ZEITGESCHICHTE am Seelzer Bahnhof ca.1962 - 'Das Zugunglück - es wird verhindert'

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Zeitzeuge berichtet mir: Andreas Schulze hört Hans-Joachim Albes (geb. 1948 in Seelze; lebte hier bis 1970) zu.

Ein schweres Zugunglück am Seelzer Personenbahnhof wird in letzter Minute verhindert

Es war Sylvester, irgendwann Anfang der sechziger Jahre, vielleicht 1961/ 1962, ich war damals 13/14 Jahre alt, wieder einmal hatte das Weihnachtstauwetter zugeschlagen, die Tage danach waren außergewöhnlich mild, der hartgefrorene Boden zwischenzeitlich aufgeweicht. Am Sylvestertag verstärkte sich der überwiegend aus südwestlichen Richtungen wehende Wind, er baute sich in der folgenden Nacht zu einem ausgewachsenen Sturm auf, es regnete aber nicht. Als wir um Mitternacht unsere Feuerwerkskörper und Raketen zündeten, wurden diese, kaum aus dem Windschatten unseres Hauses gekommen, regelrecht verweht, die Leuchtkaskaden verschwanden in einem rasenden Tempo Richtung Ortsmitte, es war sehr ungemütlich geworden...

Wir brachen die Knallerei ab, da auch das Zünden des Feuerwerks durch den starken Wind fast unmöglich war und gingen wieder in unser Haus, um noch ein bisschen zusammenzusitzen und zu feiern.

Es war ungefähr nachts um 1.30 Uhr, als wir, noch in trauter Runde sitzend, durch Dauerklingeln an der Haustür aufgeschreckt wurden. Da diese bereits abgeschlossen war, musste ich drei Treppen hinunterlaufen, mit dem Schlüssel in der Hand. Währenddessen wurde weiter Sturm geklingelt, zusätzlich wurde jetzt mit der Faust gegen die Tür geschlagen, ich hörte laute Rufe: „Aufmachen, schnell!!“ Als die Tür endlich offen war, standen vor mir mehrere Personen, mir völlig unbekannt, sie waren offensichtlich sehr aufgeregt, und riefen durcheinander: „Schnell, Dein Vater muss telefonieren, der Zug kommt, dann ist es zu spät....“

Was war passiert?

Zum damaligen Zeitpunkt befand sich der Seelzer Personenbahnhof noch am Ende der Bahnhofstrasse, es war ein altes Klinkergebäude, eingeschossig, mit einem großen Portal in der Mitte, von den Gleisen aus gesehen. Links vom Portal waren die Diensträume der Bundesbahn (Gepäckabfertigung/ Schalter) rechts vom Portal war die Bahnhofsgaststätte, seinerzeit betrieben von Rudi Warme und seiner Mutter. Diese beiden hatten, einige wenige Jahre dort tätig, sich ein relativ großes Stammpublikum erarbeitet, man traf sich am und im Bahnhof, und so wurde dort auch Sylvester gefeiert.....

Die Bahnsteigüberdachungen im Bereich des Bahnhofsgebäudes waren Holzkonstruktionen, die Bedachung des Gleises nach Wunstorf war direkt mit dem Bahnhofsgebäude verbunden, das Gleis nach Hannover war mittels eines Tunnels, der unter dem Wunstorfer Gleis durchführte, zu erreichen. Die dazugehörenden Treppenhäuser waren Stahl- Glas Konstruktionen, ähnlich wie früher in Leinhausen und Hainholz, im Anschluss an das „Hannoveraner Treppenhaus“ war eine ca. 30 m lange winkelförmige Holzkonstruktion mit einem Pultdach aufgebaut, das Gleis nach Wunstorf war durch eine Holzwand von dem Bahnsteig abgeschottet. Diese schon sehr alte Konstruktion, nach Süd offen, wirkte wie ein Segel, dazu kamen der Sog und Druck der sehr dicht an der Trennwand jahrzehntelang vorbeifahrenden Schnellzüge, die mit vollem Tempo durch Seelze hindurchfuhren, der Zahn der Zeit hatte wohl schon beträchtlich an diesem Bauwerk genagt.

In dieser Sturmnacht gab die gesamte Ständerkonstruktion nach, die Trennwand wurde in einem Stück in ihrer gesamten Länge vom Sturm auf das Gleis nach Wunstorf geworfen, das Dach klappte regelrecht zu, wie ein Etui, es hatte sich nunmehr eine sehr kompakte zweilagige Barriere auf dem Wunstorfer Gleis gebildet, immerhin dreißig Meter lang und gut einen halben Meter hoch, unpassierbar für einen sich im voller Fahrt befindlichen Schnellzug, üblicherweise mit einer 01 bespannt.

In der Bahnhofsgaststätte hatte die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht, der Lärm der zusammenbrechenden Holzkonstruktion war von dem Sturm und lauter Musik in der Kneipe übertönt worden, es war alles sehr schnell gegangen.

Einige Gäste hatten noch Feuerwerkskörper, die zu früher Stunde gezündet werden sollten, so wollte es der Zufall, dass gegen 1.15 Uhr einige der Feiernden vor die Tür gingen und plötzlich den freien Blick auf das Hermannstal bemerkten, der bisher von der Holzwand abgeschottet war.

Mit Entsetzen wurde festgestellt, dass alles auf dem Wunstorfer Gleis lag, ein schneller Blick auf den Fahrplan im großen Flur des Bahnhofs machte klar, das jetzt alles ganz schnell gehen musste, ein Schnellzug in Hannover HBF stand kurz vor der Abfahrt Richtung Westen.

