Alte Häuser haben viel zu erzählen

Das Elternhaus meiner Mutter vor 1939. Es hatte die Hausnummer 4.
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Wenn alte Häuser reden könnten, wüssten sie viel zu erzählen über ihre Entstehung, den Nutzen, Veränderungen, die vielen Generationen und über Freud und Leid. Sie wurden vor ein- oder mehreren hundert Jahren mit viel Mühe und Handarbeit in Holzbauweise erstellt. Ende der 1960er Jahre entsprachen viele dieser Häuser nicht mehr dem Zeitgeschmack und wurden daher abgerissen. Nichts blieb von ihnen übrig - bestenfalls noch ein Foto.

In Biebergemünd-Lanzingen ist das Elternhaus meiner Mutter auch nicht mehr zu finden und musste einem Neubau weichen. Auch wenn heute nicht mehr festzustellen ist, wann und von wem das Bauernhaus erbaut wurde, so steht doch fest, dass es sich um die Hausnummer 4 handelte. Im Brandversicherungskataster sind noch weitere Einzelheiten vermerkt, und zwar
Wohnhaus - Länge 9,8 Meter
                     Tiefe 7,7 Meter
                     Stockwerke 1
Scheune - Länge 7,8 Meter
                 Tiefe 7,7 Meter
                 Stockwerke 1
Schweinestall - Länge 5,0 Meter
                          Tiefe 1,9 Meter
                          Stockwerke 1

"Das Haus ist mein und doch nicht mein, ......nun sag' mein Freund wem gehört das Haus?"


Erst ab dem Jahr 1864 sind Eintragungen über die Hausbesitzer zu finden:
1864 - Matthäus Wenzel und Ehefrau Gertraude, geb. Kildau
1888 - Kilian Müller und Ehefrau Agnes, geb. Wenzel (Foto 2)
1926 - Josef Müller und zweite Ehefrau Karolina, geb. Gaul (Foto 3)
1939 - Anton Müller und Ehefrau Emma, geb. Mann (Foto 4).

Backhaus

Erzählungen nach hat mein Großonkel, Anton Müller, das Backhaus (Foto 8) unterhalb der Schweineställe erbaut. Anton Müller wurde am 16.06.1890 geboren, erlernte den Beruf des Maurers und ist am 26. Mai 1915 in Galizien gefallen. Soweit ich mich erinnere, war in einem Balken im Eingangsbereich zum Backhaus die Jahreszahl 1910 zu erkennen. 

Stall und Scheune

Wie in so vielen alten Bauernhäusern befand sich in dem Elternhaus meiner Mutter wohl früher auch einmal der Kuhstall unter dem Wohnhaus. Wenn man sich das Foto (1) ansieht, so erkennt man rechts von der Außentreppe, direkt unter dem Wohnzimmerfenster, eine Tür. Hier waren noch in den 60er Jahren Reste eines alten Futtergestells aus Holz zu sehen, obwohl der Raum damals als Keller genutzt wurde. In diesem Keller standen Regale mit Eingemachtem und auch zwei Holzfässer mit selbstgekeltertem Apfelwein. Auf dem Foto (4) vom Februar 1940 ist zu erkennen, dass der Kuhstall schon im linken Teil der alten Scheune untergebracht war. Im Jahr 1961 wurde eine neue Scheune und ein Stall hinter dem Bauernhaus erbaut.

Auf der Hofseite der Scheune befand sich ein zweigeteiltes hölzernes Tor, in dessen linkem Torflügel eine Tür eingebaut war. Mit dem Kuhfuhrwerk fuhr man in die Scheune hinein, um nun die Kühe einzeln auszuspannen und abzuschirren. Das Kuhgeschirr und die Ketten fanden ihren Platz an der linken Wand der Scheune zwischen den beiden Futterschlägen
Die Rückwand der Scheune bestand lediglich aus Brettern, in der sich eine Holztüre befand.  Durch die Türe in der hinteren Wand der Scheune wurden die Kühe einzeln, auf einem schmalen Weg zwischen dem Wohnhaus und dem Nachbargrundstück, auf ihren Platz im Stall geführt. Hinter dem verschlossenen Scheunentor war es möglich, den beladenen Wagen abzuladen. Ja, das alte hölzerne Scheunentor hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und zwar eine Narbe direkt neben dem linken Auge. So ist es, wenn ein knapp dreijähriger Knirps meint, stärker zu sein wie das Scheunentor.

Auf dem Foto aus dem Jahr 1938 ist zu erkennen, dass Wohnhaus und Scheune gleichhoch sind, während in meinen Erinnerungen das alte Bauernhaus höher als die Scheune war. Festgestellt habe ich, dass im Jahr 1939 das zweite Stockwerk ausgebaut wurde, um mehr Wohnraum zu schaffen und dabei auch das Dach etwas angehoben wurde.

