Seelze 1696 [Teil4] - Tod in der Leine oder was geschah am Sonntag Abend? [Kurzgeschichte/Krimi]

Er sah aus wie ein rumstreunender Vagabund, die Schuhe waren löchrig und die Joppe zerrissen. Das Gesicht war gegerbt durch die tägliche intensive Sonneneinstrahlung. So wirkte es jedenfalls auf jemanden der ihn zum ersten Mal erblickte. Seine Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Ein tief schwarzer Schatten verdeckte die auffällige Narbe die vom linken Augenwinkel bis weit unter das Kinn reichte. Jeder der ihm so ohne Vorahnung ins Angesicht sah, musste sich zwangsläufig mächtig erschrecken. Dieser, hier in der Gegend nicht bekannte Bursche, war auf dem Weg über die Döteberger Höhe, aus dem Schaumburger Land kommend, in Richtung Seelze wandernd.

Der Weg war, nach der frostigen und lang anhaltenden Kälte der Wintertage, nun nicht mehr gefroren, sondern war mit Schlamm und Pfützen nur so überseht. In den Rinnen die die schweren Fuhrwerke auf ihrem Weg ins Lettische hinterließen waren zu richtige Bächen angewachsen. Nach Letter mussten die die Bauersburschen mit ihren Gespannen weil dort der Fährmann sie trockenen Fußes über den Einfluss übersetzen konnte. Nur montags war das nicht möglich. Das wussten alle die den alten Fährmann kannten. Denn Sonntag ging er in die Kirche nach Seelze. Nicht dass er, nach der dort zu erwartenden Standpauke, den Kopf in Gram hängen ließ. Nein nach dieser ordentlichen Schelte, die es eigentlich jeden Sonntag einzustecken galt, führte ihn sein Weg geradewegs in den Dorfkrug. Den ‚Alter Krug‘ wie sie nannten. In dem der Mundschenk ein besonders süffiges Bier zu brauen wusste. In gemütlicher Runde war das wieder aufstehen sehr mühsam. Zumal der Wirt, dieses Schlitzohr, immer mal wieder einen ‚auf’s Haus‘ einzuschenken. Was die Gäste wiederum dazu verleiten ließ, selber die doppelte und dreifache Menge an Gerstensaft zu bestellen. So war es danach, jeden Montag, das der Fährmann tief schnaufend und mit einer Fahne, die jeden Gardesoldaten erfreut hätte, unter seinem Fähranleger lag und seinen Rausch ausschlief.

Der Fremde erreichte gerade die Höhenzüge, die Döteberg mit Harenberg verbanden. Es war schon fast Mittag und Sonne entwickelte schon eine so große Kraft, die die Kleidung nass und die Kehle trocken werden ließ. Der Mann mit dem Narbengesicht blickte von der Anhöhe weite über der das Calenberger Land. Drunten fast schon an der Leine konnte er das Dörfchen Seelze erblicken. Auch der gerade erst neu aufgebaute Kirchturm entging seinen Augen nicht. Die Seelzer hatten ihn mit viel Anstrengung und Entbehrung erbauen lassen. Wer einen so gepflegten Kirchturm sein Eigen nennen durfte hatte bestimmt auch eine saubere Dorfschänke. Seine Kehle wurde bei dem Gedanken an ein kühles Gerstengebräu noch trockener. Schnellen Fußes lenkte es seine Schritte in Richtung Kirchturm. Noch bevor er die Landstrasse zwischen dem Hannöverschen und dem Vogt in der Abtei Luthe erreichte, musste er an etlichen Feldern vorüber. Misstrauisch gegen alle und jede schauten die Knechte dem, in seinen schwarzen zerlumpten Kleidungsstücken daher schlürfenden, Wandersmann entgegen. Hatte doch sie der 30 jährige Krieg gelehrt gegen jedermann vorsichtig und misstrauisch zu sein. Auch stellte sich schon die eine oder andere Hand auf. Aber er ließ sich nicht beirren und setzte seinen Weg fort. Bald saß er in der letzten Ecke des Dorfkruges und trank einen nach dem anderen, die ihm vorgestellten Krüge bis auf den Boden leer. Keine Fingerhut voll hätte er von dem brummigen Wirt bekommen, hätte er, ja hätte er nicht mit einem silbernen Fürstentaler seine Zehr und sein Nachtquartier beglichen.

