Ein Weinfest auf dem Lande - Teil 2

Der Eingang zum Café Wiklicky in Retz bei Tag.
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Wieder eine meiner Jugenderinnerungen aus den Neunzigern:

Kapitel 38. 4. 6.: Die Arbeit ist getan

Unmerklich war es Nacht geworden. Hauptsächlich die Laterne auf der Ecke zwischen Westwand und Südwand des Rathauses sorgte noch für etwas Licht.
In den benachbarten Ständen hielten sich nur noch vereinzelt ein paar Mitarbeiter auf. In einigen der Buden wurde die Beleuchtung ausprobiert. Gegenüber am Stand des Bienenzüchtervereines brannte eine aus roten, blauen, gelben und grünen Glühbirnen bestehende Lichterkette. Sie ging von der linken und der rechten Seite des Standes aus. Von dort verlief sie zum jeweils nächsten der Rotdornbäume, welche die Ränder des gesamten oberen Hauptplatzes säumten.
An unserem eigenen Stand waren mittlerweile nur noch Antonia und Maria beschäftigt. Sie nagelten an der Vorderwand das Schild mit der Aufschrift "HAK Retz" an. Die Mädchen hatten es in den letzten Tagen in der Schule gemeinsam gemalt. Danach hatte es Wilhelm zunächst zu Hause aufbewahrt und zum Aufbau im Traktor mitgenommen.
Irgendwann war das Annageln beendet. Wilhelm nahm einen Zettel aus seiner Hosentasche, faltete ihn auf. Er machte eine zu sich heranwinkende Handbewegung und rief: "Kummts amoi hea oalle. I wü eich nau schnö de Eiteilung fia de Dienste im Standl vualesn.
Oiso: Moagn vuan Siebzehne bis Zwoanzg de Antonia un da Christoph. Vuan Zwoanzg bis Dreiazwoanzg da Cornelius, da Johannes un i. Un vuan Dreiazwoanzg bis zum Schluss de Maria, de Isolde und da Georg.
Aufn Soamstoag vuan Viazehne bis Siebzehne de Antonia und da Georg. Vuan Siebzehne bis Zwoanzg da Cornelius un i. Vuan Zwoanzg bis Einazwoanzg de Paula, da Christoph und da Georg. Un vuan Einazwoanzg bis zum Schluss de Isolde, de Antonia un de Maria.
Aufn Sunntoag vuan Ölfe bis Viazehne da Cornelius un i. Doann is a Stuand Pause zweng 'm Festumzug. Vuan Fianfzehne bis Siebzehne de Maria un da Georg. Vuan Siebzehne bis Zwoanzg de Isolde un i. Un vuan Zwoanzg bis zum Schluss de Paula, da Johannes un da Christoph.
Aufn Sunntoag wea ma oam Schluss freili nimma meah waß Gott wie loang vakafn, dös zoit si doann joa a scho finaunziö nimma meah aus. Dös liagt doann im Eamessn vuan de drei Leit, de doa eitäült san, wauns de Hiattn dichtmoachn.
A poa Soachn zum Stoandldienst mechat i eich nau soagn. Wauns a Göd aus da Kassa außanehmts fia iagndwoas, doann legts an Zedl dofia eine. Auf den schreibts 'n Vawendungszweck, eicharen Noam'n un 's Doatum.
A Liafaroantnlistn mit de Telefonnumman liagt bei da Kassa.
Woassa zum Gloaslspialn hoits eich beim Roathaus auf da Seitn, doada, glei ums Eck. Doa is a Oanschluss." Er deutete mit dem Arm nach rechts. "Doass ihr mitm Woassa a bisserl soagsoam umgehts, i glaab, dös eh kloa, doa brauch i nix weita doazua soagn."
Er überlegte kurz, bevor er fortfuhr: "Joa, wengan de Gloasln. Mia is scho kloa, doass bei sowoas vü valuan geht un hinnich wiad a. Trotzdem mechat i eich bittn, doass ihr zwischnduarch imma moi eisoammeln geht's vuan de Tisch ringsumatum. Schaut's auf dös hoit a bisserl. Guat.
A joa, a Soach nau: Woas is ois zum Tuan jewäüs noachm letztn Dienst? Oalle Lebnsmittl und Getränke schoaffts in den Innenraum vuam Standl eine, den woas ma hintn oaspean koa. Doann hengt's des Tiarln vuam Standl eine – des werd's beim Dienst sicha außegebn, wäü 's sunstn z' eng wiad – un speats oa. Doann zöht's 's Göd, troagts de Summe auf da Listn eine un briangts beides zsamm'n mitm Schliassl zum Cornelius. De Easchtn vuam nechstn Toag hoin si doann vuan duat ois wieda. Un fois ea zwischnduarch amoi net doasein soitet – sei Famü waß iwa ois Bescheid.
Wegrama dama de Hiattn doann aufn Dienstoag noachm Weilesefest oam Oabend Um Finfe, Treffpunkt oan dera Stöll. Un waun dös doann daledigt is, moach ma si woas aus, waun un wo ma si zsammsetzn, um de goanzn Restln z' essn, de vuam Vakafn iwableibn. Bei sowoas bleibt nämli in da Regel aaniges iwa.
Un fois zwischnduarch iagndwoas unkloa sein soitat – mei Handy-Numma hoabts eh oalle. Nau Froagn?"
Schweigen antwortete ihm.
"Guat. Doann kennts hamgehn."
Die Runde begann sich aufzulösen. Auch ich bemühte mich, möglichst schnell den Platz zu verlassen. Ich musste noch ins "Wiklicky", wo die Fotoausstellung "40 Jahre Weinlesefest" eröffnet wurde. Vorher wollte ich mich noch duschen und umziehen. Hinter mir bekam ich mit, wie einige aus der Klasse beschlossen, ins Kino zu gehen. "Die Maske" mit Jim Carrey lief gerade.

Der nächtliche Hauptplatz war vollkommen leer, als ich ihn überquerte. Das Wasserplätschern der Marktbrunnen war weithin zu hören. Völlig verlassen lagen die zahlreichen Holzbuden da. Teilweise völlig dichtgemacht mit Verschlussbrettern, teilweise mit offenen Verkaufsbarrieren wie unsere.
Per Zufall sah ich nach oben. Die Wolkendecke am Himmelsfirmament hatte sich inzwischen völlig verzogen. Ein vollkommen klarer Sternhimmel war stattdessen zu sehen. Da dürften wir in den nächsten Tagen wohl mit dem Wetter Glück haben, dachte ich.

Kapitel 38. 5.: Donnerstagabend – Weinlesefestsgeschichte-Ausstellung im Café Wiklicky

Kapitel 38. 5. 1.: Ankunft im Café

Etwa eine Dreiviertel Stunde später passierte ich die Auslage der Konditorei Wiklicky in der menschenleeren Znaimerstraße. Ein leichter schwüler Windstoß kam auf, trieb mir Jackett und Krawatte etwas zur Seite.
Ich öffnete die Tür in der Ecke des Hauses. Wie jedes Mal löste das das Läuten des Klingelzuges aus.
Im Café herrschte bereits der übliche Betrieb nach dem offiziellen Teil einer Vernissage. Gespräche waren im Gang, Gäste standen mit Weingläsern herum. Spontan entdeckte ich unter ihnen wieder einige Bekannte. Nur wenige Meter von mir entfernt stand Tourismusstadtrat Gruber. Er unterhielt sich gerade mit der Leiterin der örtlichen ÖVP-Frauenbewegung Leopoldine Neubauer. Ganz in der Nähe war im Gedränge die auf eine eigentümliche Weise selbstlautedehnende Stimme Kulturstadtrat Wiesmanns zu vernehmen. Als etwas Bewegung in die Massen kam, trat er auch optisch in Erscheinung. Er sprach gerade mit Umweltstadtrat Walter Stallmeier. An der rechten Wand war wie immer der Buffettisch aufgebaut, hinter dem ein Winzer seine Weine präsentierte.
Einige der Gäste verließen das Café bereits wieder. Ich blieb daher kurz vor dem Regal neben der Tür stehen. Direkt hinter mir befanden sich die altmodischen Glasbehälter mit den Süßigkeiten zum händischen Abfüllen.
Eine der Serviererinnen in ihren rosa-weißen Kleidern folgte den Verlassenden auf den Fuß. In den Händen hielt sie ein Tablett leerer Weingläser. Sie ging damit rechts an mir vorbei. Danach verschwand sie im Eingang zu den Arbeitsräumen hinter der langen Verkaufsbarriere.
Damit war der Weg nun endlich frei. Ich begann mich zwischen den Umherstehenden in Richtung Hinterzimmer durchzuschieben.
Links zog sich einen Meter vor der linken Wand die lange Kuchentheke entlang. Mit ihr die Pralinenschachteln für die "Rohkost", die "Feine Confisserie" und die "Mozartkugeln". Ein Stück weiter die Tabletts mit Kardinalsschnitte, Schwarzwälderkirsch-Torte, Joghurtschnitte, Topfenschnitte, "Retzer Taler" und "Veltlinerkugeln".

