“Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen”

Zukunftsperspektiven für Afghanistan?
Referat und Diskussion mit Heiner Tettenborn im Zeughaus

1979 bis 1989 - Krieg der Sowjetunion mit Afghanistan, 1989 bis 2001 - Bürgerkrieg und Taliban, seit 2001: Krieg der “Anti-Terror-Allianz” - “Seit 23 Jahren beherrschen Krieg, Bürgerkrieg, materielle Not und unvorstellbares menschliches Leid die etwa 20 Millionen Menschen in diesem kleinen Land zwischen den mächtigen Nachbarstaaten Iran, Pakistan und den ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan.”

Wie können Menschen, wie können Kinder in Afghanistan überhaupt leben? In einem Land, in dem Warlords, Taliban und Al-Qaida um Macht und Einfluss ringen, terrorisieren? In einem Land, in dem riesige Felder Schlafmohn angebaut werden und, insbesondere in den Grenzregionen zum Iran und Pakistan, zahlreiche Heroin-Labore existieren? Terror und Terrorbekämpfung den Alltag der Menschen bestimmen?

“Denken Sie nicht, die Afghanen seien lethargisch und uninformiert! Information ist in Afghanistan überlebenswichtig: Was aktuell passiert, das erfahren wir von der einheimischen Bevölkerung, und erst Tage später - wenn überhaupt - taucht es dann in einer Form in der Presse auf!”

Heiner Tettenborn bereiste in der Vergangenheit vielfach mit Rainer Erös Afghanistan, lernte das Land und die Menschen verstehen. Afghanistan - das ist ein Land reich an Kultur, Gastfreundschaft, multi-ethnisch, voll auch an landschaftlichen Schönheiten, Gebirgen, ein Land auch reich an Extremen und Gegensätzen:

57 Sprachen, 200 verschiedene Dialekte, eine davon, Paschtu, ist offizielle Landessprache, obgleich das Persische, Dari, von eigentlich noch mehr (rund der Hälfte) gesprochen wird. 99% der Bevölkerung sind Muslime, Hindus und Juden, Minderheiten. Da sind Paschtunen, Tadschiken, die Hazara (etwa 20%), persischsprachig, Usbeken (rund 5%).

“Wenn Afghanen sich zum Islam bekennen, wenn sie sagen: Wir brauchen den Islam! so ist das oftmals kein fundamentalistisches Bekenntnis etwa zu der dschihadistischen Al-Qaida - nein, das heißt vor allem: Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst die Gesetze achten! - Es ist ein Bekenntnis zu Recht und Ordnung, zu sozialer Verantwortung.”

Mehr als einmal vermittelt der Referent kenntnisreich, wie gesellschaftliches und staatliches Leben in Afghanistan geschieht, räumt mit Halbwissen und Klischees auf. Betroffenheit bei den Zuhörern, Mitgefühl - und Aufklärung.

Sind denn Taliban und Al-Qaida nicht identisch? Nein, es gibt zahlreiche Islam-Schulen in Afghanistan (Madrasa), in denen Islam-gläubige ausgebildet werden: Talib (Singular) bedeutet “Student”, “Schüler” Plural: Taliban.

“Nehmen wir an, einer Familie in einem Dorf wird Vieh gestohlen. Wenn das Familienoberhaupt zu einem staatlichen Richter geht, entscheidet der danach, wieviel Bakschisch er von der einen, wieviel er von der anderen der streitenden Parteien er erhält, w e m er Recht zuspricht. Ein Taliban-Richter lässt sich nicht bestechen: er entscheidet nach seinen gründlichen Recherchen - und spricht eben Recht.”

Vielfach ist also die Forderung nach Islam ein Bekenntnis zu Recht und Ordnung - und eine klare Ablehnung der Anarchie, die sonst die Gesellschaft beherrscht.

“Wenn wir [die Kinderhilfe] eine Schule bauen, dann gehen wir zuerst zu den Menschen des Dorfes und überzeugen sie, und erst wenn sie überzeugt sind und diese Schule wollen, kann gebaut werden, denn dann stehen die Menschen des Dorfes zu dieser Schule - und verteidigen sie, wenn nötig, mit ihrem Leben! Kein Fremder wagt es dann, diese Schule oder sonst die Einrichtung, die unter dem Schutz der Menschen dort steht, sie anzugreifen oder zu zerstören.”

Abschließend erzählt Heiner Tettenborn eine Anekdote, die veranschaulicht, wie es in Afghanistan weitergehen kann:
“Ein afghanischer Freund nahm vor einem amerikanischen General seinen Turban ab, rollte ihn auseinander und sagte: Kannst du diesen Turban wieder zusammenrollen? Nein? Das kann bei uns jedes Kind! Wie aber willst du unserem Land Ordnung und Wohlstand bringen, wenn es dir nicht einmal gelingt, etwas so Einfaches zu tun?”

Eine wirkliche Zukunftsperspektive für Afghanistan können wir Europäer, noch weniger die Amerikaner oder sonst eine Nation nicht bringen; wir können aber fortan es unterlassen, die Lösungsansätze und Konzeptionen, die die Afghanen s e l b e r gestalten, zu stören. Mehr als in allen anderen Entwicklungsländern zeigt sich, dass Afghanistan Lösungen zu seinen Problemen selber entwickeln m u s s. Dabei können wir dieses leidgeprüfte Land unterstützen - und dabei stellt die Kinderhilfe Afghanistan der Familie Erös einen Beitrag dar.

Weitere Infos: www.kinderhilfe-afghanistan.de

Foto 011: Heiner Tettenborn (hier mit Evelyn Leippert-Kutzner, die mit ihrem Team der Stadtbibliothek die Veranstaltung im Rahmen der Donauwörther Kulturtage 2008 organisierte) referierte eindrucksvoll und kenntnisreich über die aktuelle Situation in Afghanistan. Gemeinsam mit Rainer Erös, der den Abend kurzfristig absagen musste, arbeitet er für die Kinderhilfe Afghanistan.
Kompetent entwickelte er anhand eines anschaulichen Dia-Vortrags ein komplexes und doch für den Laien nachvollziehbares Bild dieses von Krieg, Terror und Leid geschundenen Landes: Lösungen der brennenden, vielschichtigen Probleme in Afghanistan können nicht von außen kommen, sondern müssen durch die Afghanen selber sukzessive gefunden und nachhaltig realisiert werden - so das zentrale Plädoyer Tettenborns in der lebhaften Diskussion mit dem Publikum im Zeughaus.

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Leitner aus Donauwörth

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