Als der Abend schon weiter fortgeschritten und er wohl schon den fünften Krug geleert hatte, meinte die neugierige Wirtsfrau sie müsse sich zu ihm setzen. Sie streichelte ihm durch sein schmieriges und ungewaschenes Haar. Hoffte sie doch er würde ihr, wenn sie nur recht nett zu ihm war, auch was von dem Fürstensilber abgeben. Doch so sehr sie sich auch mühte, der Geldbeutel vom Narben Gesicht blieb geschlossen. Nur einmal an diesem Abend sah man seine Hand erneut in dem Geldbeutel verschwinden. Nämlich als er, schon leicht schwankend an der blinden Euselie vorwackelte. Er hielt inne, drehte sich kurz zu ihr hin und griff in seinen, wie man jetzt deutlich vernehmen konnte, doch sehr gut gefüllten Geldbeutel. Er hielt ihre Hand etwas länger als es eigentlich nötig gewesen wäre und hinterließ ihr drei von den Silberstücken, mit denen er schon den Wirt entlohnte.

Jetzt wurden die in der Schankstube sitzenden doch etwas neugierig. Ein so zerzauster und abgerissener Halunke. Wo hatte dieser Narbenkopf so viel Geld her. Es musste einfach gestohlen sein, kam man einhellig überein. Aber keine traute sich ihm nachzugehen und sich selbst zu überzeugen, ob es auch alles Silbertaler waren oder nur ein Beutel voller wertloser Viertelgroschen. Wenn eine so große Narbe im Gesicht davon getragen hat, war ein bestimmt ein schlagkräftige Haudegen. Mit dem war bestimmt nicht zu spaßen. Als hatte man beschlossen ihn aus sicherer Entfernung zu seinem Nachtlager zu folgen. Doch gerade als er den Schankraum verlassen hatte gab es einen heftigen Windzug und die Schankraumtür ward hinter ihm ins schloss geschlagen. Die Jungen Bauernburschen wollten ihm nachstürmen, doch die schwere Eichentür des Wirtshauses hatte sich offenbar verklemmt. So dauerte es einen Augenblick bis die Tür geöffnet und die Burschen hinaus in die Dunkelheit drangen.
Draußen angelangt konnte keiner den Fremden erspähen. So blieb es zuerst ein Geheimnis ob er seiner Silberling alle schon verteilt hatte oder ob sein Beutel davon überquoll. Der Zerlumpte ward jedenfalls den Abend nicht mehr zu sehen.

Bald war es Zeit auch für die letzten Anwesenden den Krug zu verlassen und sich auf ihre Strohsäcke zu legen. Morgen, so war es allen bewusst, wartete die anstrengende Feld und Stallarbeit auf die Knechte. Besonders der raubeinige Knecht des Vollmeiers hatte auf seinem Hof keinen leichten Stand. So machte doch sein Herr keinen Finger krumm auf dem Hof. Alle Arbeit blieb an ihm, dem Knecht hängen. Und so musste er noch vor Sonnenaufgang wieder auf und das Vieh auf die Weide bringen. Musste er wirklich? Nein eigentlich war das nicht seine Arbeit. Es war Sache der Magd Ina, sie müsste sich um das Vieh kümmern und er hatte auf dem Feld genug zu tun. Doch Ina seine große Liebe war nach einem gemeinsamen Stündchen in anderen Umständen und ihr ging es dabei äußerst schlecht. Dauernd war ihr schlecht und hatte Schwindelgefühle. Also macht Er, der Knecht, einen Gutteilteil ihrer Arbeit mit. Konnte er doch nicht hoffen mit ihr vor den Altar zu ziehen. Es war der Bruder des Bauern der immer so schöne Augen nach der Ina warf. Doch wehe wenn der etwas von der Schwangerschaft gewahr wurde, wie schnell war seine Ina dann vom Hof gejagt und aus seinen Augen…

Am anderen Morgen brachten die beiden Jungmägde ihre Ziegen auf die saftigen Leineauen. Die kleinere von beiden tat plötzlich eine spitzen schrei und deutete auf die Leine. Dort stotterte sie vor sich hin, dort wäre ein lebloser Mann mit einem schwarzen mit einem Mantel in der Leine. Auch die ältere von beiden sah ihn deutlich. Doch sie sagte nur, dass es Einbildung wäre und es wohl nur ein dicker Baumstamm gewesen sein.