Das Wohnhaus

Über die Wohnräume des alten Bauernhauses muss ich in meinen Erinnerungen graben. Die Haustüre und den Hausflur erreichte man über die Sandsteinstufen der Treppe. Stand man im Hausflur, so sah man auf der linken Seite zunächst die nach oben führende Holztreppe und dahinter die Tür zur sogenannten 'Neberstube'. Geradeaus ist die Tür zur Küche und auf der rechten Seite die zum Wohnzimmer. Betrat man das Wohnzimmer so befanden sich an der linken Wand drei große schwarze Bilderrahmen. Erinnern kann ich mich allerdings nicht mehr genau an die Fotos jedoch meine ich, dass auf einem mein Onkel zu sehen war, der mit noch nicht einmal 20 Jahren im Jahre 1941 an der Ostfront gefallen ist. In dieser linken Wand befand sich auch noch eine Türe, die in die sogenannte Kammer führte. Die Kammer war das Schlafzimmer meiner Großeltern.
An der der Wohnzimmertür gegenüberliegenden Außenwand stand ein schwarzer Schreibtisch mit je einer abschließbaren Schranktür auf der linken und rechten Seite unterhalb der Tischplatte. Hier erledigte mein Onkel am Wochenende seine Schreibarbeiten.

Die Küche war der Raum, in dem sich die Familie am meisten aufhielt. An der linken Wand hinter der Küchentür befand sich der Küchenschrank, während auf der rechten Seite neben der Holzkiste der Kohleherd mit einem Wasserschiff und den einzel herausnehmbaren Ofenringen stand. Die Küche war in L-Form und ursprünglich einmal zwei Räume. In dem hinteren, ursprünglich zweiten Raum stand einmal der Webstuhl meines Urgroßvaters. Nachdem er verstorben war und der Webstuhl nicht mehr genutzt wurde, hat mein Großvater die Wand zur Küche entfernt und so Platz geschaffen für den Esstisch, die Eckbank und Stühle. Oftmals waren an diesem Tisch 14 Personen zum Essen versammelt. Nur an einer kleinen Stufe war zu erkennen dass die Küche einmal zwei Räume waren.

Im zweiten Stock des Hauses befanden sich die Schlafräume meiner drei Cousins, meiner Cousine und das Schlafzimmer meiner Tante und meines Onkels. Aus Erzählungen ist mir noch in Erinnerung, dass vor dem Ausbau des zweiten Stockwerks hier noch Getreidekörner gelagert wurden.

Freud und Leid

In dem alten Bauernhaus wurden in der Zeit von 1864 bis Mitte 1960 Hochzeiten gefeiert, sind Kinder geboren und aufgewachsen und Verstorbene aufgebahrt worden. Meine Urgroßeltern haben hier die Nachricht erhalten, dass ihr jüngster Sohn im 1. Weltkrieg gefallen ist, und eine solche Todesnachricht erreichte im Jahre 1941 auch meine Großeltern.

Im Juni 1947 wurde letztmals ein Kind in dem alten Bauernhaus geboren und die letzte Hochzeitsfeier fand im Juli 1963 im Wohnzimmer statt.

Seit Mitte Dezember 1960 wohnten meine Eltern und ich nicht mehr in Lanzingen. Mitte Juni 1961 kehrten wir jedoch für einige Tage zurück in das alte Bauernhaus. Anlass hierfür war,  Abschied zu nehmen von meinem Großvater, der verstorben war. Für zwei Tage war er in seinem Bett aufgebahrt und die Familie, Nachbarn und Bekannte nahmen hier von ihm Abschied. Sein letzter Weg führte vom Hof über die Dorfstraße durch das Unterdorf bis zum Friedhof. Zum anschließenden Kaffee versammelte sich die Trauergemeinde im Wohnzimmer des alten Bauernhauses. Ein besonders einschneidendes Erlebnis für einen damals Fünfjährigen und auch die letzte Trauerfeier in dem alten Bauernhaus.

Beim Betrachten des alten Fotos wurden Erinnerungen für mich wieder lebendig. Es sind schöne Erinnerungen aber wie gesagt, es sind Kindheitserinnerungen, die eigentlich immer schön sind. In der letzten Strophe des Volksliedes "Das Elternhaus" heißt es treffend:
                    "Drum tauscht ich für das schönste Schloss
                            wär’s felsenfest und riesengross,
                               das alte Bauernhaus nicht aus
                            denn ’s gibt ja nur ein Elternhaus!
                           Dahin, dahin verlangt mein Sehnen
                            ich denke dein gar oft mit Tränen,
                            mein Elternhaus, so lieb und traut
                      das ich schon lang nicht mehr geschaut!"

Bürgerreporter:in:

Hans-Christoph Nahrgang aus Kirchhain

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