Etliche Begrüßungen hatte ich absolviert. Danach gelangte ich schließlich in die Ecke, in der es rechts in die Vinothek und links zum hinteren Gastraum ging. An der Wand mit dem Vinothekseingang tauchten rechts davor die klassischen aus Korbmaterial gebogenen Zeitungshalter auf. Alle möglichen österreichischen Blätter hingen an ihnen. "Der Standard", "Die Presse", die "Kronenzeitung", der "Kurier", ... An einem der Halter entdeckte ich auch "meine" Zeitung. In nobler Gesellschaft befinde "ich" mich da ja bereits, ging es mir ironisch durch den Sinn. Gar nicht so übel für jemanden aus einer der heruntergekommensten und brutalsten Hauptschulen Deutschlands.
Herr Wiklicky kam in Anzug und Fliege aus der Vinothek zum Vorschein. "Grüß Gott!" sagte ich zu ihm.
"Grüß Gott, Grüß Gott. Ist es sich also noch ausgegangen?"
"Ja, unsere Hütte steht. – Lässt sich jetzt noch ein Bild von den Ausstellungsmachern arrangieren?"
"Ja, selbstverständlich, das ist gar kein Problem. Ein bisschen kann es aber noch dauern."
"Keine Hektik, ich muss selber erst das Gerät anschmeißen."
Danach konnte ich schließlich den hinteren Bereich betreten. Der langgezogene, nach rechts führende, gewölbeartige Gang tat sich auf. Wieder einmal ging es mir bei seinem Anblick durch den Sinn, dass er von seiner ganzen Aufmachung her irgendwie ein Stück Altwiener Kaffeehausatmosphäre in die Weinviertler Grenzstadt brachte.
An den Wänden links und rechts hingen eine ganze Reihe von Bilderrahmen. Wie immer wirkte die Galerie durch die goldglänzenden Stangen mit den goldglänzenden Kettchen sehr mondän. Eine Unzahl historischer Fotoaufnahmen von den Weinlesefesten vergangener Jahrzehnte befand sich in den Rahmen. Alle gut beleuchtet durch versteckte Spots, die auch den Raum als solchen sehr intensiv erhellten.
Ich beschloss jedoch, mir die Bilder später in Ruhe anzusehen. Zunächst einmal würde ich mein eigenes für die Zeitung machen.
Der lange Tisch schräg gegenüber vom Zugang zum vorderen Raum war von Gästen völlig verstellt. Erst nach einer Weile kam an der Stelle etwas Bewegung auf. Wie immer bei Anlässen dieser Art befand sich dort der VIP-Tisch. Mehrere Prominente saßen dort. Die Landtagsabgeordnete Marianne Lembacher, der SPÖ-Klubobmann im niederösterreichischen Landtag, Hannes Bauer, die Nationalratsabgeordnete Rosemarie Bauer. Ich ging auf die Politiker zu, um sie zu begrüßen.

Kapitel 38. 5. 2.: Das übliche Pressebild

Ich hatte eine Weile mit den Politikvertretern gesprochen. Dabei war mir aufgefallen, dass mein Stammplatz noch leer war. Gleich danach setzte ich mich dann an den kleinen Tisch bei den Zimmerpflanzen in der Mitte der Südwand. Wie gewohnt hatte ich auf der Seite Richtung Rauminneres Platz genommen. An beiden Seiten der Wand breiteten sich wieder die riesigen, bis zur Decke reichenden Spiegel aus. Unterteilt nur durch die gediegenen Holzeinfassungen in Form symbolisierter Rundbogenfenster. Unendlich viele Male wurden die Objekte dazwischen hin- und herprojiziert.

Kurz darauf hatte ich dann noch Josepha und Sabine aus dem EFEU-Verein entdeckt. Sie saßen hinter dem kleinen Mauervorsprung schräg gegenüber. Auch sie hatte ich dann noch begrüßt.

Auf dem Tisch war wieder der gewohnte Anblick bei einem Pressetermin entstanden. Direkt vor mir die Kamera. Daneben die aufgerissene Filmschachtel. Die hellgraue, zylinderförmige Dose von der Filmpatrone. Und zuletzt die schwarze Ledermappe mit den DIN-A-5-Zetteln.

Herr Wiklicky erschien neben mir: "Ich glaube, wir können langsam."
"Ist gut, ich komme."
Ich folgte ihm zum anderen Ende des Gebäudeteils, wo es linkerhand in den vorderen Gästeraum ging. Vor dem Tisch in der Nische geradeaus hatten sich bereits mehrere Männer eingefunden. Offensichtlich die Organisatoren der Ausstellung. Herr Wiklicky lief unterdessen eilig hin und her und holte noch weitere Leute zusammen.

Direkt rechts von mir zweigte der kleine Gang ab. Mit ihm tauchte die hölzerne, turmartige, bis knapp unter die Decke reichende Sitzecke auf.
An der Wand daneben, wo es danach gleich um die Ecke zum Ausstellungsraum ging, fiel mir ein neuer Spiegel auf. Bei meinem vorigen Aufenthalt im Café hing er noch nicht an dieser Stelle. Es handelte sich um einen knapp einen Meter großen, vertikal-ovalen Spiegel. Eingefasst war er in einem gediegenen, braunen Holzrahmen. In seiner Mitte befand sich ein breiter Reklameaufdruck eines Altwiener Traditionsunternehmens. Er machte aufmerksam auf die "Rohkost" genannten, schokoladeumhüllten Dörrfruchtstückchen, welche der Betrieb herstellte. Die, die durch die Konsistenzveränderung stets sehr süß und sehr kompakt wurden.
Ich sah mir den Aufdruck etwas näher an. Unter dem in Schwarz-Rot gehaltenem Konterfei des Firmengründers befand sich in kühnem Schriftzug sein Name: C. Hofbauer.
Darunter stand in etwas kleinerer Schrift geschrieben: Seit 1882. Wiener Confiserie Kunst.
Wieder darunter in größerer Schrift: Original Wiener Rohkost.
Abermals darunter die englische Bezeichnung: Chocolate Fruits.
Eine detailgetreue Darstellung verschiedenster Obstsorten schloss sich an: Ananas, Apfelsine, Pfirsich, alles dreies aufgeschnitten, Pflaumen, Haselnüsse und noch etwas nicht Identifizierbares.
Ein fließender Übergang zu den verarbeiteten, schokoladegetauchten Fruchtstücken im Vordergrund folgte.
Ganz zum Schluss war eine Zeile in Italienisch zu lesen: Squisita Frutta Ricoperta Di Finissimo Cioccolato. Auch wenn ich kein Italienisch sprach, konnte ich mir ungefähr zusammenreimen, was die letzten Worte bedeuteten.

Herr Wiklicky erschien wieder bei den Personen vor dem Tisch. Ich trat aus dem Seitengang hervor. Kurz darauf hatte ich den richtigen Standort für die Aufnahme gefunden. Hermann Neumayr tauchte wieder neben mir auf, um ebenfalls zu fotografieren. Nachdem ich bereits den Sucher ans Auge gehalten hatte, wartete ich noch einen Moment. Die Tür zur Backstube rechts neben dem Nischentisch öffnete sich gerade. Eine Serviererin kam zum Vorschein. Als der Hintergrund dann frei war, drückte ich ab.

Kapitel 38. 5. 3.: Der kulinarische Teil

Herr Wiklicky kam auf mich zu. "Sie kennen den Hausbrauch", lud er mich ans Buffet ein.
Am Buffet herrschte inzwischen etwas weniger Auflauf. Der Winzer dahinter räumte gerade von mehreren Tabletts die belegten Brote zusammen. Rechts neben den Tabletts, am Rande des Tischs zur Tür hin, standen etliche Reihen Gläser. Rotwein, Weißwein, Orangensaft und Mineralwasser befanden sich darin.
"Woas deafs sein?" fragte mich der Winzer.
"Was gibt es denn an Weißweinen?"
"Neuburger und Veltliner."
"Dann nehme ich den Neuburger."

Mit dem Glas in der Hand bewegte ich mich in Richtung des hinteren Raumes. Dort wollte ich mir nun auch die Bilder in Ruhe anzusehen.
Ich begann gleich mit dem ersten Rahmen rechts neben dem Durchgang. Wie auch in allen anderen befanden sich in ihm unzählige historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Diese zeigten alle möglichen Weinlesefestszenen. Nebenbei bekam ich mit, wie ringsherum alteingesessene Bewohner der Stadt auf den Bildern Bekannte von früher wiederentdeckten. Links neben mir hörte ich zufällig einen Mann erzählen, wie er vor 40 Jahren den ersten Weinbrunnen auf dem Hauptplatz mitorganisiert habe. Es wäre ziemlich problematisch gewesen, berichtete er. Das Fass, aus dem am Sonntag Nachmittag der Wein an den Hauptplatzbrunnen hätte gratis ausgeschenkt werden sollen, sei am Morgen desselben Tages um Sechs Uhr in die Luft geflogen.