Natürlich gab es kein Telefon in der Gaststätte, wir befinden uns schließlich am Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die Diensträume der Bahn waren geschlossen, das Personal war Zuhause, dort im Bahnhof wäre ein Diensttelefon gewesen, aber unerreichbar.

So kam es, dass bei uns Sturm geklingelt wurde, natürlich wusste man, daß wir ein Telefon hatten, alles rief durcheinander, es war eine chaotische Situation, die eher komisch als glaubwürdig wirkte, da alle unter reichlicher Alkoholeinwirkung standen, an diesem Tag und zu dieser Uhrzeit nachvollziehbar. Mein Vater glaubte erst mal nicht, was da gerufen wurde, es war schon fast skurril, er rannte mit den Leuten zum Bahnhof, um sich ein Bild zu machen und nicht einem verspäteten Sylvesterscherz aufzusitzen.

Tatsächlich war es dann auch so, wie von den inzwischen völlig aufgeregten Gästen der Bahnhofsgaststätte geschildert, die Zeit verstrich.......

Er kam zurück, rannte in sein Büro und musste erst einmal im Telefonbuch die richtige Durchwahlnummer der verantwortlichen Bahndienststelle finden, das alles kostete Zeit.

Hierbei ist anzumerken, dass damals die DB ein straff durchstrukturierter Beamtenapparat war, in dem nach hierarchischer Gliederung eine durchorganisierte Aufgabenverteilung vorgegeben war- in diesem System in einer Sylvesternacht bei halber Besetzung der Dienststellen- wenn überhaupt, den richtigen Ansprechpartner/ Verantwortlichen zu finden, der in der Lage gewesen wäre, Entscheidungen zu treffen, war vom Ansatz her fast aussichtslos.

Die Aufgabe war im Prinzip ganz einfach: Der Schnellzug, der gleich in Hannover losfahren würde, musste entweder angehalten werden, oder aber spätestens zwischen Leinhausen und Letter auf die Güterbahn umgeleitet werden, wenn er nicht schon in Hannover in Höhe der Conti auf dieselbe umgeleitet worden wäre.

Dies einem Bahnbeamten klarzumachen, dazu noch in der Sylvesternacht gegen inzwischen 2.00 Uhr halbwegs glaubhaft vorgetragen, kostete meinen Vater, der sehr impulsiv werden konnte, fast die Beherrschung, die vielen wenn und aber Begründungen von der Gegenseite machten ihn völlig fertig, er nahm seine ganze Überzeugungskraft zu Hilfe, dieses Ansinnen durchzusetzen, schließlich ließ sich der Beamte in Hannover- nach mündlichem Hinterlassen der Telefonnummer, Namen und Adresse des Anrufers- überreden, er veranlasste die Umleitung des Zuges, aber „auf Ihre Verantwortung!“.

Es war sehr knapp geworden mit der Zeit, gerade mal 15 Minuten später hörte man den Zug aus Hannover kommen, zu sehen war ja wegen der Dunkelheit nichts, er fuhr in gemächlichem Tempo, gezogen von einer 01 auf der Güterbahn am Seelzer Bahnhof vorbei, um dann dahinter über die „Riedel Weichen“ wieder auf die Hauptstrecke abzuschwenken.

Danach ging alles sehr schnell, die Bahnpolizei erschien, gegen 3.00 Uhr kam der Bauzug, gezogen von einer BR 93, er wurde rückwärts an die blockierte Stelle herangedrückt, man begann, mit Kettensägen und Spitzhacken die Dach/ Wand Konstruktion zu zerlegen, auseinandergezogen wurde sie dann mit Hilfe von Ketten/ Stahlseilen, die einfach in den Kupplungshaken vom letzten Wagen des Bauzuges gehängt wurden. Die zerlegten Segmente wurden per Hand auf mitgebrachte Wagen des Bauzuges getragen.

Der technische Leiter des Bautrupps erklärte uns später, dass beim „schlimmsten Fall“ davon auszugehen gewesen wäre, dass die 01 des Schnellzuges maximal 5 Meter bei vollem Tempo in das Hindernis eingedrungen wäre, danach hätte es vielleicht so ausgesehen, wie Jahrzehnte später in Eschede.........

Gegen Mittag des 1. Januar war alles geräumt, die Strecke wurde wieder freigegeben, es war nichts mehr von dem nächtlichen Drama zu sehen.

Am nächsten Arbeitstag nach Neujahr rieben sich die ersten Pendler Richtung Hannover erstaunt die Augen, der Wetterschutz auf dem Bahnsteig war nicht mehr da, sauber abgebrochen an der Oberkante des Bahnsteiges, wie war das passiert?

Wir haben unseren Einsatz in dieser Nacht für uns behalten, irgendwann, Monate später erhielten wir ein Dankschreiben der DB- Direktion Hannover, ein Scheck über DM 100,-- war beigelegt als Anerkennung, dieses Geld wurde umgehend dem Roten Kreuz gespendet.

Viel später erhielten dann die Seelzer Pendler ein neues Bahnsteigdach, diesmal eine moderne Stahl/ Eternit Konstruktion, aber da waren die meisten schon auf ihr eigenes Auto umgestiegen, bei einem Benzinpreis von gerade mal 0,15 €/ L kein Wunder...

Bürgerreporter:in:

Andreas Schulze aus Seelze

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