Dunkle Vögel – helle Sterne : die Religion der Rhäter im oberen Inntal

Die Schalensteine bei der Kapelle hoch über dem Inntal am Eingang von Fliess im Tiroler Oberland
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Die Sonne stürzte jetzt am spätsommerlichen Abendhimmel doch mit scheinbar viel zu großer Geschwindigkeit hinter den zerklüfteten Bergen in die Tiefe. Dabei zerplatzte der große Feuerball in einzelne rote Glutnester weit über die Gipfel verstreut. Aber es war kein Laut zu hören: Gespenstische Stille – nicht einmal die fröhlichen Vögel wagten es bei diesem allabendlichen Disaster ihre zwitschernden Abendgesänge fort zu führen. Die dunklen Federträger aber, die Saat- und Nebelkrähen, das Rabenvolk, sammelten sich am Horizont vor den letzten Feuerherden und verglimmenden Funken des sterbenden Lichtes.

Hoch oben am dunklen Nachthimmel würde man schon bald einen jeden der schwarzen Vögel mit einem der Feuerfunken gen Osten ziehen sehen. Seht Ihr dort oben all jene kleinen leuchtenden Punkte, die wir gemeinhin als Sterne bezeichnet haben? Doch kaum merklich nur würden sich die Gefiederten mit Ihrer Last hoch über uns von der Stelle bewegen können. Jeder der geflügelten Helfer würde ja auch nur ein kleines, wohl aber schweres Stück des glühend verstreuten Sonnengottes im Schnabel auf die andere Seite der Erdscheibe hin tragen können und der Weg durch die Nacht war immer weit. Aber wie an vielen anderen klaren Nächten sah man bereits jetzt die riesig große Schar der Schwarzgewandeten, die im Dunkel des Himmels selbst ja zwar nicht zu sehen, aber an der schier unendlichen Menge an Lichtpunkten, die sie zu tragen hatten, doch zu erahnen waren.

Morgen aber in aller Frühe würde der Herrscher des Himmels wie an allen anderen Tagen dank des unermüdlichen und verlässlichen Fleißes dieser Vogelschar aus den vielen verstreuten Stücken im Osten wieder zusammen gesetzt und neugeboren seinen Gang über den Himmel vollziehen können. Ganz drüben iIm Westen - wie schon jeden Abend vorher - würde der Leuchtende sich dann wieder selbst aufopfernd und im Sturze zersprengt  mit der Mutter Erde und den himmelragenden Gipfeln Ihres Leibes im Tode vereinigen. So und nur so in Auflösung und Zerstückelung, Aufsammeln, Rücktransport und Zusammensetzen bliebe die Fruchtbarkeit der Welt, bliebe das Leben aller anderen auch weiter erhalten.

Weh aber an jenen Nächten, wenn dunkler Sturm sich zusammenbraute, bevor der Erhabene mit seinen Glutnestern am Abend die Erde schwängert, weh aber, wenn Sich die Schwarzflügel in der Dunkelheit der Nacht verirren, wenn man verzweifelt nach Ihren Lichtpunkten am Himmel sucht. Mit Verzweiflung im Herzen mag man dann wohl den einen oder anderen Feuerträger noch am Himmel entdecken, aber mag seine Mühe im Kampf gegen die starken Winde, mögen die wenigen mit leuchtender Masse beladenen Raben denn dann auch am Morgen genug vom Sonnenmann wieder gefunden und im Osten zusammengebracht haben, dass er wieder neu erstehen könne?

Was wenn der Sturm auch am nächsten Tage den Himmel verdüstert, an dem man so verzweifelt den Leuchtenden erwartet. Wird das schwarze Vogelvolk vielleicht wenigstens heute genug vom Körper des Erdgatten zusammen finden, damit er am nächsten Morgen wieder neu geboren erscheine. Oder wird der große Gott heute gar schon gleich zu Beginn des Schöpfungsaktes wieder im eigenen, im glühendem Morgenblut zusammen sinken und damit bleibend schlechtes Wetter ankündigen?

Hoch oben weit über dem Inn auf vorragender Hügelspitze direkt am Eingang von Fließ liegen die großen flachen Schiefersteine, in die die Rhäter runde, annähernd 3-5cm große Schälchen dicht an dicht nebeneinander eingegraben haben. Viel später in der Zeit des Christentums hat man eine kleine Kapelle drauf gebaut. Zu gefährlich und unerwünscht ist dieser heidnische Glaube!

Hat man dort Blut in die Schälchen geopfert, in deren dunkel spiegelnden Oberflächen sich die in tiefem Rot sterbende Sonne konservieren konnte? Hat man dort viele kleine brennende Talgfeuerchen entfacht, um den Vögeln der Nacht die Konstellation des Sternenfluges auch im düsteren Sturm auf zu zeigen?

Im Archäologischen Museum Fliess findet man auf einer Goldscheibe die zusammen mit einem großen kupferzeitlichen Hort am Kaudergrat über dem Ort gefunden wurde, eine kleine Gravur mit der Sonnenscheibe in der Mitte und einem stilisierten Vogelpaar, das sie trägt. Im Glauben der Rhäter wird die Sonne von Vögeln in der Nacht von West nach Ost getragen.

Bürgerreporter:in:

Haus der Kulturen michael stöhr aus Diedorf

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