Das Glück, im Stau zu stehen

Das Glück, im Stau zu stehen

Kolumne vom 02.06.2012

Ich bin auf dem Heimweg von der Arbeit. Ziemlich geschafft stehe ich seit einer halben Stunde im Stau vor einer inzwischen nur noch 6 km entfernten Baustelle. An der Landschaft ändert sich nicht viel, die sehe ich jeden Tag, aber die Menschen in den Autos um mich herum, da kann man die schönsten Studien treiben. Auf einmal merke ich, dass ich froh bin, im Stau zu stehen.

von Robert Schneider ein selbst Betroffener des MMB e.V.

Froh, im Stau zu stehen? Das stimmt so nicht ganz.

Ich bin froh, dass ich in der Lage bin, im Stau stehen zu können.

Ich habe einen Beruf, der mich fordert, mich ausfüllt und mir Spaß macht. Meine Kollegen schätzen den Menschen und haben Verständnis für den Rollstuhlbenutzer.
Ich habe einen Kostenträger, der mir mein behindertengerechtes Spezialfahrzeug gefördert hat. Alleine wäre so etwas für mich unerschwinglich gewesen. Natürlich ist es kein Spaß, bei den Temperaturen im Schritttempo mit tausend anderen dahin zu rollen. Aber hallo? Ich kann rollen! Gemeinsam mit den vielen anderen rolle ich langsam auf die Baustelle zu und freue mich, das ich es kann. Ich finde das noch nicht einmal seltsam.

Fast täglich erlebe ich mit, wie Menschen mit Behinderungen oder die Eltern behinderter Kinder um das kämpfen müssen, was nicht Behinderte als Selbstverständlichkeit ansehen. Mache sind seit Monaten, manchmal sogar Jahren auf dem Weg durch die Instanzen.

Sich mit Freunden treffen.
Spontan ins Kino gehen.
Mal übers Wochenende versacken.
Oder einfach nur mal raus fahren.

Was für einen Läufer etwas ist, bei dem er sich höchstens überlegt, ob er sich einen Schlafsack ins Auto legt, ist für unsereinen ein logistisches Großprojekt.
Sofern wir in der glücklichen Lage sind, ein Fahrzeug zu fahren, das für unsere Bedürfnisse angepasst wurde. Da können auch schon mal 100.000 Euro und mehr für drauf gehen. Wie sich das eine Familie mit vielleicht nur einem Verdiener leisten soll? Wen interessiert das schon? Außer der Familie. Ohne Mobilität? Nichts, nada, niente. Fahrdienst oder daheim bleiben.

Ich hatte das Glück, nach einem Unfall, der mich für den Rest meines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein lässt, meinen Arbeitsplatz zu behalten. Was ich dazu benötige, dafür findet sich Hilfe. Teilhabe am Arbeitsleben nennt sich das. Da stehen die Kostenträger schon fast Spalier. Die Rentenversicherung, der Integrationsfachdienst, die Arbeitsagentur, um nur die gängigen zu nennen. Das größte Problem dabei ist, herauszufinden, was ich bei wem auf welche Art beantrage.

Wobei - das größte Glück ist, noch da zu sein. Meine Frau, meine Kinder im Arm halten zu können. Mit Freunden und Kollegen mal eine Gerstenkaltschale zu zischen. Zu leben.

Und so stehe ich im Stau und freue mich. Freue mich, dass ich in der Lage bin, im Stau stehen zu können. Ohne einen Fahrdienst sebst am Steuer zu sitzen. Ich kann das Radio an- oder ausschalten, die Musik hören, die ich will. Ich kann mit offenem Fenster fahren oder die Klimaanlage einschalten. Ich muss niemanden darum bitten, das für mich zu tun.

Muss man wirklich erst eine echte Ausnahmesituation überlebt haben, um die Dinge wieder so zu sehen, wie sie eigentlich sind? Die berühmte kleine blaue Blume am Wegesrand wahrzunehmen und stehen zu lassen, damit sich auch andere über sie freuen können?
Haben wir in dieser zeitbestimmten Welt wirklich den Blick für die Dinge verloren, auf die es letztendlich ankommt?

Der Fahrer des riesigen Sattelzuges neben mir versucht, die alte Dame vor ihm dazu zu bringen, dass sie den Sicherheitsabstand zu dem Fahrzeug vor ihr verrringert. Er fährt ganz dicht auf sie auf und tritt im letzten Moment die Bremse. Für sie muss es im Rückspiegel so aussehen, als wolle sich dieses Stahlmonster auf ihren Kleinstwagen stürzen.

Der tiefer gelegte Kompaktwagen links hat es in der letzten viertel Stunde geschafft, sich durch das Erzwingen von Spurwechseln, mit ausgiebigem Gebrauch von Hupe, Lichthupe und wilden Gesten zwei Fahrzeuglängen nach vorne zu kämpfen. Gerade eben feuert er durch das offene Fenster eine Schimpftirade auf seinen Vordermann ab, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt.

Ein Stück weiter hat sich eine Mutter im Beifahrersitz des Kombis herumgedreht und schreit mit hochrotem Kopf und wild gestikulierend auf ihre Kinder ein. Die haben vermutlich zum wiederholten Mal die Frage aller Kinder in der Situation gestellt: "Mama, wie lange noch?"

Und ich? Ich freue mich darüber, dabei sein zu dürfen und frage mich allen Ernstes, wer hier eigentlich behindert ist?

Versucht es im nächsten Stau doch selbst einmal. Der Stau wird daurch nicht kürzer. Ihr kommt auch nicht schneller voran. Aber das Gefühl ist ein anderes.

Nur der Gedanke, dass da irgendwo Leute ihr Leben und das anderer riskieren, nur um ihr Feierabendbier 13 Millisekunden früher öffnen zu können, der hat schon etwas Erschreckendes.

Dann sitze ich doch lieber da, schaue übers Lenkrad aus dem Fenster und freue mich, dass ich es kann. Dabei passe ich auf, den Blick für die kleinen Dinge, die Dinge, die das Leben wirklich ausmachen, diesen Blick nicht wieder zu verlieren.

Bürgerreporter:in:

Klaus-Dieter Dingel aus Bad Wildungen

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