Unmerklich war die Zeit etwas vorangeschritten. An den Tischen ringsum saßen inzwischen etliche Gäste weniger. Dafür hatten sich auf den Tischflächen unzählige leere Gläser mit Rotwein- und Weißweinresten angesammelt. In meiner Nähe knarrten ein paar Sessel. Zurückgeschoben von Leuten, welche sich ebenfalls anschickten, zu gehen.

Herr Wiklicky ging an mir vorbei. Wenige Meter vor mir öffnete er in der Holzwand an der Stirnseite des Gangs die Tür zum Hof. Gleich darauf wurde es draußen hell. Ein paar Einzelheiten des Hofes wurden sichtbar. Die sehr kleine, quadratische Grundfläche. Die hohen, weiß gestrichenen Mauern. Das Kinderhaus von Herrn Wiklickys Sohn Klaus direkt gegenüber der Tür. Ringsherum erschienen im Hoflicht partiell einige Teile der Mauern. Links sah man jene Stelle in der Wand, durch die man früher mal den heutigen Weltladen betreten konnte. Der Raum war ja mal die zur Konditorei gehörende Eisdiele, ging es mir durch den Sinn.
Der Hof erinnerte mich wieder mal ein wenig an Mittelmeerarchitektur. Ich dachte an das, was ich davon schon in Bildbänden oder im Reiseshopping-Kanal im Fernsehen zu sehen bekommen hatte.
Auch die Struktur der Holzwand zwischen Café und Hof wurde durch das Licht betont. Die zwei Sprossenfenster in der Wand. Die ebenfalls mit Holzsprossen unterteilte Glastür in der Mitte, welche sich ohne Abstand zwischen den beiden Fenstern befand.

Eine Kellnerin erschien, um die leeren Gläser abzuräumen. Ich beschloss, mir zur Feier des Tages mal etwas Besonderes zu leisten. Und zwar die Spezialität des Hauses zu bestellen. "Einen Satz 'Retzer Taler', bitte", teilte ich der Serviererin in meiner Nähe den Entschluss mit.
"Kummt glei."

Wenig später bekam ich das Gewünschte auf einem silberglänzenden Blechtablett vor mir auf den Tisch gestellt.
Ich sah mir die Confiseriestücken zunächst etwas näher an. Es waren relativ kleine, flache Zylinder, an der Mantelfläche mit Schokolade überzogen. Die obere Grundfläche bestand aus einer Zuckergussplatte. Auf diese waren mittels Siebdrucktechnik in sehr filigraner Ausführung Motive von Sehenswürdigkeiten aus der Region gespritzt worden. Jedes der Patisseriestücke zeigte ein anderes bekanntes historisches Bauwerk aus der Stadt unmittelbar oder der näheren Umgebung. Die Retzer Windmühle. Das Rathaus der Stadt. Das Verderberhaus vom Hauptplatz. Das Znaimertor, nur zehn Meter von der Konditorei entfernt. Der Althof, der ebenfalls nicht viel weiter entfernt lag. Die Burg Hardegg. Das Schloss Riegersburg. Und schließlich das Firmenlogo der Konditorei. Fast zu schade zum Essen, dachte ich schließlich. So feingliedrig, wie die Siebdruckarbeiten vorgenommen worden waren.