Die gestanden Männer der Höfe suchten den Uferbereich der Leine ab. Aber sie konnten nichts finden. Nur der Großbauernjunge hatte was in den Händen. Es war ein Lederbeutel wie ihn der Narbengesichtige hatte. Der Beutel war leer, wie er den anderen sagte. Keine Kupfergroschen waren in ihm. Hatte doch erst gestern der Fremde damit im Krug geklimpert. Doch ganz leer war er dann doch nicht. Ganz unten am Grund des Beutels fand er einen, zu einem Knäul zusammen geknuddeltes Schreiben. Aber nicht irgendein Zettel hielt er in seinen Händen, sondern einen ganz besonderen. Es war eine Urkunde, eine mit Siegel besetzte Urkunde. Eine Urkunde von einem König sogar. Vom Dänenkönig war sie. Hier stand:
Dem wohl hochgeborenen Söldner, Heinrich Marcks, dienend Christians dem Dänenkönig. Er hatte in der Stunde des Todes von Michael von Obentraut, Generalleutnant im Dienste des Königs beigestanden und nicht von ihm gelassen. Der Reitergeneral war während der Schlacht in der Nacht überrascht und im Kampf zu Tode gekommen. Und eben dieser Hinrichs hatte dafür Sorge getragen das des Leichnam des ehrenwerten Obentraut nicht im Felde blieb, sondern seinem Rang entsprechend zur Beisetzung überführt werden konnte. Aus diesem edleren Grund übergeben wir, Christian König zu Dänemark, diesem tapferen Manne eine Schatulle mit Silbertalern und eines guten Stück Landes im Schaumburgischen zur freien Verfügung. Ohne Auflage von Zins und Abgaben an den Fürsten.

Doch gerade dieses Land und dessen Abgabenfreiheit waren es die den Fürsten hart aufstoßen ließen. Er wollte das Land und das Recht daran für sich besitzen. Er setzte seine Häscher auf den Armen an. Die Jagten ihn aus dem Fürstentum. Es konnte gerade noch das Königsschreiben und eine Beutel mit Silberstücke erlangen und sie auf seiner Flucht mit sich nehmen.

Doch was war passiert, wo war der Marcks abgeblieben? Er war und blieb verschwunden. Keiner hat ihn mehr gesehen. War es doch kein Baum den die kleine Magd in der Leine treiben sehen hat? Und warum war das Zimmer im Gasthof ungenutzt geblieben? Aber das beste war, der alte Fährmann aus Letter hatte jetzt jeden Tag etwas im Krug zu Essen und auch anständig zu Trinken. Auch der alten blinden Euselie ging es gut mit den Talern die ihr der Fremde gab, konnte sie ins Frauenstift gehen und sich einen geruhsamen Lebensabend gönnen. Als man den Wirt fragte ob er dem Amtmann in Luthe nicht Bericht erstatten lassen wolle, schüttelte dieser nur kräftig seinen Kopf.

Er hatte doch nichts zu leiden gehabt. Seine Zeche hat der Fremde im Voraus beglichen. Und kam nicht auch der Fährmann regelmäßig unter der Woche und besonders am Wochenende trank seine Henkelkrüge aus und lud auch das eine aufs andere mal die Männer zum Dorfgelage ein. So hatte keiner im Dorf einen Grund nach dem Amtmann zu schicken. Der würde sowieso nur viele unangenehme Fragen stellen. Also war es besser seinem Tagwerk nach zu gehen und sich um seine Arbeit zu kümmern. Auch dem Knecht vom Vollmeier ging es gut. Er konnte heiraten und lebte mit seiner Magd und dem inzwischen geborenen Sohn auf dem Vollmeierhof. Dass der Vollmeier seine Magd nicht seinem Bruder gab lag bestimmt daran, dass er immer mal wieder einen silbernen Fürstentaler auf seiner Fensterbank gefunden hat….

Nun wenn man so nachdenkt ging es doch allen im Dorf recht gut. Und wenn man mal davon absieht, dasss es im Krieg auch hätte einen mehr ins Grab tragen können, war doch alles gut.

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Bürgerreporter:in:

Andreas Schulze aus Seelze

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