ihn ein Gegner attackieren konnte.
"Seeehr gut!" rief jemand aus der Mannschaft.
"Werner, du muasst höfn!" warnte ein anderer Spieler.
"Naaa!"
"Hintere!"
"Manfred, du bist ohne Gegner!"
"Fieri!"
"Ja, ja, ja!"
Ein tschechischer Spieler rief: "Pozor!"
"Schnölla, schnölla, schnölla, gemma!"
"Dös giabt's joa net, heahst!"
"Rechts, rechts, rechts!"
"Am Mann bleiben!"
"Tempo!"
Schließlich konnte ich auch Johannes unter den Spielern ausmachen. Er hatte die Trikotnummer Fünf. Er befand sich gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelfeldes der Hälfte, die von seiner Mannschaft bespielt wurde.
Kurz darauf flog der Ball aus dem Spielfeld. Er landete in dem sehr viel kleineren Feld an der Südseite mit den zwei Trainingstoren. Von dort aus rollte er bis knapp vor die dicht gewachsene Strauchreihe am Kopfende des gesamten Platzes. Dahinter liefen bereits der schmale Weg zum Bahnhofsplatz, die Johann-Liebl-Straße und die Dr.-Gregor-Korner-Gasse zusammen. Nur wenige Augenblicke danach erfolgte der Einwurf eines neuen Balls. Einer der Spieler setzte an, zögerte zunächst jedoch etwas. "Worauf woatst d'n?" rief ihm der Schiedsrichter zu. Kurz darauf wurde das Spiel wieder fortgesetzt. Einen Moment später tauchte am rechten Rand der Mann von Eva aus dem EFEU-Verein auf, der das Spiel in seiner Eigenschaft als Sektionsleiter mitverfolgte.
Nur wenige Meter links von mir befand sich in einer kleinen Hütte aus gelbem Wellblech die Ersatzbank. Der dort gerade sitzende Spieler erhob sich. Nachdem einen Moment später einer seiner Mannschaftskameraden im Zuge des Spiels in seine Nähe gekommen war, rief er ihm spottend zu: "Dös woas doa fliagt, dös is da Boalln. Dös is koa noatialiches Phänomen."
Der Ball knallte vor eine der Metalltafeln der Sponsorbetriebe. Erst durch dieses Ereignis nahm ich sie bewusst wahr. Vorher war ich von dem allgemeinen Geschehen ringsherum zu abgelenkt. Alle möglichen Firmen der Stadt waren auf ihnen zu finden. Gleich neben der Kantine hing eines mit dem Logo der Tischlerei von Gemeinderat Drohmer. Gleich daneben befand sich das von der Bad-, Sanitär- und Fließenhandlung Drago am Hauptplatz. Die Volksbank kam als Nächstes. Die Firma Herzog. Die örtliche Raiffeisenkasse. Die Möbelhandlung Schättl. Die Fleischerei Hackl aus der Pfarrgasse. Die Farbenhandlung von Stadtrat Gebhardt. Die Eisenwarenhandlung Steffl. Die Hypo-Bank. Das Schlusslicht machte das "Vinzenz Liebl".
Auf dem Feld hatte sich das Spiel inzwischen in den Torbereich der Znaimer Mannschaft verlagert. Parallel dazu waren auf der Bühne rhythmisches Klatschen und irgendwelche Fußballschlachtrufe aufgekommen. Aufgrund des allgemeinen Lärmes konnte man sie jedoch nicht verstehen.
Einer der tschechischen Spieler sprang in die Luft, um den gegnerischen Angriff abzuwehren. Er landete jedoch auf dem Rücken, ohne etwas zu erreichen.
"Poass auf, hinta dia!" warnte gleich darauf ein österreichischer Spieler einen Mannschaftskollegen.
"Sehr scheen! Guater Pass!"
"Attackian! Attackian!"
"Dös deaf joa net woah sein, heahst!"
"Guat!"
"Z'ruck!"
"Umme!"
"Aus is!"
"Geh aufe!"
"Geh, woas is dös?"
"Geh hea doa!"
Auch tschechische Laute mischten sich zwischendurch in das Geschrei.
"Z' mia, z' mia!"
"Jaaa! Jaaa!"
Eine Sekunde später sah ich es auch. Ein Tor war gefallen. Der tschechische Torwart lag von seinem missglückten Abwehrversuch seitlich auf dem Boden des Tores.
Auf der Tribüne sprangen die Fans des SC Retz von den Sitzen auf. Jubelgeschrei brach aus. Wieder wurden die Fan-Fahnen geschwenkt und die Fußballtrompeten geblasen.
Direkt vor mir kam währenddessen ein Mann vorbei. An jeder Hand trug er einen Eimer voller Mineralwasserflaschen.
Ein paar Minuten hielten die Begeisterungsstürme an. Schließlich pfiff der Schiedsrichter wieder zum Neuanstoß.
Hinter den Häusern der Laurenz-von-Kurz-Gasse gerieten mir die Bäume des Sparkassengartens ins Blickfeld. Ich erinnerte mich wieder daran, wie ich dort Anfang Juni über die Eröffnung der Weinwoche berichtet hatte.
Auf dem Spielfeld gab es inzwischen einen Austausch. Der Spieler von der Ersatzbank wurde hereingenommen, ein anderer nahm dort Platz.