Kapitel 38. 5. 4.: Der Kalte Krieg in Retz

Wenig später tauchte Herr Wiklicky plötzlich ein zweites Mal neben mir auf und nahm bei mir am Tisch Platz. "So, jetzt ist etwas weniger Stress", gab er erleichtert von sich. Er bemerkte die "Retzer Taler": "Ich sehe, Sie haben den Stolz des Hauses geordert?"
"Ja, ja, ich hatte mir das schon längst mal vorgenommen. Entdeckt hatte ich die Holzmodelle im Schaufenster ja schon ein paar Monate nach unserer Ankunft. Aber irgendwie ist mir die Sache dann jedesmal wieder aus dem Sinn entschwunden. Darum habe ich vorhin auch gleich einen Satz bestellt, als ich wieder mal daran denken musste."
"Und wie lange seid ihr eigentlich schon in Retz?" wechselte Herr Wiklicky das Thema.
"Im November werden es zwei Jahre. Wenn es nach uns gegangen wäre, dann hätten wir uns schon wesentlich früher aus dem Staube gemacht. Aber vor 1989 erschien uns das doch zu gefährlich. Na, und nachdem dann die Mauer gefallen war, haben wir uns gesagt: Jetzt haben wir so lange gewartet, da kommt es auf das bisschen Zeit, das notwendig ist, um die Sache unter geordneten Verhältnissen über die Bühne gehen zu lassen, auch nicht mehr an."
"Mit der Grenzproblematik waren wir hier die ganzen Jahrzehnte über ja auch sehr intensiv betroffen, nachdem Retz ja nur drei Kilometer von der tschechischen beziehungsweise damals tschechoslowakischen Grenze entfernt liegt. Wobei wir natürlich das Glück hatten, auf der 'komfortableren' Seite des Eisernen Vorhangs gelandet zu sein. Das ist freilich nichts, auf das wir uns irgendetwas einzubilden brauchen. Da hat schlichtweg das Schicksal die Karten gemischt und verteilt.
Die Entfremdung zwischen den beiden Ländern verlief hier in der Gegend im Grunde auch so ähnlich wie in Deutschland. Es fing damit an, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg den Personenverkehr auf der Bahnstrecke nach Znaim nicht wieder aufgenommen hat. In einer Zeit, in der noch kaum jemand motorisiert war, bedeutete die Eisenbahn ja eine wichtige Lebensader in allen Bereichen, nicht zuletzt dem wirtschaftlichen. Auch der Lehrling unseres Betriebes fuhr bis 1945 noch regelmäßig mit der Bahn hinüber, um Torten und Ähnliches auszuliefern. Damit war nach dem Kriege dann abrupt Schluss. Aber davon abgesehen, war die Grenze als solche bis 1968 zumindest für uns Österreicher noch relativ durchlässig. Meine Mutter zum Beispiel ist öfters mit dem Fahrrad drüben gewesen, als das eben noch leichter möglich war. Als ich dann selbst ein paar Mal in der Tschechoslowakei war, geschah das schon unter wesentlich bürokratischeren Umständen. In Šatov und in Hnanice bin ich damals unter anderem gewesen.
Die spektakulärste Reise dieser Art habe ich jedoch zusammen mit vielen anderen im August 1988 unternommen. Und zwar hat die Retzer Ortsgruppe der Eisenbahnergewerkschaft einen Sonderzug nach Znaim organisiert. Das war natürlich eine kleine Sensation. Zum ersten Mal seit 43 Jahren verkehrte wieder ein Personenzug auf dieser Strecke!
Mit einem Triebwagen der ÖBB ging es erst einmal nach Šatov, wo ein langer (!!!) Grenzaufenthalt folgte. Das war irgendwie eine etwas unheimliche Situation. Also, nicht, dass wir damit gerechnet hätten, dass die einen von uns aus dem Zug holen und abknallen. Aber man hat über all die Jahre eben doch so manche Horrorgeschichte gehört, und die haben für ein komisches Gefühl im Magen gesorgt. Geschichten über alle möglichen gescheiterten Fluchtversuche von drüben nach Österreich. Und auch Österreicher hat es schon erwischt! Vor vielen Jahren ist zum Beispiel mal ein Hausmeister aus Mitterretzbach von tschechoslowakischen Grenzposten erschossen worden, als er angeblich versucht haben soll, vom Retzbacher Grenzübergang aus ohne Genehmigung die Grenze zur Tschechoslowakei zu überqueren. Das war damals eine ziemlich mysteriöse Geschichte, und keiner weiß so recht, was sich eigentlich genau abgespielt hat, aber auf jeden Fall ist er erschossen worden!
Na, und für das eigenartige Gefühl haben nicht zuletzt die Grenzbefestigungen gesorgt. Beinahe an ein Internierungslager haben sie erinnert! Was mir dabei am intensivsten in Erinnerung geblieben ist, war dieses Tor quer über die Schienen. Mitten über die Gleise führte seinerzeit ein hohes Maschendrahttor, das man zusätzlich noch mit allen möglichen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet hatte, deren exakte Art und Weise ich vom Zugfenster aus gar nicht so genau erkennen konnte.
Ja, und dann kam die Wende. Auch auf die habe ich zuerst mit etwas gespaltenen Gefühlen reagiert. Einerseits hatte ich die Hoffnung, dass nach all den Jahrzehnten des alltäglichen Wahnsinns sich dort drüben endlich etwas in Richtung Demokratie und Menschenrechte bewegen würde. Auf der anderen Seite jedoch waren da Befürchtungen da – und die hatte nicht nur ich, sondern die gab es ganz allgemein – dass sich 1968 wiederholt. Dass wie schon beim 'Prager Frühling' 1968 die sowjetische Armee wieder alles blutig niederschlägt. Und abgesehen vom menschlichen Leid auf tschechoslowakischer Seite, das dabei hätte entstehen können – auch für den Osten Österreichs wäre es möglicherweise gefährlich geworden. Wir haben natürlich nicht damit gerechnet, dass die sowjetische Armee gleich ganz Österreich überrennt. Es war einfach dieses diffuse Angstgefühl, dass dann ein Angriff zum Beispiel nicht auf Hnanice, sondern ein paar Kilometer weiter auf Unterretzbach jenseits der Grenze erfolgt, wo wir vielleicht gerade beim Heurigen Winter sitzen. Oder dass durch Grenzverletzungen irgendeine diplomatische Krise internationalen Ranges ausgelöst wird. Denn Grenzverletzungen gehörten während des Aufstandes 1968 fast schon zum Alltag. Allein über dem Weinviertel gab es in dieser Zeit etwa 70 Verletzungen des österreichischen Luftraumes. Neben der Retzer Weinbaufachschule ist sogar mal ein sowjetischer Hubschrauber notgelandet. An dem Tag ist in der Stadt die Hölle losgewesen!
Aber mehr und mehr hat sich dann abgezeichnet, dass in diesem Konflikt die demokratische Seite die Oberhand gewinnt.
Und ganz urplötzlich fiel dann Ende Dezember '89 der Eiserne Vorhang. Ich selbst habe davon aus dem Fernsehen erfahren und konnte es zunächst überhaupt nicht glauben. Dass man mit einem Male einfach so frei reisen konnte, das schien zunächst unvorstellbar. Ich nehme an, das wird euch ähnlich gegangen sein, als die Berliner Mauer gefallen ist. Jedenfalls hätte ich bis 1989 jede Wette verloren, was den Zeitpunkt der Grenzöffnung betrifft.
Kurz nachdem die Nachricht über Radio und Fernsehen verbreitet worden ist, bildete sich spontan eine halboffizielle Abordnung des Retzer Landes, welche in den Morgenstunden des 22. Dezember in Richtung Grenze aufbrach. Sie bestand aus dem Präsidenten der niederösterreichischen Landesfinanzdirektion Manfred Frey, dem neben den niederösterreichischen Finanzämtern ja auch die Zollwachen in unserem Bundesland unterstehen, dem Retzbacher Bürgermeister Gustav Rubak, Direktor Sepp Mohr von der Hauptschule Zellerndorf und meiner Wenigkeit.
An der Grenze hatte sich inzwischen schon eine recht beachtliche Autokolonne gebildet, nachdem wir dort angekommen waren. Wir wir später erfuhren, waren einige Tschechen bereits um Drei Uhr morgens losgefahren, um möglichst als die Ersten in Österreich zu sein. Auf das Auto, das dann tatsächlich als erstes den Schlagbaum passierte, ich weiß noch, es war ein Trabant, sind wir von der Delegation dann gleich zugegangen, haben die Insassen auf österreichischem Boden willkommen geheißen und ihnen ein paar Flaschen mitgebrachten Wein überreicht. Später haben wir diese Leute dann auf dem Retzer Adventmarkt wiedergetroffen. Also, man sah, unser Auf-sie-Zugehen hat sich gelohnt. Sie sind nicht geradeaus nach Wien weitergefahren, wie so viele, sondern von der Bundesstraße nach Retz abgebogen, um sich die Stadt anzusehen.
Insgesamt kann man über diese Tage sagen, dass eine irrsinnige Euphorie herrschte. Und auch für mich persönlich war die Freude der Menschen, plötzlich rüberfahren zu dürfen, unglaublich berührend. Wir als Westler hatten gar keinen Einblick, was das für die Bewohner drüben bedeutete, 40 Jahre eingesperrt zu sein und nun plötzlich rüberfahren zu dürfen.
Im Fernsehen hat man an diesem Tag übrigens auch wiederum an das Jahr 1968 erinnert, es wurden alte Nachrichtensendungen und Live-Berichte gezeigt, aber diesmal unter einem ganz anderen Vorzeichen. Nämlich dem, dass die diesmal angelaufenen Demokratisierungsbestrebungen wohl ein für alle mal unumkehrbar sein dürften.
Während dieser Zeit entstanden bei mir im Hinterkopf natürlich auch Gedanken in der Richtung, dass sich da jetzt ein riesiger, unerschlossener Markt auftut. Ein ganz klein wenig bestätigte sich diese Vermutung schon wenige Tage nach der Grenzöffnung, als immer mehr tschechische Touristen bei mir in der Konditorei erschienen. Sie haben interessanterweise vor allem so Kleinigkeiten wie Kaugummis oder Schokoriegel gekauft, die Sachen, die wir vorn im Eingangsbereich liegen haben. Und um den Devisenverhältnissen dieser Leute ein bisschen entgegenzukommen, habe ich speziell diese Artikel für eine kurze Zeit in Schilling, D-Mark und US-Dollar verkauft. Ich habe in dieser Zeit auch Flugblätter mit den wichtigsten Ausdrücken im Alltag auf Deutsch und auf Tschechisch verfasst, um die Kommunikation mit diesen Menschen zu erleichtern. Und um den Punkt jetzt abzuschließen: Selbstverständlich habe ich die Situation aber nicht nur so gesehen: Jö, jetz kriag i neiche Kunden, sondern in erster Linie habe ich das als historische Chance betrachtet, mitwirken zu können, dass sich die Länder jetzt wieder näherkommen.
Eine Sache, die ich in dieser Zeit auf privatem Gebiet für mich recht intensiv betrieben habe, bestand darin, mir auf tschechischer Seite die Grenzbefestigungen etwas näher anzusehen, um diesen Wahn zumindest ansatzweise begreifen zu können. In Čižov bin ich zum Beispiel ein paar Mal gewesen, wo man ja bis heute zu Gedenkzwecken ein Stück Stacheldraht und auch einen alten Wachturm erhält. Während ich dort an dieser Stelle im Wald gewesen bin, habe ich mir unter anderem überlegt, wie ich später dem Klaus, er ist jetzt zwei Jahre alt, mal erklären soll, dass da mal eine Grenze stand, über die man einfach nicht drüber durfte. Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung.
Recht eigentümliche Dinge habe ich bei diesen Fahrten übrigens erfahren. Eine Sache etwa, die ich gar nicht so recht begreifen konnte, war, dass es sogar hinter allen Grenzbefestigungsanlagen extra noch einen mehrere Kilometer breiten Streifen gab, den weiter entfernt wohnende Tschechen nur mit Sondergenehmigung betreten durften. Ein Irrsinn, wenn man sich es recht überlegt."
"Das gab es bei uns auch, genau dasselbe", unterbrach ich kurz.
"In den Wochen und Monaten nach der Grenzöffnung", näherte sich Herr Wiklicky in seinen Erzählungen offensichtlich dem Ende zu, "sind die Ereignisse dann auch von offizieller Seite her nachvollzogen worden. Wir haben Delegationen hinübergeschickt, drüben haben sie dann wieder Leute von sich herübergeschickt. Man ist auch privat auf Bälle im jeweiligen Nachbarland gegangen. Ich selber war mit meiner Frau auch auf einigen Veranstaltungen dieser Art. Das war für uns unvorstellbar, dass wir einfach so auf einem Fest jenseits der Grenze tanzen gehen konnten.
Nach der ersten Euphorie sind die Kontakte dann allerdings etwas seichter geworden und abgeflacht. Momentan habe ich ein wenig die Befürchtung, dass sie ganz zum Stillstand kommen. Sollte diese Entwicklung nicht bloß unsere Region betreffen, sondern auch auf allgemeiner Ebene zwischen Österreich und Tschechien stattfinden, dann wäre das sehr bedenklich. Denn ich frage mich, wann man diese Entfremdung mal überwinden will, wenn nicht jetzt."

Kapitel 38. 6.: Freitagabend – Heurigenbuschen-Aufziehen auf dem Hauptplatz

Kapitel 38. 6. 1.: Die ersten Gäste treffen auf dem Hauptplatz ein

Auf dem Hauptplatz herrschte bereits in nahezu allen Ecken Betrieb, als ich vom Verderbertor aus bei der Litfasssäule angelangte.
Eine kleine Kolonne Autos kam von links. Ich wartete, bis die Fahrzeuge vorüber waren. Danach überquerte ich die Straße.
Ich betrat das Innere der Hauptplatzfläche zwischen dem Stand der SPÖ und dem vom Landesweingut. In dem Moment erklang gerade wieder das Rascheln, das stets einer Mikrophondurchsage vorausging. "Der Halter eines roten BMW mit dem staatlichen Kennzeichen HL 491 C wird aufgefordert", hieß es danach, "den Platz für die Feuerwehr zu räumen."
Als die Mitteilung vorüber war, begann eine Kapelle zu spielen. Ich beschloss, nachzusehen, um zu sehen, um welche es sich dabei handelte. Ich begann mich daher zwischen den Umherstehenden in Richtung Rathaus zu bewegen. Nach wenigen Metern erkannte ich die Musiker. Es war das "Windmühlenecho".

