Spieglein, Spiegelein ...

Das eigene Spiegelbild bereitet echten Schlipsträgern beim Binden ihrer Krawatte kaum Schwierigkeiten. Vor dem Spiegel achten sie weder darauf, was die rechte, noch was die linke Hand tut. Ungeübte Binder geraten da schon eher in Verwirrung, verlieren vor dem Spiegelbild die Orientierung, wenn sie die Bewegungsabläufe ihrer Hände kontrollieren.

Sonntagmorgens, beim gemütlichen Hantieren mit Rasierschaum und Klinge, überfiel mich unversehens ein schwerwiegendes Problem. Warum verwechselt der Spiegel eigentlich die Seiten meines stoppelbärtigen Gesichts? Die rechte Wange wird im Spiegel zur linken und die linke zur rechten. Der Spiegel vertauscht offenbar rechts und links; sollte er dann nicht ebenso oben und unten umkehren?

Warum tut er das aber ganz offensichtlich nicht?

Fragen sind manchmal wie durch belanglose Musik aus dem Radiowecker angeregte Ohrwürmer. Sie geistern eine zeitlang unentwegt im Kopf herum, lassen sich nicht ignorieren. Fragen verlangen schlüssige Antworten. Dann erst geben sie Ruhe.

Noch einmal zurück zum Spiegel: ist vollkommen eben. Wenn er meine rechte und linke Seite vertauscht, warum bleibt das Oben oben?

Das Rechts-Links-Problem verwirrt meine Hirnwindungen. Jetzt bin ich mit der Rasierklinge ans Ohrläppchen geraten. Es blutet. Für Sekunden tritt die Rechts-Links-Frage in den Hintergrund. Einen Moment nur, dann meint der fragende Ohrwurm:

Wenn Radioastronomen künftig einmal Signale von intelligenten Außerirdischen empfangen und mit jenen fernen Wesen kommunizieren sollten, wie erklären sie ihnen unser rechts und links?

Ein möglicher Funkdialog?

"Erdling, was meinst du mit links?"

"Links ist da, wo Dein Daumen rechts ist."

"Alle meine drei Daumen sind grün, kein einziger ist rechts."

Das würde also nicht zum Ziel führen! Oben und unten wären viel einfacher zu erklären. Da hilft die im gesamten All wirkende Schwerkraft. Auch auf anderen Planeten landet ein herabfallendes Marmeladenbrot immer mit der belegten Seite auf dem Teppich. Also könnte man dem grünen Männchen leicht erklären: Unten ist dort, wo das Marmeladenbrot landet, nach dem es oben den Halt verlor.

Das Oben-Unten-Problem ist lösbar. Dabei hilft die gemeinsame Bezugsebene, Schwerkraft.

Es macht durchaus Sinn, spiegelbildliche Seiten unterschiedlich zu benennen. Wir Erdenbürger einigten uns auf die Wörter rechts und links. Die Wortbedeutungen zu definieren gelingt allerdings nur bei einen eindeutigen Bezugspunkt. Der muss im Gespräch von beiden Komunikanten sichtbar sein. Sonst kann man nicht erklären, was als rechte bzw. linke Seite einer Symmetriehälfte bezeichnen. Schließlich sind beide Seiten irgendwie gleich, nicht anders unterscheidbar als durch die vereinbarte willkürliche Benennung.

Symmetrie wird zumeist als angenehm empfunden. Sie schafft Gleichgewicht, einen Ausgleich zwischen Gegensätzen. Rechte und Linke, das sind eigene Welten, unterschiedlich wie das da oben und jenes da unten. Nur viel schwieriger zu vermitteln.

Alles ist gleich, nur andersherum, stellte Alice fest, als sie durch den Spiegel in eine andere Welt trat. Alles ist austauschbar. Ich benenne: rechts und links, unten und oben, Nord und Süd, arm, und reich. Welche Bedeutung messe ich diesen Gegensätzen bei? – und wie steht es mit den beiden Begriffen Leben und Tod? – Wenn uns manche Religionen glauben machen, es gäbe ein Weiterleben nach dem Tod, verwischen sie die Unterschiede, zeichnen Trugbilder wie mein Rasierspiegel.

Alltags finde ich beim Rasieren keine Zeit für solche Gedanken. Ob ich am kommenden Sonntag erneut gedankenvoll mein Spiegelbild betrachte – oder die Augen vor der Wirklichkeit verschließen werde? Wahrscheinlich werde ich fragen, sehe ich überhaupt die Wirklichkeit, und wenn ja, welche?

Am Frühstückstisch versuche ich mein Problem zum Gesprächsthema zu machen.

„Mich interessiert , warum der Spiegel nur rechts und links, nicht aber auch oben und unten vertauscht!“

„Weil du sonst deine Beine rasieren würdest!“

Die Antwort lässt mich das schrinnende Ohrläppchen vergessen. Blutete eigentlich das rechte oder das linke?

Bürgerreporter:in:

Rolf Schulte aus Hildesheim

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