Vereinsvorsitzender Heilinger tauchte in einigen Metern Entfernung auf. Er lief am Rande des Feldes auf und ab, während er das Spiel verfolgte. Schließlich blieb er vor einem der langen Betonmasten für die Flutlichter stehen.
Hinter mir waren unterdessen undeutlich Durchsagen vom Bahnhof zu hören. Kurz darauf startete ein blau-weißer Triebwagenzug der Baureihe 4020. Ich erkannte es an dem charakteristischen Summton beim automatischen Schließen der Türen. Krachend schoben sich die Türen zu. Die Bahn surrte los, im Größenverhältnis fast so leise wie eine Modelleisenbahn. Automatisch drehte ich mich zur anderen Seite, um die Abfahrt zu beobachten.
Eher unbewusst gerieten mir die einzelnen Elemente des Bahnhofs ins Blickfeld. Das langgezogene, einstöckige Speichergebäude parallel zu den Gleisen. Ich erinnerte mich, dass in ihm die ÖBB-Mietfahrräder aufbewahrt werden. Die Balken des Holzvorbaus auf der Rampe davor. Wieder einmal erinnerte er mich ein wenig an das typische Dach eines Presshauses in einer Kellergasse. Der ziemlich große Schüttkegel feinkörnigen Kieses. Wie gewohnt lagerte er am südlichen Kopfende des Rampenbodens, kurz bevor dieser dort schräg nach unten ging.
Die Dinge, welche sich am Rande des asphaltierten Platzes direkt entlang der Gleise befanden. Zwei Stapel Holzpaletten, ein Berg Koks, das kleine Förderband. Die Blickrichtung ging von da aus zu den weiß-roten Personenzuggarnituren auf den hinteren Gleisen. Der geschlossene Güterwagen im Vordergrund. Noch ein Gleis weiter vorn die zwei Schüttgutwaggons. Sie ragten bereits halb hinter dem Raiffeisenlagerhaus hervor. Wie immer war der Gesamteindruck, dass für einen Bahnhof alles extrem aufgeräumt wirkte.
Das unmittelbar südlich neben dem Bahnhofsplatz liegende Lagerhausgelände schloss sich an. Wie der Fußballplatz war es durch Maschendraht eingegrenzt. Alles Mögliche türmte sich auf dem Areal. Gestapelter Gasbeton. Stapel zerschnittener Baumstämme. Massenhaft Vierkanthölzer. Leere Holzpaletten. Riesige Berge aufgeschüttetes Korn befanden sich in den einzelnen Kammern der Lagerhalle. Direkt seitlich an ihr schloss sich der schwindelerregend hohe Turm in der Mitte des Geländes an. Gleichzeitig erinnerte ich mich auch wieder an den Pressetermin, den ich dort im Frühjahr mit Vertretern der Landes-Landwirtschaftskammer gehabt hatte.
Vom anderen Ende des Platzes war das Näherkommen eines Linienbusses der Post zu hören. Er durchquerte die Enge in der Mitte des Bahnhofsplatzes. Hindurch zwischen dem Busdepot genau im Mittelpunkt des Platzes und den Umkleideräumen an der Ecke des Sportplatzes. Dort passierte er den gleich hinter dem Depot stehenden überdachten Fahrradständer. Danach fuhr er vorbei an den zahlreichen Autos auf den Parkplätzen links und rechts. Schließlich wendete er hinter der letzten der Bauminseln in der Mitte des Asphaltplatzes. Auf der gegenüberliegenden Seite fuhr er dann wieder zurück. Ein paar Sekunden später nahm er bei den Bushaltestellen vorn seine Position in Fahrtrichtung ein.
Auf dem Fußballfeld erklang ein Gongschlag. Es war derselbe, wie ihn die Klingel in der Schule von sich gab. Gleich darauf wurde auch der Spielstand verkündet. Er lag bei 3:1. Schließlich pfiff auch der Schiedsrichter die Halbzeit ab.
Aus dem Lautsprecher, durch den kurz zuvor noch der Spielstand angesagt worden war, erklang Musik. Zeitgleich mit ihrem Einsetzen erhoben sich in den Zuschauerreihen die Gäste von den Sitzen. Schubweise bewegten sie sich zu der hölzernen Versorgungsstation am Rande des Platzes.
In der Kantine an der rechten Ecke auf meiner Seite des Platzes schrillte ein Telefon. Nur wenige Augenblicke später kam eine Durchsage, dass sich irgendjemand in der Kantine melden soll. Draußen auf dem Spielfeld hatten sich inzwischen überall kleinere Gruppen von Fußballern gebildet. Diese übten Kicken, indem sie sich die Bälle gegenseitig zuspielten. Das Treten des Balls hinterließ dabei jedes Mal ein dumpfes Geräusch.
Ich sah auf die Uhr. Kurz vor Um Vier war es inzwischen geworden. Ich beschloss, auf den Hauptplatz zu gehen und mich dort noch ein wenig umzusehen, bevor ich dann am Abend wieder Dienst im Stand der Klasse hatte.

Bürgerreporter:in:

Christoph Altrogge aus Kölleda

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