Kapitel 38. 6. 2.: Der Countdown zu dem rituellen Akt

Eine unbestimmte Zeit später schnarrte abermals das Mikrophon. Die Musik hatte inzwischen etliche bekannte österreichische Märsche gespielt.
Stadtrat Gruber begann zu sprechen. Der Anfang seiner Worte war nicht zu verstehen.
Wenige Augenblicke später drangen ein paar schrille Kreischgeräusche aus den Lautsprecherboxen. Offensichtlich stellte Gemeindetechniker Bandl das Mikrophon nach. Die Boxen waren wieder wie im letzten Jahr unsichtbar an etlichen Stellen des Hauptplatzes angebracht worden.
Gleich darauf war die Stimme Grubers deutlich zu hören: "... ganz herzlich zum 40. Bezirksweinlesefest hier in der Weinstadt Retz begrüßen. Mit dem Bozener Bergsteigermarsch hat der heutige Abend angefangen ..." Er unterbrach kurz und fuhr dann fort: "Ich bekomme da gerade einen Hinweis von der Feuerwehr. Der Besitzer eines roten BMW mit dem amtlichen Kennzeichen HL 491 C wird gebeten, seinen Wagen von der Innenfläche des Hauptplatzes wegzufahren, damit die Feuerwehr den Heurigenbuschen aufhängen kann. Herzlichen Dank. – Meine Damen und Herren! Mein Name ist Rrrreinhard Grrrrruber und ich darf Sie als Stadtrrrrat fürr Tourrrrismus" – hat er ihn wieder einmal angebracht, den Stadtrat für Tourismus, dachte ich – "hier in der Weinstadt Retz recht herzlich begrüßen. Es freut mich, dass Sie wieder so zahlreich zu uns gekommen sind ..."
Es sah nicht danach aus, als ob das Buschenaufziehen unmittelbar bevorstand. Mir kam daher die Idee, inzwischen etwas Essen zu gehen. Mir fiel ein, dass ich am SPÖ-Stand auf einem Teller Surbratensemmeln gesehen hatte.
Ich lief die paar Schritte zum Stand zurück. Nebenbei bekam ich mit, wie Gruber gerade ein paar Angebote des Großheurigens auf dem Hauptplatz zu präsentieren begann. Dieser würde wie immer das kulinarische Rahmenprogramm des dreitägigen Festes bilden.
Ein paar Fakten über die Geschichte des Heurigen allgemein schlossen sich an. Unter anderem, dass der erste bekannte Erlass zur Erlaubnis des Weinausschanks aus der Zeit Karls des Großen stammte.
Ich kam an der Vorderfront des SPÖ-Standes an. Stadtrat Gruber erzählte in diesem Augenblick, dass es den Heurigenbuschen als äußeres Symbol von Häusern, in denen Heurigenbetrieb stattfindet, seit dem frühen Mittelalter gibt.
Im Stand verkauften Stadtrat Pflügl und Ernst Schlehmann. "Grüß Gott!", rief ich in den Verkaufsraum der Holzhütte hinein. Stadtrat Pflügl trat auf mich zu. "Grüß Gott", erwiderte er. "Woas deafs 'n sein?"
"Ich nehme eine Surbratensemmel."

Mit der Semmel ging ich zu einem Heurigentisch in der Nähe. Als ich mich setzte, verkündete Stadtrat Gruber gerade, dass Finanzstadtrat Cyrill Gold zum 25. Mal hintereinander dem Organisationskomitee für das Weinlesefest vorstand. Und dass er in diesem Jahr dabei von den Stadträten Karl Gebhardt und Helmut Wiesmann unterstützt wurde. Kurz darauf begann die Kapelle wieder zu spielen.

Ich hatte mir vom Stand des Landesweingutes gerade ein Topfenaufstrichbrot geholt, als Gruber wieder zu moderieren begann: "Bei mir hat sich gerade unser Bürgermeister Hofrat Dipl.-Ing. Adolf Schehr eingefunden. Herr Bürgermeister, ich darf dich bitten, das Bezirksweinlesefest zu eröffnen!"
"Meine sehr geschätzten Damen und Herren, liebe Gäste, geschätzte Aussteller und Ausschänker! Es freut mich, dass so eine große Anzahl von Besuchern heute Nachmittag bei der Eröffnung des Bezirksweinlesefestes anwesend ist. Das Wetter, wie wir sehen, lädt ja auch förmlich dazu ein. Ich hoffe, es wird so bleiben, für morgen wurde zumindest keine Veränderung angesagt. Und am Sonntag beim Festumzug werden wir natürlich wieder wunderschönes Weinlesefestwetter haben. So, wie wir es von jeher gewohnt sind.
Ich darf an dieser Stelle auch wieder dem 'Windmühlenecho' unter der Leitung von Herrn Amtsdirektor Karl Specht recht herzlich für die musikalische Gestaltung dieses Abends danken.
Abschließend darf ich unseren Gästen einen angenehmen Aufenthalt in unserer Stadt und den Ausschänkern einen erfolgreichen Gang der Geschäfte wünschen und das 40. Retzer Weinlesefest für eröffnet erklären. Ich danke Ihnen!"
"Ich danke auch Dir, Herr Bürgermeister. Neben mir steht mittlerweile Obmann Fürst vom Bezirksweinbauverband Retz, um uns gleich im Anschluss etwas über die Geschichte des mittlerweile seit 40 Jahren stattfindenden Weinlesefestes zu erzählen. Johann, ich darf dich bitten."
"Ja, sehr geehrter Herr Stadtrat Gruber, das Retzer Weinlesefest wurde Mitte der Fünfziger Jahre, heuer vor genau 40 Jahren, als Fest der Traube gegründet. Die Ausrichter der damaligen Feste waren die Bezirksbauernkammer und der Bezirksweinbauverband.
Im Laufe der Jahre hat sich das geändert. Das Weinlesefest wird jetzt unter der Federführung der Stadtgemeinde Retz gemeinsam mit allen Gemeinden des Landwirtschaftskammerbezirkes Retz und des Retzer Landes veranstaltet. Sie wissen ja: Gemeinsam sind wir stark. Ganz besonders werden Sie das am Sonntag beim Winzerfestumzug sehen, wo über 40 Gruppen aus dem gesamten Landwirtschaftskammerbezirk auf phantasievolle und kreative Weise die Stärken unserer Region in den Mittelpunkt rücken."
"Herr Obmann, ich danke dir für diesen kurzen Abriss über vier Jahrzehnte Weinlesefest.
Mein nächster Gesprächspartner ist nun Herr Ing. Walter Rubak vom Landesweingut Retz, der als der Experte für aktuelle Entwicklungen auf den Weinanbauflächen des Retzer Landes schlechthin gilt. In dieser Eigenschaft wird er uns nun ein paar Statements über die heurige Weinlese und die heurigen Trauben abgeben."
"Danke, Herr Stadtrat. Ja, über den 1994-er Jahrgang lässt sich zunächst einmal ganz allgemein sagen, dass man zuversichtlich ist, dass es ein guter Wein wird. Einem Reifevorsprung und einer frühen Blüte Anfang Juni folgte ein ausgeglichener Sommer. Die teilweise übermäßigen Regenfälle im August stellen kein wesentliches Problem dar. Allenfalls bei ein paar frühreifen Sorten könnten ein paar kleinere Schwierigkeiten auftreten. Generell wurde jedoch die Menge Flüssigkeit, die in den Boden und somit in die Rebstöcke eindringen darf, ohne dass es zu einer Verwässerung der Trauben kommt, nicht überschritten. Allerdings dürfen jetzt bis zum Ende der Weinernte keine größeren Niederschläge mehr kommen. Soweit in aller Kürze der momentane Zustandsbericht über die Erntesituation in der Großlage Retzer Weinberge. Ich darf nun das Mikrophon wieder an Herrn Stadtrat Gruber übergeben."

Kapitel 38. 6. 3.: Es ist soweit

"Ich sehe gerade", kündigte Gruber kurz darauf an, "die Feuerwehr durchquert schon das Verderberhaus. Bald wird der Heurigenbuschen an seiner Stelle hängen. Und somit ein sichtbares Zeichen für die Eröffnung des Weinlesefestes geben. Ich hoffe, es treten keine Probleme auf. Aber das dürfte kaum der Fall sein, da unsere Feuerwehr bei dieser Aufgabe schon seit vielen, vielen Jahren Routine hat.
Die Retzer Feuerwehr, meine Damen und Herren, unterstützt dieses Fest in vielerlei Hinsicht. Eine Art der Unterstützung werden Sie in wenigen Minuten zu sehen bekommen. Daneben sind es Tätigkeiten rund um die Eintrittsmarken, die Absperrung von Straßen während der Festtage und noch einiges mehr. Arbeiten, die man als Außenstehender kaum oder gar nicht bemerkt, ohne die jedoch solch ein Fest nicht funktionieren würde. Und daher bitte ich Sie, unserer Feuerwehr einmal einen ordentlichen Applaus zu spenden!"
Beifall setzte ein. Als er zu verebben begann, fing das "Windmühlenecho" wieder zu spielen an.
Ich nahm meine Kameratasche, stand vom Tisch auf und ging in Richtung Nordhälfte des Fahrbahnringes auf dem Hauptplatz. Das Feuerwehrauto hatte inzwischen den Torbogen im Verderberhaus verlassen. Im Schritttempo fuhr es die obere Häuserfront entlang. Unmittelbar vor dem Fahrzeug bewegte sich ein Kleinbus der Feuerwehr. In ihm befand sich offensichtlich ein Großteil der Männer, die sich an der Aktion beteiligen würden. Als das große Feuerwehrauto direkt an mir vorbeifuhr, entdeckte ich auch den Heurigenbuschen. Er lag auf der Rückfläche des Wagens, direkt im Schwenkbereich der Leiter. Ungefähr eineinhalb Meter musste er groß sein, schätzte ich.

Das Feuerwehrauto erreichte schließlich die Höhe der Marktpassage im Scherzerhaus. Per Zufall sah ich in dem Moment zu dem schmalen Parkstreifen vor der Raiffeisenkasse direkt gegenüber. Gleich mehrere Autos mit niederländischem Nationalitätenaufkleber fielen mir dort auf. Ich dachte daran, wie ich schon mehrmals gehört hatte, dass das Festpublikum schon seit längerer Zeit auch von ziemlich weit her kam.

Wenige Sekunden später hatten die Feuerwehrautos die Ecke gegenüber der Abzweigung Burggasse erreicht. Sie verlangsamten die Fahrt und bogen auf die Innenfläche des Hauptplatzes ein. Nach einigen Metern blieben sie dort dann auf der Höhe des Eingangs vom Rathausturm stehen.
Ich öffnete die Tasche, entnahm die Kamera, hängte sie mir um und ging damit auf die geparkten Fahrzeuge zu.

Als ich an der Stelle ankam, liefen bereits etliche Feuerwehrmänner in ihren militärgrünen Uniformen herum. Die einzigen unter ihnen, die ich kannte, waren neben Kommandant Beyer Wilhelm Laurenz vom Stadtamt und Jugendgemeinderat Christian Staudinger. In ein paar Metern Entfernung stand auch wieder Hermann Neumayr, welcher bereits Bilder machte.
Zwei der Feuerwehrmänner stiegen auf das große Auto, um den Kranz abzuladen. Kurze Zeit später hatten sie ihn zwischen sich auf das Pflaster gestellt. Ich bedeutete ihnen mit der Hand, kurz so stehenzubleiben und zu mir herzusehen, damit ich sie fotografieren konnte.
Im selben Moment hörte ich hinter mir Stadtrat Gruber durchs Mikrophon erzählen, dass die Hobelscharten, das Bündel langer, gerollter Holzspäne, welches von dem Kranz herabhing, auch in diesem Jahr wieder Gemeinderat Drohmer in seiner Tischlerei hergestellt hatte.

Nach einer Weile hatten einige der Feuerwehrmänner den Kranz in den Korb des Autos verladen. Zusammen mit ihm hatten sie sich an jene Stelle des Rathausturmes emporfahren lassen, wo der lange Metallstab aus dem Mauerwerk ragte. Ich selbst war inzwischen etliche Schritte zurückgegangen, damit ich die Montagearbeiten in der Höhe besser verfolgen konnte. Außerdem hatte ich das 75-300-Millimeter-Objektiv auf die Kamera geschraubt, um auch Aufnahmen machen zu können.

Der Kranz hing. Auf dem Boden pflanzte sich Beifall durch die Reihen.
"Ein herzliches Dankeschön unserer Freiwilligen Feuerwehr, die diese Aufgabe wie immer mit Bravour gemeistert hat!" kommentierte Gruber durchs Mikrophon das Ergebnis. "Zum Abschluss dieser Zeremonie, die seit vielen Jahren als sichtbares Eröffnungszeichen für die dreitägigen Festivitäten des Weinlesefestes gilt, darf ich Sie, meine Damen und Herren, noch auf ein Glas Wein einladen. Das Weingut Langenbrock, ein Familienbetrieb aus Obernalb, hat an der Vorderseite des Rathauses einen kleinen Holztisch aufgebaut, von dem aus es uns jetzt einen seiner Weine ausschenken wird. Es ist dies ein Welschriesling, ein hervorragender, frischer, fruchtiger Welschriesling, wie er nicht besser sein könnte, wie er anderswo nicht besser wachsen könnte als in den Weinlagen rings um Retz. Ich lade Sie daher ein, machen Sie ordentlichen Gebrauch von diesem Gratisangebot.
Abschließend darf ich Sie noch auf einen weiteren Veranstaltungspunkt des heutigen Abends aufmerksam machen. Ab 20:00 Uhr, also in gut drei Stunden, findet im 'Weinschlößl' wieder ein Weinkulinarium statt. Wie Sie wissen, wird diese Veranstaltung dort für gewöhnlich jeden ersten Freitag im Monat abgehalten. Bei dem heutigen Kulinarium handelt es sich um eine Sonderveranstaltung im Rahmen der Festtage zum 40-jährigen Jubiläum des Weinlesefestes. Was heißt Festtage. Festwoche muss man in diesem Jahr fast schon sagen, da sich ja heuer die Veranstaltungspunkte vom Mittwoch an bis zum Sonntagabend hindurchziehen.
Weinkulinarium im 'Weinschlößl', das heißt wie immer: Regionale Küche auf hohem Niveau, fachmännisch kommentierte Präsentationen regionaler Spitzenweine, und alles in einer sehr gediegenen Atmosphäre.
Mir bleibt jetzt nur noch, mich für heute von Ihnen zu verabschieden und Ihnen allen für Ihr Kommen zu danken!"
Beifall erklang.

Kapitel 38. 6. 4.: Hinterher Dienst im Klassenstand

Ich sah auf die Uhr. Wenige Minuten vor Um Fünf. Da komme ich zu meinem Dienst im Stand noch rechtzeitig, dachte ich. Ich hatte ja schon bei der Einteilung der Dienste gesagt, dass es möglich ist, dass ich aus Pressegründen mal etwas später komme oder etwas früher gehen muss.
Hinter dem Feuerwehrauto tauchten an der Rathauswand vier Männer in Trachten auf. Der Machart der folkloristischen Kleidung nach zu schließen mussten sie aus Tschechien kommen. Beim Weitergehen entdeckte ich, dass einer von ihnen eine Zimbal in der Hand hielt. Offensichtlich handelte es sich dabei um Musiker, die gleich ihren Auftritt hatten.

Ich kam am Stand an. Antonia, Maria, Paula, Wilhelm und Cornelius befanden sich bereits an Ort und Stelle. Jeder war mit irgendetwas beschäftigt. Maria und Paula befestigten große Papierservietten auf den Thekenbrettern des Standes, über die später noch Igelitt drüberkam. Cornelius räumte Kisten mit Dopplerflaschen aus einem Kleinbus. Wilhelm begann gleichzeitig der in der Hütte stehenden Antonia zu diktieren: "So, dös waratn zwelf Kistn Rotwei, zwelf Kistn Weiswei, 17 Kistn Stuam, finf Kistn Traubnsoaft, finf Kistn Oapflsoaft, finf Kistn Minaroi. Quitiast ma dös moi." Es handelte sich also um die Spende vom Weingut von Wilhelms Eltern.
"Melde mich zur Stelle", machte ich auf mein Erscheinen aufmerksam. Spontan sahen alle von ihrer Arbeit auf. "Servas, griaß di", antwortete Wilhelm. "Bisloang is nau net vü gschehn", informierte er mich gleich darauf. "Dös laaft ois eascht oa."
Isolde tauchte aus dem Hinterraum auf. In den Händen trug sie einen farbigen DIN-A-4-Zettel. Gleich darauf hielt sie ihn an die Wand zum Hinterzimmer, um ihn mit Reißzwecken an ihr zu befestigen. Die ganze Wand war bereits mit solchen Zetteln voll. Wie ich gleich darauf feststellte, handelte es sich dabei um die Preisschilder. Mit schwarzem Filzstift standen auf ihnen immer ein Getränk und der dazugehörige Preis geschrieben. "1/4 Most – öS 15,--", las ich ganz am linken Ende der Wand. "1/4 Liter Sturm – öS 15", hieß es darunter auf einem Zettel. "1/4 G'schpritzter – öS 20,--, ..."
"Du koast ma inzwischn beim Eirama höfn", rief mir Cornelius zu.

Kapitel 38. 7.: Freitagabend – Nobel-Dinner im "Weinschlößl"

Kapitel 38. 7. 1.: Eintreffen kurz vor Acht

Nur noch wenige Schritte vor mir lag die imperial wirkende Fassade des "Weinschlößls". Ich sah auf meine Armbanduhr. Zehn Minuten vor Um Acht.
Ich stieg die kleine Treppe empor. Automatisch fiel dabei der Blick nach oben. Die Jugendstil-Eingangstür des Gebäudes lag bereits in erster Abenddämmerung. Ebenso der aus schmiedeeisernen, verschnörkelten Buchstaben gebildete, halbkreisförmige Schriftzug "Weinschlößl" über der Tür.
Links tauchte die um die Nordwest-Hausecke angelegte Holzplattform für den Straßenbetrieb des Restaurants auf. Sie lag völlig verlassen da. Alle Stühle waren bereits an die Tische geklappt worden.
Ich drückte die Klinke herunter. Der kleine Windfang zwischen Außentür und Zwischentür tat sich auf. Im Raum dahinter vernahm ich bereits verworren alle möglichen Gespräche der Gäste.
Ich stieß die Flügel der Zwischentür auf. Der Buffetraum des Restaurants war mäßig besetzt. Die meisten Gäste hielten sich an dem Tisch in der Ecke zwischen Eingang und Tür zum südlichen Gästeraum auf. Ich erinnerte mich daran, wie Wilhelm, Johannes, Cornelius, Georg und ich dort Anfang Juli gesessen hatten. Wir waren damals Essen gegangen, um den erfolgreichen Abschluss unseres ersten Schuljahres zu feiern.
In der Sitzecke nördlich erschien wieder die Steintafel über die Geschichte des Hauses. Direkt davor bemerkte ich Herrn Hammerschmidt. Der Wirt des Hauses saß in voller Kochmontur bei zwei Gästen am Tisch. "Grüß Gott!" rief er mir zu. "Kumman Sie a zum Weikulinarium?"
"Ja, genau."
"Glei links ums Eck." Er deutete hinter die hölzerne Kleiderhakenwand, die zwischen Sitzecke und Nordwand-Tür senkrecht an die Mauer stieß.
Ich betrat den schmalen Bereich zwischen Holzwand und Theke und der Tür geradeaus. An der hölzernen Kleiderhakenwand hingen unzählige leichte Jacken und Mäntel. Offenkundig von den Kulinariumsgästen, schlussfolgerte ich.
Schräg gegenüber tauchte unter der Holzweinpresse an der rechten Wand der Stammtisch auf. Die üblichen Stammtischmitglieder saßen wieder zusammen und spielten Karten.
Als ich zwei Schritte vor der Tür zum Kulinariumsraum stand, öffnete sie sich gerade. Eine Kellnerin mit einem Tablett leerer Gläser kam heraus. Ich trat einen Schritt zur Seite, blieb vor der Salatbar im Kopfende der Theke stehen. Durch die halbgeöffnete Tür fiel der Blick einen Spalt weit in den angrenzenden Nebenraum. Dort war der Aperitiv bereits in vollem Gange. Überall standen Gäste mit Sektgläsern in der Hand in kleineren Gruppen zusammen.

Kapitel 38. 7. 2.: Der festliche geschmückte Raum

Ich trat durch die Tür. Ein nach rechts verlaufender, länglicher Raum tat sich auf. In seiner Mitte hing ein Kronleuchter mit langen, geschwungenen, schmiedeeisernen Armen. Wenige Schritte rechts von mir stand an der Wand ein Holzregal mit unzähligen Sorten Wein. Gleich daneben hing an der Wand ein nachgebildeter Weinfassboden mit allen möglichen Schnitzereien, hauptsächlich Weintrauben.
Links am Kopfende des Raumes tat sich ein ziemlich hohes Sprossenfenster auf. Rüschchen hingen an seinem oberen Rand. Am unteren Rand war ein Streifen weißer Sichtschutzgardine angebracht. Der Blick dahinter fiel auf die Kastanien zu beiden Seiten der Wallstraße. Von meinem Blickwinkel aus war nichts als die Kronen der Bäume zu sehen. Es entstand dadurch die optische Täuschung, als ob das Gebäude inmitten von einem Park läge. Mehrere kleinerer Vasen mit Trockensträußen standen nebeneinander auf dem Fensterbrett.
Gleich darauf bemerkte ich in einiger Höhe über dem Fenster eine lebensgroße Büste des Kaisers Franz Joseph. Auf einer Halterung war sie dort oben angebracht worden. Es handelte sich dabei um die Darstellung des Monarchen, bei der er schon etwas älter war; die mit Halbglatze und dem ausgeprägten Bart. Die, die als die bekannteste gilt, weil sie noch heute am häufigsten verwendet wird.
Ein Kellner erschien mit einem Tablett vor mir. "Woas deafs zum Trinken sein?" erkundigte er sich. "Sekt, Sekt-Orange, Orangensaft, Mineral?"
Ich nahm mir ein Glas Sekt und ging damit ein paar Schritte in Richtung Fenster, um hinauszusehen. Dabei fiel mir das "Vinotheksfahrrad" auf, jene Weinflaschen-und-Fahrradinstallation, die der Retzer Mechaniker und Sammler alter Fahrräder Fritz Kurtl mal zu Werbezwecken für die im Keller befindliche Vinothek geschaffen hatte. Ich erinnerte mich, wie ich ganz am Anfang meiner Karriere über die feierliche Übergabe berichtet hatte.
Schließlich entstand unter den Umherstehenden etwas Bewegung. Ich bekam dadurch auch etwas von den zwei Tischreihen zu sehen. Fast durch die gesamte Länge des Raumes zogen sie sich. Eine elegante Tafel war bereits auf ihnen gedeckt worden. Teller, rosa Stoffservietten und mehrere Sorten Bestecks befanden sich an jedem Platz. Daneben standen jeweils ein Paar Weingläser. Ein etwas größeres, rundes für den Rotwein, ein kleineres, mehr zylinderförmiges für den Weißwein. In der Mitte beider Tischreihen lagen alle möglichen Zier- und Gebrauchsgegenstände. Original-Rebstockstämme, die von allen Zweigen und Ästen befreit worden waren. Silbern schimmernde, dreiarmige Leuchter, an dessen Kerzen das Wachs herunterlief. Mit weißen Stoffservietten ausgekleidete, runde Körbchen, in denen sich Weißbrotscheiben befanden. Mineralwasserflaschen. Krüge zum Hineinschütten des nichtverkosteten Weines. Weinflaschenbehälter mit glasierten Weintraubenmotiven an der Seite. Ich erkannte ihre Machart sofort wieder. Sie stammten eindeutig aus der Keramikwerkstatt Mitteretzbach.

Kapitel 38. 7. 3.: Das "Weinschlößl" und die "Weinkulinarien"

Eine unbestimmte Zeit war vergangen. Plötzlich sagte irgendjemand: "So, dann wollen wir mal langsam Platz nehmen."
Gleich darauf wurden überall die massiven Holzstühle mit den hohen Lehnen nach vorn gezogen. Massenhaft entstanden dabei knarrende Geräusche. Schließlich hatte jeder einen Platz gefunden. Herr Hammerschmidt, immer noch in voller Kochmontur, begann herumzugehen und jeden der Anwesenden persönlich mit Handschlag zu begrüßen.
Als er schließlich die Reihe durch hatte, nahm er im Präsidium Platz und kündigte an: "Ich darf ihnen zunächst die Gästeliste vorlesen. Angemeldet haben sich für den heutigen Abend: ..."
Nach dem Verlesen aller Namen deutete er auf den Mann, der als einziger neben ihm im Präsidium saß, und stellte vor: "Neben mir sitzt Martin Flickschuster, Kellermeister eines Bio-Weingutes im Pulkauer Nachbarort Reipersdorf. Von dort ist er heute zu uns gekommen, um uns auf fachkundige Weise die Besonderheiten der einzelnen Weine zu erläutern.
Doch bevor wir dazu übergehen, gestatten Sie mir zunächst eine ganz kurze Vorstellung unseres Hauses. Denn wie ich den Anmeldungen entnommen habe, ist heute auch eine ganze Reihe von Gästen unter uns, die von weit außerhalb kommt. Und da nehme ich an, dass diejenigen mit der Geschichte und den Besonderheiten unseres Hauses noch nicht vertraut sind.
Das Gebäude, das wir heute als 'Weinschlößl' bezeichnen, wurde in den Jahren 1898 bis 1901 unter den Retzer Bürgermeistern Ferdinand Slaby und Alois Richter als 'Kaiser-Franz-Josefs-Jubiläumsbad' errichtet. Im Jahr 1898 wurden anlässlich des 50. Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs viele öffentliche Gebäude in der gesamten damaligen Donaumonarchie in Auftrag gegeben. In Retz betraf das neben diesem Gebäude hier den Kindergarten in der Windmühlgasse.
Bis zum Jahre 1964 wurde das Haus als öffentliche Badeanstalt von der Stadtgemeinde Retz geführt. Gastronomischer Betrieb, wie wir ihn heute haben, findet seit 1984 statt.
Neben den Räumen hier im Erdgeschoss, die sie sicherlich schon alle gesehen haben werden, verfügt das Haus im Keller auch über eine wirklich gut sortierte Hauervinothek. In ihr werden von siebzehn Weinhauern aus der Region insgesamt einhundert verschiedene Qualitäts-, Kabinetts- und Prädikatsweine zum Ab-Hof-Preis verkauft.
Eine weitere Besonderheit unseres Hauses, die fast genauso alt ist wie der gastronomische Betrieb in seinen Mauern selbst, ist das Weinkulinarium, zu welchem Sie sich heute hier eingefunden haben und das ansonsten jeden ersten Freitag im Monat stattfindet.
Die Idee dazu geht auf die Anregung eines Gastes der Retzer Weinwoche 1988 zurück. Dieser hatte gemeint, wie toll es doch wäre, wenn man die Retzer Weine in gepflegter Atmosphäre zusammen mit kulinarischen Spezialitäten der Region genießen könnte.
Soweit ein kurzer Exkurs über die Geschichte unseres Hauses, doch nun will ich den eigentlichen Beginn des heutigen Abends nicht länger verzögern. Ich übergebe nun das Wort an Herrn Flickschuster."
"Meinen Namen kennen Sie bereits, und auch das was ich beruflich mache, daher würde ich sagen, gehen wir gleich 'in die Vollen'. Doch ich sehe, Sie haben noch gar nichts in ihren Gläsern, das möchte ich zunächst einmal korrigieren."
Der Weinbauer und ein unbemerkt dazugetretener Kellner nahmen daraufhin jeder eine Weinflasche und gingen zu je einer Tafelhälfte, um mit dem Einschenken zu beginnen.

Kapitel 38. 7. 4.: Der Weinbau im Weinviertel

Schließlich hatte jeder der Anwesenden etwas bekommen. Ich hielt das volle Glas gegen das Licht, beobachte, wie sich das Licht darin an der Oberfläche des Getränkes brach.
Nachdem der Weinbauer wieder an der Spitze der Tafel Platz genommen hatte, sagte er zum Publikum: "Wie eben schon Herr Hammerschmidt halte auch ich es für angebracht, zunächst ein paar allgemeine Erklärungen für diejenigen unserer Gäste abzugeben, denen unsere Region noch nicht so ein Begriff ist. Das Weinviertel, in das Sie heute zu uns gekommen sind, ist das größte zusammenhängende Weinanbaugebiet Niederösterreichs. Ein Drittel des jährlichen österreichischen Weinvolumens wird hier produziert. Das Weinviertel besteht hauptsächlich aus den Gebieten um Retz im Westen und um Falkenstein im Osten. Es reicht im Norden und Osten bis an die tschechische Grenze, im Süden an die Bundeshauptstadt Wien heran. Geologisch, und das ist entscheidend für den Weinbau, dominieren hier Lehm, Löss und Kalk.

Lassen Sie mich zunächst unsere Nachbarregion, das östliche Weinviertel, vorstellen. Bevor ich dann zu unserem unmittelbaren Teil des Weinviertels komme, dem westlichen Weinviertel. Der überwiegende Teil der Rebflächen des Weinviertels befindet sich nämlich im ehemaligen Weinbaugebiet Falkenstein im östlichen Weinviertel. Zahlreiche Burgen und Ruinen erinnern dort an wichtige historische Begebenheiten. So schlug dort beispielsweise Rudolf von Habsburg 1288 den Böhmenkönig Otto I., so dass man hier von einem Geburtsort Österreichs sprechen kann. Für Falkensteiner Wein, der im vorigen Jahrhundert an viele europäische Fürstenhöfe geliefert wurde, bezahlte man weitaus mehr als für andere österreichische Weine. Der Ort Falkenstein, dessen Wahrzeichen die Burgruine oberhalb des Ortes ist, wurde schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts als Weinort gewürdigt. Das Falkensteiner Weinrecht galt nicht nur für die engere Umgebung, sondern auch über die heutige tschechische Grenze hinweg für den ganzen südmährischen Raum.
In Poysdorf im östlichen Weinviertel, ebenfalls einem der Weinbauzentren der Gegend, wurde vor 100 Jahren der Grüne Veltliner, die wichtigste Rebsorte Österreichs, wiederentdeckt. Heute wird ein Viertel der Poysdorfer Weine zu Sekt verarbeitet.
Weitere Zentren des Weinbaus im östlichen Weinviertel sind Mistelbach, Matzen, Wolkersdorf und Zistersdorf, wo 1934 zum ersten Mal in Österreich Erdöl gefunden wurde. Die Öltürme stehen hier unmittelbar neben den Weinreben.
Im östlichen Teil des Weinviertels werden die gleichen Rebsorten angebaut wie um Retz. Die Weißweine stammen von Grünem Veltliner, Rheinriesling, Weißburgunder und Neuburger. Hinzu kommt der Anbau von Welschriesling, der hier einen gut lagerfähigen Wein mit feinem Bukett ergibt. Rotweininseln befinden sich bei Matzen und Schrattenberg.

Kommen wir nun zu unserem Teil des Weinviertels, nämlich dem westlichen. Weinbauzentren sind hier Retz, Pulkau und Röschitz, wo der Grüne Veltliner besonders fruchtige Weißweine ergibt. Die Kellergewölbe unter der Stadt Retz, in denen die Weine heranreifen, sollen bekanntlich länger sein als das oberirdische Straßennetz. Der Hauptplatz ist wegen seiner Renaissancebauten ein Anziehungspunkt für Liebhaber schöner alter Städtebaukunst.
Neben dem Veltliner ergibt hier auch der Weiße Burgunder gute Qualitäten; extraktreiche, hochwertige Gewürztraminer, kräftige Neuburger und blumige Müller-Thurgaus ergänzen das Weißweinsortiment.
Dank des besonders warmen Klimas im Raum Retz gibt es hier auch Rotwein, und zwar rings um Haugsdorf. Der Blaue Portugieser wird dort zu dunkelroten, süffigen, milden Weinen verarbeitet. Haugsdorf liegt in einem der unberührtesten Gebiete Österreichs, im Pulkautal. Wo noch altes Brauchtum lebendig ist und wo beispielsweise zu Ostern die "Grean" oder im September der "Hüatagang", beides Feste der offenen Kellertür, gefeiert werden.

Damit möchte ich nun zu jenem Teil des westlichen Weinviertels übergehen, den unsere nähere Umgebung bildet. Ein wichtiges und wesentliches Anbaugebiet innerhalb des Weinviertels stellt nämlich die im westlichen Weinviertel gelegene Großlage Retzer Weinberge dar. Die von Hohenwarth im Süden bis hin zu Mailberg im Osten reicht.

Ein Zentrum dieser Region wiederum ist, wie der Name schon sagt, die Großgemeinde Retz. Bestehend aus der Stadt Retz selbst und den Katastralgemeinden Obernalb, Unternalb, Kleinhöflein, Kleinriedenthal und Hofern. Auf ihrem Grund und Boden bewirtschaften 418 Weinbaubetriebe zusammen 1100 Hektar Anbaufläche.
750 Hektar entfallen davon auf Weißwein. Was die Nutzung dieser Fläche im Einzelnen betrifft, so nimmt, wie sollte es anders sein, der Grüne Veltliner mit 480 Hektar den größten Raum für sich in Anspruch. In weitem Abstand gefolgt von Welschriesling mit 88 Hektar. Auf 59 Hektar finden wir Müller-Thurgau. Und das Schlusslicht bilden 39 Hektar Rheinriesling.
Rotwein wird auf insgesamt 350 Hektar angebaut. Davon entfallen 241 Hektar auf Blauen Portugieser, 63 Hektar auf Zweigelt und 36 Hektar auf Blauburger.
Daneben existieren sowohl bei Weiß- wie auch bei Rotweinen noch eine ganze Reihe 'exotischer' Anbausorten, die ich hier jedoch nicht alle anführen möchte."

Bürgerreporter:in:

Christoph Altrogge aus Kölleda

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